3.Sonntag n. Epiphanias, 22.01.2023, Stadtkirche, Römer 1, 13-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.So.n.Epiphan. – 22.I.2023
Römer 1, 13-17
Liebe Gemeinde!
… Mir hier auf der Kanzel fehle der Zweifel, höre ich häufig. Und wo man keinen Zweifel spürt, da sei das Gegenteil - das, was wir „Glauben“ nennen - eben grade nicht glaubhaft: Um glaubhaft etwas vom Glauben zu erzählen, müsse man die Frage, die Ferne, den Widerstand spüren. … Nicht Leichtigkeit. … Nicht eine Selbstverständlichkeit, die niemand teilen kann. … Nicht das Einfache, das in Wahrheit doch so kompliziert sei. … Kompliziert wie die Predigten, hier auf der Kanzel. ……. ——
Das alles ist so.
Wo wir uns selbst oder einander vormachen, es sei einfach in dieser Welt an die Liebe zu glauben, die Gott und Mensch ist, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 ein Gefühl für die Ewigkeit zu haben, die Mensch und Gott gemeinsam haben können, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 angesichts der menschlichen und materiellen Sackgassen aus einer an sich unglaublichen Liebe und einer für alle unfassbaren Ewigkeit hier und jetzt Freude und Hoffnung zu schöpfen, … wo wir uns selber oder einander vormachen, das sei einfach, da ist es ganz kompliziert. Glaube nicht weniger als Zweifel. Sie sind ganz kompliziert, in ihrer jeweiligen Einfachheit: Wenn wir nichts vom Guten wahrnehmen, ist es schreck-lich. Und wenn wir nichts vom Schrecklichen wahrnehmen, ist es nicht gut. …….
… Was also?
Einfach kompliziert bleiben … und kompliziert einfach sein, werden wir müssen. Um des Zweifels genau wie um des Glaubens willen. Damit sie den nötigen Raum in dieser Welt behalten: In einer Welt nämlich, in der es keinen Glauben, nur Zweifel gäbe, möchte wahrscheinlich nicht nur ich nicht wirklich leben: Es wäre die Welt der Verzweifelten. Aber in dieser Welt zu leben, ohne dass Zweifel den Glauben bewegten, aufwühlten und provozierten, kann ich mir auch nicht vorstellen: Es wäre eine Welt der Blinden, Tauben und Stummen, … es wäre das Grab.
Zweifeln wir also! Glauben wir! Und leben wir weiter, gewiegt und geweckt von diesen beiden Kräften, die uns vor geistigem Terror und seelischer Lähmung bewahren.
… Nur eines wünsche ich ganz bewusst ganz fern von mir … und niemand anderem an den Hals: Die Scham, die beides manchmal begleitet.
Es gibt ein Gefühl – und die Kirche hat verderblich lang daran gearbeitet, es zu streuen –, als sei es Menschen vorzuwerfen oder als seien Menschen in der Bringschuld, wenn sie nicht glauben können, wenn ihnen Ohren für die fremde Botschaft, wenn ihnen Vertrauen in die fern-nahe Liebe und der Kinder-Mut zu bestätigungsloser Gewissheit fehlen.
Dass das Schwachsinn ist, … brutaler Schwachsinn, wird heute vermutlich allen klar sein: Sich auf Gott einzulassen, ist keine menschliche Verpflichtung, sondern reine Menschenfreiheit. … Wir Christen würden sagen: Sich auf Gott einlassen zu dürfen, ist eine einzige unverdiente, abenteuerliche und unverschämte Gnade.
Wer’s nicht kann, wer’s nicht erlebt, wem’s nicht passiert, steht wahrlich nicht in der Kritik!
Doch wem’s widerfährt, wer’s darf oder muss, wen es allmählich oder schlagartig überkommt – das grund- und ziellose Sichersein der Gottverbundenen –, der darf sich auch nicht schämen oder rechtfertigen müssen. Denn so wie es immer banal wird, wenn sich Zweifel oder Glaube selbst erklären sollen, genauso ist es immer bitter, wenn sie sich selber unterdrücken und an die Leine legen müssen. Weder Christentum noch Atheismus verdienen es, geheuchelt zu werden. … Sie brauchen frische Luft und freien Lauf. —
… Und deshalb ging er nach Rom!
Man muss sich das einmal vorstellen: Ein ursprünglich vermutlich ziemlich blasser Torah-Student aus einer der Jerusalemer Akademien für pharisäische Schriftgelehrte. Er hatte fern von Israel, im heimatlichen Tarsus die Sehnsucht der Diaspora nach dem Mittelpunkt der Bibel und ihrer Heilsgeschichte von Kindesbeinen an geteilt. … Und war dann dort, wo der Himmel die Erde berührt. Wo man sein muss, wenn die Auferstehung der Toten anfängt. Wo man bleiben kann, wenn in den Tagen des Messias das Reich der Gerechtigkeit beginnt und alle Völker dorthin, zum Zion strömen werden.
Damit das so werden möge, wollte er die Verwirrten zurück auf den schmalen Weg bringen. Er wusste, dass es nicht mit einem Handwerker aus Galiläa und ein paar prophetischen Zeichen, ein paar prophetischen Predigten getan sein würde, … schon gar nicht wenn das Ende so schmählich war, … eine skandalös-satirische Hinrichtung des „Königs aller Juden“ durch römische Henker. Deshalb zog er nach Damaskus hinauf, um die Verwirrten, die Verlaufenen und Verirrten, die sich selber dort ausgerechnet als die Gemeinde „des Weges“ bezeichneten (vgl. Apg.9,2) vorm Straucheln und Scheitern zu bewahren – … so wie wir es eben gerade mit gut pharisäischen Worten, ganz im Geist des Saulus gesungen haben: „Erleuchte, die da sind verblend’t, / bring her, die sich von uns getrennt; versammle, die zerstreuet gehen, / mach feste, die im Zweifel stehn.“ (EG 72,5)
… Was aber dann geschah - vor den Toren von Damaskus -, das feiert die Kirche am kommenden Mittwoch, am 25.Januar, genau einen Monat nach Weihnachten: Denn die Berufung des Saulus zum Apostel war in der Tat auch eine Geburtsstunde - er selbst sagt einmal ja tatsächlich im Rückblick auf das Damaskus-Ereignis, dass der auferweckte Christus da mit seinem überirdischen Glanz wie in einem Brutkasten aus einem abgetriebenen Foetus, aus einer ungewollten oder lebensunfähigen Totgeburt einen Anfang gemacht hat (vgl. 1.Kor.15,8) … wenn auch eine kleinen und geringen, … einen, der zurecht „Paulus“, „Knirps“ heißt .
So jedenfalls kann der Glaube auch über einen Menschen kommen: Unter schauderhaft widrigen, völlig destruktiven, urknall-chaotisch-kreativen Verhältnissen.
Für Paulus, der das Undenkbare einsehen musste, … dessen Sicht vor lauter Licht erlosch, … der sich in den Armen derer fand, gegen die er die Hand erhoben hatte, … und der nun Dem nachfolgte, Den er nicht weiter verfolgen konnte, … für Paulus ist seine Berufung, seine Bekehrung, dieser absurde Kopfstand seiner sämtlichen Ansichten ein Schock: Falsches wird Wahrheit. Bekämpftes wird Segen, … das Abgelehnte mutiert zum Liebsten, … das Ausgeschlossene zeigt sich als Tür und das unzweifelhaft Feststehende tanzt aus der Reihe und durchkreuzt und durchquert sein Leben und dreht ihn auf und um, und sein Anti-Christ wird sein Christus und Jerusalem wird so groß, ja so heidenweltweit, so global, dass der Vogel, der mit Leib und Seele sein Nest doch in der Stadt Davids hatte, plötzlich ausschwärmt und überall landen kann – auf der arabischen Halbinsel war er (vgl. Gal.1,17), in Galatien in Sichtweite des Kaukasus, auf dem Peloponnes und auf Malta, in türkischen, griechischen und italienischen Gefilden, … wer weiß: vielleicht sogar in Katalonien[i] … überall für Christus, mit Christus, durch Christus.
Und überall als einer, der sich so total korrigiert hatte, der sich so relativiert und demontiert hatte, der sich so radikal überholt und widerlegt und re-orientiert hatte, dass der Gedanke an die Schärfe und lawinenartige Wucht seiner Zweifel und die unlösbare Nabelschnur, die seinen neuen Glauben mit dem Alten verband, das ihm zugleich sicher und fraglich, zugleich vertraut und verkehrt, zugleich als klar und als dunkel erschien, uns eigentlich völlig überfordert!
… Wie kann ein Mensch solche Zweifel zulassen an allem, was für ihn fest- und wofür er selber einstand? … Wie kann ein Mensch solche Gelassenheit und Zustimmung verkörpern, wenn eben solche Erdstöße und Orkanwirbel den Rahmen und das Bild seiner Welt weggefegt haben?
Paulus, den wir als den Apostel des Glaubens mit ganz großem „G“, als Garanten des reformatorischen „sola fide“ kennen, ist also in seiner eigenen Geschichte der Kronzeuge eines schlechthin umstürzenden Zweifels. Ihm war es nötig - und möglich! -, auf einmal alles aus der entgegengesetzten Richtung und in einem neuen Licht zu sehen. … Über wie viel von seinem Schatten der Erblindete dabei springen musste! … Wie viel Unheimliches ihm dabei offenbart wurde und wie viel Klares ihm verschwamm, das können wir Gewohnheitschristen uns genauso wenig vorstellen wie die Gewohnheits-Atheisten und überhaupt sämtliche Gewohnheitstiere!
Paulus ist damit also bestimmt ebenso als der Schutzpatron der Zweifelnden und Umdenkenden - der aus der Umkehr Denkenden - zu betrachten, wie als der Inbegriff des standhaft Überzeugten! ———
Wenn wir uns da an die Verbissenheit der Lügner und der Leugner erinnern, die uns umgeben und die wir selber sind, wird Paulus umso bemerkenswerter: Jeder von uns weiß, was nicht mehr moralisch vertretbar ist. Jeder von uns weiß, was wir - bei Androhung der Todesstrafe für Dritte - aufgeben und ändern müssten an unserm makabren Wohlstand und verzehrenden Verhalten. Jeder von uns sieht ernste und wichtige Ideale - den Pazifismus etwa - von einer Wende der Zeiten infrage gestellt werden… Stürzen wir darum indes zu Boden und kehren wir um? … Bekehren wir uns je?
Und wenn es uns graust, zu erkennen wie kaltblütig die Industrie seit Jahrzehnten gewusst hat, wie viele ihrer Erzeugnisse und Verfahren einen Fortschritt vor allen andern betrieben - den Fortschritt der Zerstörung! - und wie ihre verlockendsten Produkte in Wahrheit eine unbeliebte Nachfrage steigerten - die Nachfrage nach Särgen! -, da kann man vor dem Mann, der alle seine hehren und heiligen Prinzipien loslassen und sich mit dem Gegenteil seiner bisherigen Rolle identifizieren konnte, nur in die Knie gehen! Auch er hatte etwas zu verlieren: Nämlich sich selber und seine Würde!
… Denn seien wir ehrlich: Wie nennen wir einen, der es schafft, fundamental und konsequent neu anzusetzen im Sinn einer umstrittenen Vorhut, einer exzentrischen Minderheit? … Na, wie? – Spinner! … Und als was gilt uns einer, der das Anerkannte verlässt und in eine unerprobte, unüberprüfbare Vision vertraut? … Na eben! – Als Bekloppter!
… Paulus anders zu sehen und zu nennen, würde ihm nicht gerecht. Was er tat und was er aufgab, wie er es wagte und was er verlor, das war so unvorhergesehen, so jenseits und außerhalb aller Gewohnheit und Wahrscheinlichkeit und so konträr zu allen seinen eigenen Mustern und Maßstäben, dass Drumrum-Reden nicht hilft: Niemand konnte von dem eifrigen Aufklärer der christlichen Lüge, der ein ebenso eifriger Verkünder der christlichen Wahrheit wurde, hören, lesen oder reden ohne ihn für lächerlich bloßgestellt und jeder Seriosität, ja jeder Selbstachtung beraubt zu halten. …
… Und das ist nun der, der bei allen seinen weltbekannten Zweifeln nichts unternimmt, um seinen Rollenwechsel, seine neue Position, seine scheinbar völlig labile Persönlichkeit zu rechtfertigen oder zu begründen!
Stattdessen schreibt er, der kleine Jerusalemer Wendehals nach Rom – also in’s Hauptquartier der strammen Selbstgewissheit einer traditionsvernarrten Soldatenkultur – jenen Satz, der jeden Dünkel und jede Selbstdarstellung wie eine schmierig schillernde Seifenblase platzen lässt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht!“
Mag es mich noch so verunsichert und umgekrempelt haben - das Evangelium -, … mag es mich noch so unbekümmert idiotisch, mag es mich noch so sehr als lächerlichen Von-vorn-Anfänger und Bei-Null-Beginner dastehen lassen: … Geht’s denn um mich?
… Geht’s denn etwas nicht um Gott? Um das, was Er zu sagen hat und was Er tut?!
Und macht das, was Gott tut, nicht aus allem, was wir uns zu tun einbildeten oder getan zu haben unterstanden, etwas zu guter Letzt Nicht-Entscheidendes?
Nicht das, was wir festgestellt und festgelegt haben, muss und wird ja bleiben!
Nicht das, was uns gelegen kommt oder gelungen ist, wird und muss zuletzt entscheiden!
Bleibend Wichtiges und echte Zukunft findet sich eben doch nicht in dem, was wir können und machen, in dem, was wir meinen und behaupten, in dem, was wir haben und verteidigen, weil das alles - wie wir - vergeht: Entweder in siebzig, achtzig Jahren, wenn es jenes Ganze ist, das wir waren, oder in Jahrmillionen, wenn es die Kerne sind, die wir spalten.
Gottes Kraft, wahres Leben mit Dauer und Zukunft zu schaffen, ist wirklich weder auf unsern Vorschuss und unsere Vorleistung noch auf unsere Bestätigung oder unsere Beglaubigung angewiesen.
Gottes Kraft allein schafft, rettet und heilt die Welt und uns alle für immer! … Anders, besser, tiefer, höher, weiser, großzügiger, überraschender, herrlicher … und menschlicher, als wir es uns jemals einfallen ließen.
Das ist Sein Recht und Seine Gerechtigkeit.
… Und nur die entscheiden und bleiben! Und nur wer denen vertraut, bleibt und wird leben!
… Wer sich deshalb aber von seinen eigenen Grundsätzen und Zweifeln lösen lässt und an ihrer Stelle sich ohne alle Peinlichkeit schlicht - und ganz! - auf Gott verlässt, den preist Paulus selig!
Gib’s auf, dich um dich und was du weißt und denkst und bist und hast und fühlst und willst und bringst zu drehen!
Gib Gott, Dessen Wahrheit, Wirklichkeit und Zukunft nicht von dir entschieden werden, weil Er Sich umgekehrt längst schon wirklich für deine Zukunft in der Wahrheit entschieden hat, die Ehre, indem du Ihm glaubst!
Und schäme dich nicht, dass du zu leben weder besser weißt noch anders beweisen kannst, als einfach durch dieses Vertrauen auf das Evangelium von Jesus Christus, der dich und alles retten kann! ——
…. Und da fehlt mir nun wirklich der Zweifel, da fehlt mir der Abstand, es hier beim „Vielleicht“, beim „Wer weiß?“, beim „Womöglich“ zu belassen, um das Gesicht zu wahren, wenn das alles nichts wäre.
Dann wäre nämlich wirklich alles nichts.
Und dann ist sowieso nichts zu verlieren.
Wie also sollte man sich schämen, statt des Nichts das Alles anzunehmen, das Alles zu akzeptieren, das das Evangelium verspricht?
Und das hat Paulus der römischen Soldatenkultur und der Unkultur aller Welt ja tatsächlich gebracht und gezeigt, was ein römischer Hauptmann für uns alle bekannte (vgl. Matth.8,8)[ii]: Wir sind nicht wert, dass Gott zu uns kommt, … aber wenn wir Ihn lassen, … wenn wir Ihn sprechen lassen, dann wird die Welt heil!
Wir sind also frei, zu glauben. Und dadurch zu leben!
Und darum - wie Paulus - : „Schämt euch nicht!“
Amen.
[i] Die geplante Missionsreise des Apostels nach Spanien (vgl. Rö.15, 24) ist ein bleibendes Ratespiel der Forschung: Hat er? Hat er nicht? Warten wir ab, wie es gewesen ist, wenn wir dort sind, wo wir’s wissen werden.
[ii] Evangelium des 3.Sonntags nach Epiphanias.
2.Sonntag nach Epiphanias, 15.01.2023, Stadtkirche, Johannes 2, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.S.n.Epiphan. - 15.I.2023
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Manche werden wissen - was nicht wichtig ist -, dass die hiesigen Predigten, wenn ich sie ins Internet einstelle, eine Überschrift abkriegen. In aller Regel kurzfristig, beim Speichern, und spontan als eine Art rückblickender Kurzfassung der Kernaussage.
Bei der heutigen Predigt ging es anders. Sie wird die rätselhafte Überschrift tragen „Tegel in Kana“.
… Damit kann man nichts anfangen, denn die Ineinssetzung zweier geographischer Angaben ist einfach nur unsinnig. Tegel ist ein ehemals dörflicher Vorort nordwestlich von Berlin, wo das Anwesen und der Friedhof der Familie von Humboldt etwas Weltoffenes und wissenschaftlich Freigeistiges mit märkisch-bescheidener Verträumtheit verbanden; und über das Dorf Kana in Galiläa streiten die Gelehrten und die Pilger und die Bevölkerung seit Jahrhunderten, denn mindestens zwei Siedlungen im Umkreis von Nazareth beanspruchen, Schauplatz des ersten Wunders Jesu zu sein.
Was soll also die Verbindung eines Fleckens in der brandenburgischen Streusandbüchse mit einem Weiler in Israels nördlichem Hügelland?
… Zunächst einmal vielleicht nicht mehr als dies: Uns zu zeigen, dass Jesus die Welt verändert hat.
Seit Er auf dieser Erde wandelte, sind Seine Spuren, ist der Eindruck Seiner Wirklichkeit bis in die Erdkunde eingewandert. Ob historisch zu Recht oder „nur“ aus einer inneren Überzeugung von Menschen heraus: Es gibt unzählige Stellen und Punkte auf dem Globus, an denen sich eine damalige, eine später gelebte, eine heute geglaubte Verbindung mit Jesus Christus niederschlägt. … Er hat nicht nur Geschichte, sondern auch Geographie geschrieben.
Wir hier, in Kaiserswerth leben auch an einem Jesus-Ort, einem Ort, der seine Entwicklung und Rolle schlicht der Tatsache verdankt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde und keine Generation seither ohne vielfältige Bezüge zu Ihm existierte, handelte und Ihm diente, indem sie in Fleisch und Stein, in Ethik und Architektur die Welt zu Seinem Gedächtnis veränderte.
… Doch warum „Kana und Tegel“?
Welches lebendige, weltverändernde Jesus-Bild symbolisieren diese beiden Dörfer?
Dazu muss man einen dritten geographischen Raum betreten, einen Raum, den wir alle viel lieber längst wieder am Rand unseres Gesichtskreises verschwimmen ließen. Doch wir müssen weiter hinschauen. Dort tobt die Geschichte auch des neuen Jahrs 2023: Die Geschichte nicht nur der schleichenden Gewalt gegen das Leben auf Erden, mit der wir uns abgefunden haben, sondern auch die Geschichte der mörderischen Heimtücke von Menschen gegen Menschen, die Geschichte eines irrwitzigen Hasses gegen völlig Unschuldige, die Geschichte der finstersten Brutalität im hellsten Tageslicht, … eine Geschichte des Wahnsinns und der Sünde, mit der wir uns aber ebenfalls abzufinden drohen, wenn man merkt, wie die Ukraine in unseren Nachrichten und Gedanken allmählich in den Hintergrund rückt.
Doch immerhin ist das niederträchtige Verachten und Verwüsten menschlichen Lebens so schmerzhaft gegenwärtig, dass ich in dieser Woche an Kana nicht wie sonst denken konnte:
Jedes Mal wenn ich versucht habe, mir das harmlos-schöne Hochzeitsfest vorzustellen, mit dem das hohe Evangelium des Johannes beginnt, war es anders als sonst. Nicht die ausgelassenen jüdischen Hochzeiten mit Schmaus und Tanz, die ich als Kind erleben konnte, … nicht die lebensfrohen Bilder, die Brueghel von Bauernhochzeiten mit Jesus als Gast gemalt hat, … nicht die schönen feierlichen Kirchenbilder, auf denen Maria als Fürsprecherin und der Kellermeister als vorweggenommener Liturg des Abendmahls erscheint.
Nein, dieses Jahr stehen mir plötzlich wieder Hochzeitsbilder in schwarz-weiß vor Augen: Die Bilder der jungen Großeltern und ihrer Geschwister und Gleichaltrigen. … Liebespaare, gewiss, … auch schöne Paare, schöne Brautkleider, … hier und da sogar schöne Brautsträuße. Aber die Bräutigame auf diesen Bildern tragen etwas, das den Ernst auch auf den Zügen ihrer Bräute erklärt. Sie stehen in Uniform da.
… Und zwei schreckliche Kreuze stechen auf diesen Hochzeitsbildern ins Auge: Die Hakenkreuze der Sünde auf allen Abzeichen … und die unsichtbaren Kreuze, die in der Rückschau über den bald Gefallenen und den blutjungen Witwen aufzutauchen scheinen.
Hochzeitsfest der Todeskandidaten. Brautwalzer der bald wieder durch letzte Gewalt Getrennten: Wenn man dieses Bild vor Augen hat, versteht man noch viel besser, wieso Maria, die Mutter der Freude für den Wein sorgt. „Sollen sie doch tanzen dürfen und sich freuen, die armen Menschenkinder, deren Lebens- und Liebesfeste so im Schatten des nahen Todes stehen. Jede Stunde, jeder Tropfen Glück sei ihnen gegönnt.“ …….
Natürlich ist auf der Hochzeit, bei der diese mütterlichen Gefühle den Menschen schlicht etwas von der Leichtigkeit des Seins gönnen, noch nicht die große, entscheidende Stunde des Menschensohnes gekommen, … die Stunde von Golgatha, die Stunde, in der der Tod besiegt wird, die Stunde des Ostermorgen, in der das wirkliche Leben gefeiert werden soll.
Es ist noch nicht Jesu wirkliches Wunder, wenn er - durch seine Mutter bewegt - eine schwerelose Nacht der Fröhlichkeit ermöglicht.
Aber eine jüdische Hochzeit ist immer eine trotzige Feier der Zukunft gewesen, selbst wenn die Pogromreiter am Rand des Dorfes standen, selbst wenn die Hakenkreuzfahnen und die „Judenfrei“-Schilder überall wie giftige Pilze sprossen.
… Heiliger Marc Chagall!, Du weißt es, dass dennoch immer irgendwo eine Braut und ein Bräutigam über der brennenden Welt schweben. … Und Jesus taucht seinen Pinsel in Chagalls Tuschkasten und malt mit Wasserfarbe den buntesten, fröhlichsten Reigen, den ein Bordeaux oder Montepulciano oder ein süßer Karmelwein überhaupt anstoßen können: … Wie sie tanzen, … wie die Kapelle spielt, … wie das ewig tröstliche Wort des Propheten Jeremia (33,11), das bei jeder jüdischen Hochzeit endlos gesungen wird, sich wieder einmal erfüllt: „Trotz der Verwüstung Jerusalems soll man dennoch wieder hören den Jubel der Freude und Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut …“ … Das ganze Stetl, das ganze Ghetto singt und schluchzt und wirbelt – „L’chaim: Zum Leben!“ – im Takt der Messias-Hoffnung auf die Erlösung zu, die ein weiteres Paar, ein neues Haus in Israel um einen Schritt näher-bringt. …….
Doch nun sind wir in Witebsk, in Weißrussland gelandet und suchen eigentlich ja nach Kana und Tegel: ´
Kana, das Dorf der Unbeschwerten, in dem Maria die gut jüdische Aufgabe der Hochzeitsvermittlung übernimmt, indem sie für Jesu vorösterlichen Wunderanfang[i] sorgt, … ein Wunderanfang, der einer kleinen Festgemeinde einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit schenkt durch die schlichte Erfahrung: Alle sind da … und nichts fehlt … und siehe, alles ist sehr gut! ——
Auf dieses selige Hochzeitsfest gehen wir ja alle zu: Besonders wieder seit am 27.November 2022 das Kirchenjahr neu anfing und wir es währen des ganzen Advent singen konnten „Macht euch bereit / zu der Hochzeit! / Ihr müsset ihm entgegengehn!“ (EG 147,1)
Christ-Sein bedeutet, diese Hochzeitseinladung zu haben. Unsere Tage sind die Vorbereitung dafür, … die Zeit, sich zu freuen, sich auf das einzustellen, was in der Gegenwart der Liebe die richtige Gabe und der schönste Schmuck sein wird, und in die gelöste innere Bereitschaft zum Mitfeiern des Festes zu finden, das nicht enden soll.
Das ist die Zukunftsdimension des biblischen Hochzeitsbildes: Wir alle erkennen uns darin als Gäste in spe … und das wortwörtlich: Wir sind die zur Hoffnung Gebetenen, wir sind die nach und nach eintreffende Tischgesellschaft der Zuversicht.
Das ist Kana. ———
Was aber ist dann nur mit Tegel?
… Tegel ist die Todeszelle. Es erinnert uns – die Eingeladenen des Lammes, das im himmlischen Jerusalem goldene und silberne und diamantene und edelsteinfarbene Hochzeit mit der Menschheit feiern wird, … Jaspis-Hochzeit, Saphir-Hochzeit, Chalzedon-Hochzeit, Smaragd-Hochzeit, Sardonyx-Hochzeit bis zur Amethyst-Hochzeit in der spektakulären Farbenpracht und Licht- und Liebesfülle, von der in der Bibel ganz am Schluss die Offenbarung (21,19ff) spricht – … Tegel erinnert uns, die Eingeladenen des Lammes, an die Kreuze, die über den Häuptern von Braut und Bräutigam hier in unserer Gegenwart erscheinen.
Die Zukunft, die hier entsteht, die Hoffnungen, die hier genährt werden, die Träume und Pläne des Lebens, die wir hier feiern und - um im Kana-Bild zu bleiben - erwartungsfroh begießen: Sie stehen alle unter dem Vorbehalt, unter dem unsere Großeltern heirateten, unter dem sämtliche Liebesgeschichten und Lebensentwürfe der heutigen Ukraine sich entfalten und der auch über den menschlichen Schicksalen der russischen Soldaten und überhaupt aller unserer Mitmenschen waltet. Es ist der Vorbehalt, dass Jesu erstes Wunder nicht sein letztes ist:
In Kana schenkte er Freude für einen Augenblick und eine überschaubare Schar.
Für deren Augen in diesem Moment, für diese Augenzeugen offenbarte Jesus in Kana seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.
Doch ein größeres, ein noch nicht erschienenes, ein unvollendetes Wunder steht noch aus. Am Schluss des Johannesevangeliums (20,30f) deutet der Verfasser es ja an, wenn er - nach etlichen Osterberichten - schreibt: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“
Dass wir das Leben haben: Das ist das Ziel der Taten, Wunder und Zeichen, das ist das Ziel der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu.
Das Leben zu haben: Genau das aber ist auch die Hoffnung und Verheißung, die Kana, den Ort der hochzeitlichen Lebensfreude, mit Tegel, der Todeszelle verbindet.
Dass Tegel diese Todeszelle ist, dass es eindringlich vor Augen steht, wenn wir Liebe im Schatten des Verlustes und menschliche Bindungen, über denen die gewaltsame Trennung schwebt, betrachten, das liegt für uns natürlich an der Gestalt und Geschichte Dietrich Bonhoeffers, der im Tegeler Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis anderthalb Jahre lang eingesperrt war, bis man ihn ins Reichssicherheitshauptamt, das Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verlegte, von wo er schließlich zur Hinrichtung in Flossenbürg abtransportiert wurde.
Die junge Maria von Wedemeyer und ihr Verlobter, Dietrich Bonhoeffer stehen vielen Menschen vermutlich vor Augen als ein solches Paar, deren Miteinander gar nicht betrachtet werden kann, ohne dass über ihnen oder in ihrem Rücken sich schon das Dunkel zusammenbraut – zusammen-„braut“! -, das ihre Leben überschatten und zerstören würde.
Wenn wir auf sie blicken, auf zwei Menschen, die zusammen sein wollten und denen es nicht vergönnt war, … denn erkennen wir in ihnen die jungen und nicht mehr so jungen ukrainischen Männer und Frauen, ja, die sämtlichen Menschen, deren Beziehungs- und Vertrauensgeflecht zerrissen worden ist und die das einfach Alltagsleben, das gewöhnliche Glück und das Glück der Gewohnheit überhaupt nicht mehr finden können, von dem das Paar in Kana vielleicht geträumt hat.
Wir erkennen in den Hochzeitern von damals die Bedrohten und Todgeweihten von heute, … die Menschheit, die nicht weiß, was morgen sein wird, … unsere Kinder und Kindeskinder, die befürchten, dass nach ihnen nichts und niemand mehr gesegnet und gewöhnlich wird leben können auf diesem von einer einzigen Spezies so entwerteten und dem Schöpfer entwendeten Planeten. …
Aber weil wir Tegel in Kana finden, Kiew in Kana, Soledar in Kana, Bakhmut in Kana, … darum soll uns auch das andere Wasserzeichen immer wieder durchscheinen durch alle Bilder, die wir vor Augen haben. Es stehen ja nicht nur die unsichtbaren Kreuze über den Häuptern der Sterblichen, die morgen oder in diesem Jahr oder doch erst in vielen, vielen Jahrzehnten sterben werden.
Sondern überall, wo Kana ist – wo mitten im Tanz das Malheur, mitten im Glück die Tragik, mitten im Leben das Ende gegenwärtig bleibt –, da ist auch jener Gast von Kana zugegen!
… Und Seine Mutter bittet Ihn um Hilfe und sie weist uns auf Ihn hin.
Und dann erkennen wir, dass Jesus das Wasserzeichen der gesamten Welt ist: Wo immer uns das Glück ausgeht, wo uns der Wein ausgeht, die Luft ausgeht, die Zeit ausgeht, da müssen wir das Bild der Welt, da müssen wir die Lage und die Frage unseres Lebens vor das Licht Seiner Herrlichkeit halten.
… Denn dann wird es wie das geheimnisvolle Wasserzeichen sichtbar werden, dass Er da ist. Um Wunder zu tun. … Die kleinen, die wir kaum bemerken: Freude des Alltags. Zeit wie immer.
Aber auch die großen, die wir kaum für möglich halten. Die Wunder, die zum letzten und endgültigen Wunder führen, wenn aus dem Wasserzeichen die klare Offenbarung wird, die Gegenwart Jesu in Seinem Reich, an Seinem Tisch, bei Seinem Mahl, … der Kelch des Heils (vgl. Ps.116,13), in den Er voll einschenkt und mit dem Er Gutes und Barmherzigkeit uns alle erquicken lässt in Seinem Hause, in dem wir bleiben werden immerdar (vgl. Ps.23), weil jede Frau und jeder Mann und jedes Kind dort das Leben haben werden in Seinem Namen (vgl. Joh.21,31)!
Das ist das Ziel des ersten Wunders in Kana.
Und davon hat der in Tegel gefangene Bonhoeffer gezehrt und gelebt, und aus der Prinz-Albrecht-Straße hat er davon geschrieben und gesungen, so wie wir jetzt davon singen wollen (EG 65):
„Von guten Mächten treu und still umgeben, / behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr.
…….“
Amen.
[i] Der barocke Choral von Heinrich Arnold Stockfleth „Wunderanfang, herrlich’s Ende, / wo die wunderweisen Hände / Gottes führen ein und aus …“ steht heute nicht mehr im Stammteil des EG.
Altjahrsabend, 31.12.2022, Stadtkirche, Römer 8,31b-39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2022
Römer 8, 31b-39
Liebe Gemeinde!
Unverkennbar sind wir hier bei einer Beerdigung: Psalm 121 und Römer 8 machen es unüberhörbar, dass wir hier als endliche Menschen, als Kinder von Sterblichen, die die Sterblichkeit weitergeben, etwas Letztes feiern, … das Letzte, das trägt, … das zuletzt Tragende.
Vielleicht hätte man vorm Beerdigungscharakter des Altjahresabends ausdrücklich warnen sollen.
Womöglich müsste an den Stufen zu unserer Kirche – nein: zu jeder Kirche! – inzwischen eigentlich eine sog. „Trigger-Warnung“ angebracht werden: Ein Warnhinweis, dass man nicht näherkommen und sich auf die Inhalte hier nicht einlassen kann, ohne aus Schuld und Tragik zusammengesetzten, verstörenden, belastenden, schmerzhaften, ja furchterregenden Botschaften, Erfahrungen und Tatsachen gegenüberzustehen. Was an vielen Universitätsseminaren den Lernenden nicht mehr zugemutet werden kann, was viele Bildungs- und Informationsträger nur noch schonend durch Filter und Schleier durchsickern lassen - man nennt es: „die Wirklichkeit“ -, das hat in der Kirche nun einmal Platz zu haben! Wenn nicht, dann müssen wir die Kirchen schließen. Wenn es hier nicht um das Leben geht, das niemals ohne Salz und Eisen besteht, in dem wir also immer auch Hartes und Brennendes finden, das genauso von der Nacht wie vom Tag gegliedert wird, … wenn wir hier also nicht ein einigermaßen ungeschöntes Bild von den Verhältnissen kommunizieren, wenn wir hier nicht von der Klarheit über uns ausgehen - die nicht gleichbedeutend mit Glanz ist! - und nicht zu dieser Klarheit zurückfinden, dann täte man wirklich besser dran, die Kirchen zu vergessen und sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, seine Illusionen zu pflegen.
Diese Illusionen, die anfangen, eine ganze Epoche zu lähmen: Die Illusion, unser Leben könne, nein müsse planbar sein, ungefährlich und ungefährdet und alles, was überraschend bleibt, solle von dritter Seite ab- oder aufgefangen, entschärft und sanft verträglich gemacht werden. Und die Illusion, wenn man Veränderungen und Zwänge, wenn man Dynamik und Druck, wenn man Schäden und Sterben ignoriere, dann habe man eine positive Tat getan, habe Sicherheit erlangt und seine Ruhe verdient. …….
Zugegeben: Diese zutiefst entfremdete, abgründig abgehobene Weltsicht einer in Watte gepackten und dennoch über Erbsen unter den Matratzen klagenden Verwöhntheit wirkt im Kaiserswerther Komfortstandard besonders abstoßend, wo die Heiz- und Lebenshaltungskosten bestimmt nicht die grimmige Herausforderung bieten, die sie andernorts darstellen – gehen wir nur einmal zu den Tafeln und fragen unsere hungrigen, ratlosen Mitmenschen! –, aber eine Tendenz, uns für das zu schade zu sein, was für die meisten Menschen weltweit noch paradiesisch wäre, lässt sich vielerorts schwer leugnen und ist überall zynisch.
Wer also findet, es gäbe ein Recht auf das Bequeme, der sollte jedenfalls in keine Kirche kommen, die ihre Ursprünge um eine Krippe herum, einen behauenen Steintrog hat, der die ganze Härte der Natur und das Drama verweigerter Solidarität veranschaulicht.
Wer denkt, die Misere der Menschheit liege außerhalb seines Radius, weil seine Aufgaben, seine private Vorsorge, seine unbestreitbaren Privilegien ihn da nicht zum Beteiligten werden ließen, der soll die Kirchen meiden, in denen der Leib eines Menschen sich darstellt, der gar nicht erst geboren worden wäre, wenn er nicht als Gabe und Brot für die anderen - als Opfer - hätte greifbar und angreifbar werden wollen.
Wer bei seinem Glück zu bleiben hofft, Schlimmes und Schmerzen bisher geschickt vermieden zu haben, der sollte tatsächlich niemals dort einkehren, wo das Kreuz steht und daran erinnert, dass Gott Selbst keine Spazierfahrt auf die Erde unternahm, sondern einen Leidensweg und eine Höllenfahrt antrat, um nirgends abseits zu bleiben, wo seine Kinder sein könnten …
… Wer also das Silvester des Kriegs- und Kummerjahres 2022 mit Sausen und Brausen feiern, wer’s krachen und schäumen lassen will, der hat sich auf dieser Beerdigung hier vertan.
… Hier werden Tote beweint.
Hier steht das Jahr, dessen letzte Atemzüge wir gerade verspüren, in seiner nackten Wahrheit vor uns: … Dieses Jahr, in dem tatsächlich nicht nur unter den Menschen und im Reich der Natur - als seien sie zweierlei?! - sich große Unglücke ereignet haben, sondern auch im Reich der Geister, das uns biblisch vertraut sein könnte unterm Sprachgewand der „Engel, Mächte und Gewalten“ … also der beherrschenden und um Einfluss ringenden Kräfte, die geistig bewusst wie unterbewusst, allemal aber kollektiv auf die Menschheit wirken und sie bewegen.
In dem, was stofflich ist, ist vieles verbrannt und vieles davongespült worden in diesem Jahr, und es sind schwelende und schwellende Katastrophen gewesen, die weder gedämpft noch gedämmt auch weiter Not, Leid und Grauen auslösen werden. Wir klagen also um das zerstörte Land und Leben auf diesem kleinen Globus, um die vernichteten Ernten, die ausgerotteten Schönheiten, den verdorrten Schöpfungssegen eines bitteren Jahres. ——
Unter den Menschen sind neben den Todesfügungen, die uns als Einzelne und als Familien trafen, auch Gestalten der geschichtlichen Gemeinschaft unwiderruflich in die Vergangenheit versetzt worden: Mit besonderer Verpflichtung gilt es, an Michail Gorbatschow zu erinnern; mit besonderer Zuneigung werden manche von uns das Sterben und das Grabgeleit der britischen Königin in ihrem Gedächtnis als ein Datum verbuchen, das unserer Gegenwart etwas Unwiederbringliches nahm; mit besonderer Verbundenheit im Gemeinsamen wie im Unterscheidenden werden wir auch des vor wenigen Stunden - wie er selber glaubte - vor seinen Richter und Erlöser, in das Haus des Vaters gerufenen emeritierten Papstes aus Deutschland gedenken. Ehe wir aber weiter aufzählen, welche Stimmen in der Musik künftig schweigen, welche Farben man in der Mode so nie wieder mischen wird, welche Kunst auf dem Rasen nunmehr endgültig Legende wurde, bleiben wir in unserer kleinen Stadt, bei unserer Gemeinde, deren Altpfarrer, Achim Engels nun auch am Ende dieses Jahres glaubend das Ziel seiner Tage erreichen durfte. Sein Zeugnis und sein Gebet sind im Leben vieler unter uns bleibend wirksam geworden. Zu Recht trauern wir also um unsere Toten, denn gerade Dankbarkeit ermisst ja jeweils den Verlust. ——
Doch das Dritte, das uns heute bewegt, … das Schrecklichste ist nicht der Schmerz um alles, was uns in der Kreatur und unter den Menschen mit der Vergangenheit verband und mit der Zukunft verbinden wollte, sondern der Schmerz um das, was im Geistigen, mit verheerenden Folgen für alle Lebensbereiche vernichtet worden ist: Es ist eine Illusion gewesen, … eine Täuschung oder auch ein Traum. … Jeder Blick nach Äthiopien oder in den Jemen hätte uns schon vor Jahr und Tag erschüttern und verändern müssen! Doch nun ist es den meisten von uns erst in diesem beinah erloschenen Jahr widerfahren: Wir haben den Frieden sterben sehen!
Und der tote Frieden – der schon faul war, solange wir ihn mit Blindheit erkauften und auf Kosten anderer Menschen als unerprobte heroisch-rhetorische Figur zu unserm Wahlspruch erklärten - … der tote Frieden des Jahres 2022 ist eine der tiefsten Zäsuren unserer Zeit.
Nicht, weil er uns naiv aussehen lässt, … nicht, weil er unsere harmlose oder vielleicht auch verlogene Wirklichkeitsverdrehung auffliegen lässt, nach der der Fortschritt oder der Markt oder die Demokratie idiotensichere Garanten des Guten seien, … nicht, weil er uns unsere ernstgemeinten Ideale und unsere mühsam gelernten Lektionen zerstört, … nicht, weil er uns aus unserem Spiegelbild eine schreckliche Frage entgegenzischt: „Erkennst Du eigentlich den Menschen wieder?“ …….
Nicht aus allen diesen tatsächlich schwerwiegenden Gründen ist der Tod des Friedens der schlimmste Zug unsrer Zeit, sondern schlicht, weil er so viel himmelschreiendes, Gott und die Menschheit anklagendes Blutvergießen, so viel Brutalität und so viele Wunden am Fleisch und in den Seelen von Millionen bedeutet … und weil er bei uns zu einer Herzensverhärtung zu führen droht, die unvorstellbar ist! … Wie ruhig wir sind, … wie unbeteiligt, weil ratlos, … wie gewöhnungsbereit wir uns zeigen, … wie wenig Zorn, wie wenig Stärke, wie wenig Beten und Hoffen sich in uns regen, … wie klein und gleichgültig unser Geist sich in einer Prüfung wie dieser enthüllt.
Der Frieden ist ermordet worden … und wir machen dumpf weiter.
Und dann die Freiheit: Die nächste Geist-konkrete Wirklichkeit unter den „Engeln, Mächten und Gewalten“, die uns - die Völker der Erde, die Stämme des Menschengeschlechtes – beatmen, beleben und begleiten. Die Freiheit hat die Schwindsucht: Hier und da treibt sie grell-geschminkte Blüten, die wie gespenstische Frühlingsboten am leblosen Holz wirken, aber an wie vielen Orten der Welt wird sie geknüppelt, gefangen und geschändet. Und der Kampf des iranischen Volkes, der Schrei der afghanischen Frauen, das Flackern in China, die lautstarke Sorge in Israel, das erzwungene Schweigen in Nord-Korea, Myanmar, Russland … es ist zum Haareraufen und zum Heulen. ——
… Ich sagte ja, wir sind hier auf einer Totenwache, bei einer Beerdigung.
Und so soll nun das Jahr enden?!
… Das ist keine Frage.
Es scheint eine Tatsache zu sein.
… Die Frage jedoch, die bleibt, ist die Frage des Paulus. Jene Frage, die im Römerbrief seinen schönsten Hymnus - schöner noch als das Hohe Lied der Liebe - auslöst. Denn sein Hymnus auf’s Vertrauen, sein Hohes Lied des Glaubens trägt nicht nur als Überschrift, sondern als durchgängiges Grundmotiv die Frage vor: „Kann uns das scheiden von der Liebe Gottes?“
Mit dieser Frage gehen wir Christen an jedes Sterbebett und auf jede Beerdigung, … und auf jeden Geburtstag, zu allen Hochzeiten, an unsre Arbeit, in unsre Mühen, an unser Scheitern und zu unseren hässlichen oder heiligen Erfolgen auch. Es ist tatsächlich eine ganz echte Frage, wenn wir uns der Wirklichkeit stellen, … wenn wir das Hohe und Tiefe, das Feine und Schwere, die Fülle und die Leere unseres Lebens und des Lebens in der Welt betrachten: „Kann uns das - das alles, oder irgendetwas davon - scheiden von der Liebe Gottes?“ …
Wir fragen aber nicht nur für uns, sondern so wie der Apostel, der nach Rom schrieb, an eine Gemeinde, die gerade eine katastrophale Vertreibung und zaghafte Rückkehr in die Mauern des Zentralortes der Welt erlebt hatte[i]: Wir fragen uns global, weltwirklich.
Kann uns das Kritische und Katastrophale der Geschichte in der Zeit scheiden von der Liebe, die in Christus Jesus ist und bleibt?
Sind die Toten von Butscha aus Seiner Liebe, die für sie starb, herausgefallen?
Sind die Hungernden in Syrien, im Süd-Sudan und auf Madagaskar von Dem getrennt, Der in Ägypten von Almosen oder Tagelöhner-Verdienst lebte und in Samaria um Wasser bettelte?
Sind die Geplagten und Entwurzelten, die Traumatisierten und Bibbernden in der Ukraine nun etwa in eine Wirklichkeit geraten, die Den, Der Licht in die Dunkelheit, Heilung ins Elend, Hoffnung zu den Verlorenen brachte, ausschließt?
Sind die Welt voller Unheil und die Zeit voll Verhängnis also Gründe dafür, zu glauben, dass es kein Heil und keine Erlösung geben könne und werde? Sind sie Gründe dafür, zu glauben, Christus sei nicht gekreuzigt worden und nicht auferstanden?
… Oder: … Im Gegenteil?!
Ist nicht gerade der Blick auf die Wirklichkeit, der Blick auf die Bitterkeit, der Blick auf die Opfer, der Blick auf uns und auf alle der Ort, an dem unser Glaube das ist, was zuletzt einzig und alleine tragen kann?
Unser Glaube ist buchstäblich dieses Letzte, weil er das Einzige ist, das ganz in die Wirklichkeit – die furchtbar schlimme, die erdrückend traurige Wirklichkeit – gehört, ohne in ihr aufzugehen!
Unser Glaube, der in genau dieser Wirklichkeit fußt, geht über sie hinaus!
Das ist der Grund, weshalb wir eine Beerdigung am Ende des Jahres feiern, die um Mitternacht zu etwas ganz anderem führt: Noch nichts ist von 2023 festzustellen, … außer, dass im kommenden Jahr der Lebendigen alles möglich ist.
Das Alte - Leben und Tod - werden wir verlassen und mit der gesamten Welt in ein Neues gehen: Tod und Leben, so wie sie noch nie waren.
Weil nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann.
Und darin ist unser Glaube vielleicht am besten mit etwas ganz Gegenständlichem zu vergleichen, das eine junge Frau aus Butscha, Daryna Gladun, in einem Brief aus dem Herbst dieses Jahres beschreibt[ii].
Bei ihrer Flucht aus der sich abzeichnenden Hölle konnte sie wenig mitnehmen. Als Flüchtling quer durch Europa und darüber hinaus hat sie dagegen manches empfangen und erworben und es ohne innere Beteiligung wieder losgelassen und abgegeben.
Nur die Schuhe! Die unscheinbaren, nunmehr abgetretenen Schuhe aus Butscha, nach denen niemand sie mehr fragt: „Meine ganze Odyssee hat sich in diesen Schuhen zugetragen. In ihnen habe ich mein Zuhause verlassen, in ihnen werde ich nach Hause zurückkehren.“ ——
Gebe Gott uns die Gnade, dass wir das heute und zu aller Zeit genauso auch von unserem Glauben sagen können:
„In diesem Glauben haben wir angefangen.
Dieser Glaube trägt uns durch die Welt.
In ihm gehen wir zu Beerdigungen und zu Neuanfängen, in ihm durchqueren wir Hohes und Tiefes, von ihm getragen erleben wir die Engel, die Mächte und Gewalten … suchen nach dem Frieden, zittern um die Freiheit, hoffen für die ganze Kreatur.
Allein dank dieses Glaubens kommen wir aus der Vergangenheit, ziehen durch die Gegenwart und streben in die Zukunft.
Und in diesem Glauben werden wir auch nach Hause zurückkehren.
Weil nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn! Dessen bin ich gewiss.“
Amen.
[i] Das Datum des sog. „Claudius-Ediktes“, das eine Vertreibung der Juden – und folglich auch der judenchristlichen römischen Urgemeinde – anordnete, ist in der Forschung nicht vollends gesichert. Wahrscheinlich bleibt die Ansetzung und Durchführung des Ediktes im Jahr 49 n.Chr. Betroffen waren mithin mehr oder weniger alle Adressaten des Römerbriefes, der eine Gemeinschaft anspricht, die sich erst wenige Jahre lang wieder zaghaft zusammenfand, nachdem das Vertreibungs-Edikt nicht mehr durchgesetzt wurde.
[ii] Der Brief der jungen Ukrainerin, der in der FAZ veröffentlicht wurde, findet sich unter: https://weiterschreiben.jetzt/weiter-schreiben-ukraine-briefe/ukraine-test/aber-nach-den-schuhen-fragt-keiner-brief-1/
Christvesper, 24.12.2022, Matth.2,1-12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): »Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land. (Matth.2, 1-12)
Liebe Schwestern und Brüder,
die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland kennen Sie bestimmt alle. In den meisten Krippenspielen tauchen sie auf als Besucher an der Krippe und knien dann oft in trauter Eintracht neben den Hirten. An der Krippe ist es so, wie an Heiligabend in unseren Wohnzimmern: die ganze Sippschaft kommt zusammen, das große Familientreffen unter dem Weihnachtsbaum. So erzählt es die Tradition.
Bemerkenswert ist nun, dass es sie in der Bibel so gar nicht gibt. Die Bibel überliefert uns vielmehr zwei sehr unterschiedliche Weihnachtserzählungen: mit der einen – von dem Evangelisten Lukas – fängt bei uns immer Weihnachten/Heilig Abend an; mit der anderen – von dem Evangelisten Matthäus – endet die Weihnachtszeit, enden die 10 Heiligen Nächte am 6.Januar, an Epiphanias. Als Evangeliumslesung wird am 6.Januar der eben vorgelesene Abschnitt aus dem Matthäusevangelium vorgetragen. Doch er ist es wert, einmal am Heiligabend einer deutlich größeren HörerInnenschaft zu Ohren zu kommen.
Vielleicht ist Ihnen gerade bei der Verlesung aufgefallen, dass die Heiligen Drei Könige weder heilig noch drei noch Könige sind. Matthäus erzählt einfach von einer unbestimmten Zahl von Magiern oder Weisen, deren Herkunft vage mit „Morgenland“ angegeben wird. Namen werden nicht genannt und auch keine Angaben zu ihren Fortbewegungsmitteln (Kamel, Pferd, Elefant) gemacht. Das Handlungsgerüst der Geschichte in der Bibel ist sehr dürftig und lässt bei genauem Hinsehen viele Fragen offen. Nun begegnen uns in der Bibel immer wieder Texte, Geschichten, in denen nicht alles genau erklärt wird, die vieles offen lassen für die Hörer und Hörerinnen. Und vielleicht sind manchmal ja gerade die Stellen, die etwas nicht erzählen, besonders interessant. In einer jüdischen Auslegungstradition heißt es: Die Buchstaben der Bibel sind das schwarze Feuer, und die Zwischenräume zwischen den Buchstaben sind das weiße Feuer – das, was nicht ausdrücklich im Text steht, aber woran sich unsere Phantasie, unser eigenes Nachdenken und unsere eigenen Erfahrungen entzünden. Wenn ich sie nun zu meinem Gang durch die Weihnachtsgeschichte des Matthäus mitnehme, werden es unterschiedliche Gedanken zu unterschiedlichen Stellen sein, die Ihre Erfahrungen und Phantasie entzünden, und die sie vielleicht in die Weihnachtstage dieses Jahres aus diesem Gottesdienst mitnehmen.
Die Geschichte des Matthäus beginnt ziemlich abrupt damit, dass Magier aus dem Morgenland nach Jerusalem kommen und nach dem neugeborenen König der Juden fragen, weil sie angeblich seinen Stern gesehen haben. Wie die Magier dazu kommen, in Judäa zu erscheinen, erzählt Matthäus nicht. Möglicherweise waren sie Astronomen, die sich beruflich mit dem Sternenhimmel befassten, sodass ihnen ein neuer Stern, eine neue Sternenkonstellation am Himmel aufgefallen sein könnte. Aber warum sie das auf die Idee bringt, dass dieses Himmelsereignis die Geburt eines neuen jüdischen Königs anzeigt, dazu gibt es keinen Hinweis. Und warum sollten sie sich für ihn interessieren? Und dann wollen sie ihn auch noch anbeten – wo sie doch gar nicht jüdischen Glaubens sind. Die Geschichte sagt uns auch nicht, was sie sich von diesem neuen König erwarten. Dass die Hirten in der Weihnachtsgeschichte des Lukas zur Krippe eilen, das ist deutlich einleuchtender: Sie erwarteten den Messias, den Retter ihres Volkes, der endlich das jüdische Volk befreien sollte, was ihnen der Engel ja auch eindeutig so verkündigte. Die Geschichte von Matthäus erzählt uns dagegen, dass es offenbar auch andere Gründe gibt, sich zur Krippe aufzumachen und nach dem Kind zu suchen – und dass es nicht einmal nötig ist, zu begründen, warum. Aus allem kann sich die Suche nach dem Kind entwickeln. Bei den Magiern/Weisen ist es die naturwissenschaftliche Beobachtung des nächtlichen Himmels – ihr Beruf -, der am Anfang steht. Die Sterne waren für sie etwas Selbstverständliches, Alltägliches, sich mit ihnen zu beschäftigen, verschaffte ihnen ihren Lebensunterhalt. Und diese Sterne werden plötzlich durchsichtig für etwas Größeres, was dahintersteht. Die Weisen haben erkannt, dass die bekannten Dinge nicht nur das sein müssen, was sie sind, sondern auch auf eine andere Wirklichkeit, auf eine göttliche Wirklichkeit hindeuten können. Sie haben sich getraut, das ernst zu nehmen und dem zu folgen – auch wenn sie vermutlich nicht wussten, was sie denn eigentlich genau suchten. Ihre Informationen waren ja wirklich äußerst dürftig. Unter den damaligen Umständen muss es ein ziemliches Wagnis gewesen sein, einfach mal loszuziehen auf eine weite und beschwerliche Reise, ohne das Ziel genau zu kennen.
Matthäus erzählt die Suche nach dem Kind als einen Aufbruch ins Ungewisse. Um loszugehen, muss man nicht wissen, wo der Weg genau verläuft und wo man fündig werden wird. Es reicht das Gefühl zu haben: da gibt es etwas, das ich finden möchte, etwas, was ich noch gar nicht genau benennen und beschreiben kann, aber was da ist, eine Sehnsucht im Herzen. Bei einer solchen Suche sind Umwege und Irrwege sehr wahrscheinlich. Die Magier landen ja auch prompt am falschen Ort. Sie haben sich anscheinend das nach menschlicher Logik und Vernunft Nächstliegende überlegt: Königskinder werden in Palästen geboren, Paläste stehen in Hauptstädten – also auf nach Jerusalem. Vor diesem Irrtum bewahrt sie auch der Stern nicht; anders als wir das von Krippenspielen kennen, zog er ihnen nämlich nicht auf ihrem Weg voran. Sie hatten den Stern nur zu Hause, in ihrer Heimat am Himmel gesehen. Doch dieser Umweg ist für die Magier in zweierlei Hinsicht wichtig. Als praktische Hilfe, denn in Jerusalem bekommen sie genauere Informationen über das Kind und man nennt ihnen auch den Zielort: Bethlehem. Und außerdem erkennen sie, dass man mit menschlicher Logik zwar weiterkommt, dass aber die göttliche Logik eine andere sein kann: nicht in der Hauptstadt, im Palast, wird der König geboren, sondern in dem kleinen Ort Bethlehem, abseits der großen Gebäude und wichtigen Geschäfte. Die Geschichte des Matthäus erzählt wiederum nicht, was die Magier sich bei dieser Auskunft „Bethlehem“ gedacht haben. Entscheidend jedoch ist, dass sie dieser Auskunft geglaubt haben und ihr gefolgt sind – auch wenn es ihrer ursprünglichen Logik zuwiderlief.
Als sie in Jerusalem nach dem neugeborenen König fragen, kommt dieses auch dem König Herodes persönlich zu Ohren. Seine Reaktion wird beschrieben: Er erschrickt. Soweit noch verständlich: Herodes sieht seine Machtposition bedroht durch einen neugeborenen König, der zudem in den heiligen Schriften seines Volkes schon lange angesagt ist. Aber warum erschrickt „ganz Jerusalem mit ihm“? Das Volk, gerade die armen und kleinen Leute, leiden doch unter Herodes und der römischen Besatzung. Das Volk wartet doch auf den Messias, auf einen König, der Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden bringt. Ich denke, die Menschen spüren, dass der neue König nicht einfach dort weitermacht, wo der alte König aufgehört hat. Sie spüren, dass mit ihm etwas Neues anbricht und aufbricht, das die alte Ordnung in Frage stellt. Auch wenn man sich das Neue wünscht, löst es zunächst ganz oft Erschrecken aus. Das Alte mag gar nicht gut sein, schon gar nicht für die da unten, aber viele in den oberen und mittleren Etagen, die sich in Jerusalem eine Wohnung leisten konnten, die haben doch auch nicht so schlecht darunter gelebt, konnten sich arrangieren mit der Herrschaft des Alten. Und selbst für viele in den kleinen Orten wie Bethlehem galt: das Alte, selbst wenn es schlecht ist, das kennt man wenigstens, man weiß, wo man dran ist. Weihnachten, die Geburt des Königs abseits der Hauptstadt, bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit, einer neuen Ordnung. Die alten Herrschaftsverhältnisse stehen zur Disposition. Das lässt erschrecken.
Auch die Hirten sind vor dem Engel und seiner guten Nachricht erschrocken – und gingen dennoch los. Vor etwas Neuem zu erschrecken, muss nicht lähmen – muss nicht heißen, dass man das Neue nicht will. Über den Schreck hinweg kann man dem Neuen entgegengehen – aber man kann sich dem auch entziehen, wie die Jerusalemer es in der Geschichte tun. Herodes versucht dabei, mit List die alte Ordnung zu behaupten. Er lässt zunächst die Theologen und Gelehrten seines Volkes erkunden, wo nach den Schriften der König geboren werden soll. Sie finden heraus: in Bethlehem; so steht es beim Propheten Micha, wie wir vorhin in der Lesung gehört haben. Im Gegensatz zu den Magiern ist für sie die Frage offenbar nur eine theoretische, die mit einer schlichten Antwort beendet ist. Sie fragen nicht, warum Herodes dies wissen will, und sie brechen nicht selbst auf, um das Kind, den neugeborenen König in Bethlehem zu suchen. Sie haben recht mit ihrer Antwort – und verpassen doch das, was den Magiern vergönnt ist: sich selbst aufzumachen und zu suchen, zu fragen – statt sich mit klaren und richtigen Antworten zufrieden zu geben. Die Geschichte stellt uns hier ganz nüchtern die zwei Möglichkeiten vor Augen, wie man mit Fragen nach Glauben und Leben umgehen kann. Herodes macht die Magier ohne ihr Wissen zu seinen Verbündeten, indem er sie heimlich zu sich kommen lässt und dann nach Bethlehem schickt. Die Magier scheinen naiv, gehen ihm ins Netz – und machen sich auf Richtung Bethlehem. Aber als sie der Weisung des Herodes folgen, übernimmt plötzlich ein anderer die Führung – der Stern. Jetzt zieht er vor ihnen her. Der Stern, der Himmel gibt Orientierung in dem Moment, wo es kritisch wird. Wo es nicht nur um den richtigen Ort geht, sondern um ein Macht- und Intrigenspiel, das auf Leben und Tod geht.
Die Suche der Magier aufgrund von edlen Motiven ist nicht davor gefeit, von dem Bösen für seine Zwecke missbraucht zu werden. Die Geschichte erzählt nicht von einer heilen Welt, in der die Suche nach dem Kind, nach dem neuen Leben glatt und selbstverständlich verläuft. Das Böse, verkörpert in Herodes, stellt sich nicht nur gegen die „Guten“, sondern missbraucht sie auch noch. Aber die Geschichte erzählt auch, dass gerade in dieser Situation der Stern, der erst nur am Horizont erschien, vorausgeht und zur Begleitung und Orientierung wird und sie ihr Ziel erreichen lässt: sie finden das Kind und sind „hoch erfreut“. Gerade weil der Text so sparsam ist mit Emotionen, fällt diese Reaktion der Magier besonders auf: die Reise hat sich gelohnt, trotz der nur vagen Vorstellungen und der Umwege, trotz aller Schwierigkeiten und Belastungen unterwegs sind wir am Ziel! Ich denke, es ist kein Zufall, dass der Text dies als zweite Gefühlsregung nach dem „Erschrecken“ des Herodes und der Jerusalemer Gesellschaft beschreibt. Offenbar gehört beides zusammen: das Erschrecken, solange man dem Alten verhaftet ist, und die jubelnde Freude, wenn man – das Alte loslassend und sich auf den Weg machend - das Kind, den neuen Anfang, das neue Leben vor Augen hat.
Der letzte Satz erzählt wiederum eher nüchtern, dass Gott die Magier im Traum anweist, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren. Am Ende läuft die List des Bösen ins Leere. Es ist tröstlich, dass Gott letztlich stärker ist als das Böse. Und wieder glauben die Magier auf Verdacht hin – Träume sind für sie nicht Schäume. Sie folgen dieser eher vagen und leisen Stimme mehr als dem ausdrücklichen Befehl des weltlichen Herrschers. So kehren sie auf einem anderen Weg in ihre Heimatländer zurück. Sie selbst sind dabei auch andere geworden als die, die einstmals losgezogen sind. Die Geschichte von der Suche nach dem neugeborenen Kind, nach dem Neuen Anfang, dem Neuen Leben, ist nicht damit zu Ende, dass man es findet und anbetet.
Das Leben geht weiter, aber wir gehen als Verwandelte weiter. Neue Wege sind nötig – auch heute, auch für uns, äußerlich und innerlich. Und das nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder. Gut, dass es jedes Jahr Weihnachten gibt, um uns daran zu erinnern.
Amen.
2.Christfest, 26.12.2022, Stadtkirche, Matthäus 1, 1 - 17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Weihnachtstag - 26.XII.2022
Matthäus 1, 1-17
Liebe Gemeinde!
Jesus und Miss Sophie: Beide haben Gäste an ihrem Fest, die nicht da sind … und doch anwesend.
Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr.Pommeroy und Mr.Winterbottom mögen noch vor wenigen Jahren in persona die Menü- und die Getränkefolge mit ihrer Gastgeberin geteilt haben. Ihre Abwesenheit weckt jenen Schmerz, den gerade an Weihnachten jede Lücke in unsern Familien, jeder Stuhl, der am Tisch künftig unbesetzt bleiben wird, mit sich bringt.
Der englische König sprach gestern für alle Trauernden, wenn er auch diese Seite unseres hellen und heiteren Festes berührte: Obwohl wir es wissen, dass irgendwann der Erste und irgendwann auch der Letzte aus der Vertrautheit unserer geteilten Gewohnheiten und Rituale sich verabschieden muss, ist es schwer, bitter schwer, die Lieder zu singen, die nicht mehr so vielstimmig wie früher gelingen, … die Post zu sortieren, ohne wieder - wie in jedem Jahr - auf die liebgewonnene Handschrift zu stoßen, … die Rezepte zu kochen, den Schmuck zu benutzen, den Rhythmus zu befolgen, die alle unlöslich mit einem verbunden waren, der nun nicht mehr die Speisen, die Freuden und das Licht der Sterblichen teilt.
Ein Zug der Wehmut, manchmal auch der wachsenden Verlassenheit ist gerade auch in die nur scheinbar ungetrübtesten Feiertage des kirchlichen und des bürgerlichen Kalenders unlösbar hineinverwebt.
Denn jedes Fest, das wir begehen, lebt und vertieft ja ein Miteinander, das im Augenblick seiner Ereignung schon zu jenem „Weißt du noch?“ von morgen wird, das uns daran gemahnt, wer wir sind, wo wir herkommen und was uns verbindet.
Alle Freude schafft Erinnerung, bis der Tod uns scheidet … und wird dann zu Schmerz, … bis schließlich aus der schmerzlichen Erinnerung sich wieder eine Freude herauskristallisiert, die nun auch der Tod nicht mehr zerstören kann.
Ein Fest, von dem wir unsere Trauer ausschließen, ein Fest, zu dem die toten Gäste nicht willkommen wären, wäre ein unkluges und ein unmenschliches Beginnen. Wo wir sind, sollen auch die sein, die nicht mehr hier sind. … Bis wir dahinkommen, wo sie sind.
Mit Ahnenkult oder Schauerromantik hat es also gar nichts zu tun, wenn die alten Weihnachtsbräuche oft noch Spuren des größeren Kreises an sich tragen, bei dem die Gestrigen nicht totgeschwiegen werden, sondern ihren Platz in unserer Mitte behalten und in unsern Jubel, unser Gespräch, unser Gebet auch Stimmen einbezogen bleiben, die zwar unser leibliches Ohr nicht mehr vernimmt, ohne die wir aber doch nur wie eine Orgel ohne Pedal, wie eine Antwort ohne Frage klingen würden.
Damit nie jemand auf die Idee käme - auf die natürlich inzwischen alle Welt gekommen ist! -, dass das Fest der Geburt des Erlösers der Menschen bloß ein harmloses, sprich: hirnloses Gelage sei, hat die Kirche von Anfang an dem 1.Tag des Christfestes einen zweiten beigesellt, der seit jeher den Blick der Weihnachtschristen um die entscheidende Dimension erweiterte: Was auf dieser Erde in der Zeit gefeiert wird, das ist nicht zu denken, nicht zu verstehen und … eben auch nicht zu feiern ohne die, die nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel, in der Gottes-Gegenwart also sind.
Darum ist der Zweite Weihnachtstag in seinem Proprium, in seinem eigentlichen Gepräge der Festtag des ersten Zeugen Jesu Christi, durch den die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen zu einer menschlichen Verbindung auf zwei Ebenen wurde: Der irdischen ist mit dem ersten Märtyrer Stephanus für immer auch die himmlische Gemeinde an die Seite gestellt. Und so erinnert uns dieser zweite Feiertag, der Stephanus-Tag stets daran: Es gibt uns nicht nur „hier“ ohne: „Da“; … es gibt uns nicht nur in der Zeit, sondern ebenso auch in der Ewigkeit, … es gibt uns nicht nur zeitlich lebend, sondern wir sind immer auch schon dem Leben voraus, im bleibenden „Jetzt“. ———
Mit diesen Vorüberlegungen zur Vergangenheit vor dem Heute und zur Ewigkeit jenseits des Heute sind wir nun vielleicht in der angemessenen Verfassung, um bewusst die große Schar an der Pforte des Neuen Testaments zu empfangen, … die nicht leiblich, aber geistlich gegenwärtigen Ehrengäste, mit deren Reigen Matthäus das Evangelium von Jesus Christus anhebt.
Diese Aufzählung sonorer, durch ihre Aura der Sakralität und des Aristokratischen ehrfurcht-gebietender Namen wird meistens als ein vernachlässigenswertes Kuriosum übergangen, mit dem der doch etwas zu schriftgelehrte Matthäus im Hopplahopp den engmaschigen Anschluss des Neuen an das Alte Testament belegen wollte. Man sieht eine Art hochkonzentrierter Summe der Heilsgeschichte in seinem genealogischen Abriss – was ja wahrlich aller Ehren wert bleibt! –, oder eine historisierende Fleißarbeit, die Jesus seinen Kontext in der realen Chronologie verschaffen soll. ——
Andere – so gewiss auch die, die den Stammbaum Jesu neu zu Ehren als Predigttext gebracht haben – freuen sich an den delikaten Webfehlern im gleichmäßigen Geflecht der Generationenfolge, wo nicht immer nur das monotone Leiern zu berichten ist: Einer wurde geboren, freite ein Weib, zeugte einen Sohn und dann „legt er sich“ - nach Matthias Claudius - „zu den Vätern nieder und kömmt so nimmer wieder“. Auffallend häufig sind ja die Unregelmäßigkeiten, die durch die starken Vorfahrinnen Jesu in das rechtschaffen-biedere Muster seiner Herkunft eingetragen werden: Fremde, verfemte, freie Frauen – Tamar (vgl. 1.Mose38), Rahab (vgl. Josua 2 und 6,22ff) und Ruth - , die nicht als namenloses Anhängsel irgendwelcher Patriarchen, sondern als die Schmiedinnen ihres eigenen Schicksals leben und handeln, haben ihrem Nachfahren gewiss ein Erbe der Autonomie in die Krippe gelegt: Wer solche Stammmütter hat wie Jesus, der kommt schon als gewagtes Vertrauen und vergebene Sünde zur Welt. ——
Wieder ein anderer Blick auf die scheinbar so monotone und insgesamt doch extrem männerlastige Liste der zeugenden Vorväter hat hinter dem allgemein sexuellen Vorgang ein tiefes Prinzip freigelegt[i], das die reine Fortpflanzungs-Biologie völlig verblassen lässt: Mit dem Doppelausdruck, der das ganze Neue Testament an der Spitze dieser Aufzählung doch wohl programmatisch eröffnet – „Βίβλος γενέσεως“ (Biblos geneseos) = „Buch der Zeugungen / Buch der Entstehungen“ – klingt ja schon in unseren Ohren das Buch „Genesis“ an, das exakt diesen Ausdruck zweimal als Zusammenfassung der Schöpfungs- und Urgeschichte verwendet (vgl. 1.Mose 2,4; 5,1): Die „Zeugungen des Himmels und der Erde“ und die „Zeugungen Adams“ - so werden die Erschaffung des Kosmos und die Anfänge des Menschengeschlechtes da genannt.
… Wer aber nur einen Augenblick über diese biblischen Ursprungsüberlieferungen nachdenkt, dem fällt auf, dass da überall – im Bericht über die Schöpfung, in der Urgeschichte der Menschheit und im Stammbaum Jesu – nun gerade nicht rein naturhafte, rein biologische Vorgänge geschildert werden, die gerne Charles Darwin zu überlassen sind, sondern dass es da um Gottes unentbehrliches, um Gottes völlig entscheidendes Wirken in und unter allen diesen Prozessen geht. Genauso wenig wie die Bibel in der Genesis nämlich die fruchtbare Produktivität und Variationsfreude von Mutter Natur feiert, genauso wenig feiert sie im Matthäusevangelium die Manneskraft und den Geschlechtsverkehr an sich. Vielmehr geht es am Anfang des Alten wie des Neuen Testaments unter der Überschrift des „Βίβλος γενέσεως“ jeweils darum, wie in den scheinbar selbstverständlichen Grundlagen und Entwicklungen des Lebens immer und überall Gott am Werk ist: Nichts – und sei es noch so gewöhnlich, noch so „natürlich“, triebhaft, elementar – … nichts geschieht ohne das weckende und lenkende, ohne das schöpferische und segnende Tun Gottes.
Auf diese Weise – nicht durch sexuelle Begattung, sondern durch segnende Begleitung – ist die Gotteskindschaft demnach tatsächlich der gesamten Wirklichkeit als Ur-Prinzip eingeschrieben.
Und die Geburt Jesu aus der langen Folge der Segnungen Gottes in der Geschichte Seines Volkes Israel ordnet sich in den großen Zusammenhang einer Welt ein, die ganz von Gott erfüllt ist, sich Ihm verdankt und in allen ihren Entwicklungen Ihm folgt und zustrebt. ———
Diese Linie des israelitischen Schöpfungsglaubens als Glaubens an den Segen Gottes, … diese Linie der Segensgeschichte Israels erklärt dann aber auch, wieso das Neue Testament mit einer biologischen Abstammungstafel anfängt, die Jesu Geburt gar nicht biologisch vorbereitet, da sie ja auf Joseph hinausläuft, der auch im Stammbaum selbst nicht als der in unserem Sinne „genetische“ Vater des Christus bezeichnet wird: Jesus gehört in die generationen- und Genetik-übergreifende Kette des Segens, Er ist eingebettet in die gottgewirkte Geschichte, die den Kosmos und Israel durchzieht und verbindet, … Segen hat Ihn vorbereitet, Segen gab Ihm Dasein, Segen ist Sein Leben.
Die ehrwürdige Schar der Erzväter, der frühesten Generationen Israels in Kanaan, schließlich die anfänglich stolze, dann gedemütigte, erneut aber auf Hoffnung gerettete und sehnsüchtig harrende Dynastie des Hauses Davids verkörpert also am Eingang des Neuen Testaments das, was der Hebräerbrief (11; vgl.12,1) „die Wolke der Zeugen“ nennt: Von Anfang an, durch alle Vergangenheit, die Ihm voranging, ist Jesus umfangen von denen, die Segen erben, teilen, weitergeben. Sie umgeben Ihn wie unsere unsichtbaren, aber uns tief vertraut zugehörigen Weihnachtsgäste uns umgeben: Mit einer wartenden Zuversicht und einer bleibenden Liebe, die vor unserm Leben begann und die der Tod nicht zu zerschneiden vermag.
Und damit sind sie letztlich allesamt - wie Stephanus - Zeugen der Gotteskraft, die am Anfang der Genesis (1,2) und am Ende des Evangeliums (vgl. Lk24,49 /Joh.20,22) als der Heilige Geist in Erscheinung tritt.
Der lebenspendende Geist Gottes, Der durch alle Räume der Schöpfung und die Zeiten aller Geschichte weht, ist in jeder Generation, in jeder Geburt, in jedem Geschehen gegenwärtig, um Jesus den Weg zu bereiten, um Ihn zu empfangen und auch um zu sichern, dass es nach Jesu Weg in’s Fleisch, in’s Grab, in’s Leben in Gottes Gegenwart weiter geht … weiter geht in weiteren Zeugen, … weiter geht auch in uns!
Und so ist der Geist Gottes, Der in den Vorfahren wirkt, Der Sich in ihnen bezeugt und sie zu Jesu Zeugen macht, nach Pfingsten Der, Der in uns Anwesenden allen genauso wie in den nicht gegenwärtigen Gästen die Verbindung mit Jesus und untereinander herstellt, stärkt und segnet.
Damit aber ist das Leben Jesu, Der aus dem Geist Gottes gezeugt ist, nicht nur in die Schöpfungs-, Israels- und Weihnachtsgeschichte als Seiner Herkunft eingebunden, sondern ebenso auch in die Pfingst- und Kirchen- und Weltgeschichte, als deren Fortsetzung, und es erstreckt sich ein einziger, unverbrüchlicher Lebens- und Segenszusammenhang nicht nur durch die dreimal zweimal-sieben Geschlechter des Stammbaums, sondern vom Uranfang bis zum Fernziel: Alles ist Jesu Leben und alle, die nicht mehr oder noch nicht da sind, sind doch in und bei Ihm – mit-gesegnet - anwesend! ——
… Diese ununterbrochen und ununterbrechbar durchgängige Linie des Heils ist wunderbar tröstlich, … ist in ihrer natürlichen wie symbolischen Einfachheit vollkommen schön, und sie scheint die Geschichte der Welt so glatt zu machen, …. so glatt, dass wir in unserer verzerrten, aufgelösten, zerreißenden Gegenwart eine derart sichere Fortentwicklung kaum mehr für denkbar und glaubhaft halten können. …….
Doch auch Matthäus kannte kein bruchlos geschmeidiges, widerstandsloses Abspulen der Geschichte. Sein wunderbar gegliedertes Triptychon aus vierzehn Geschlechtern der Vorbereitung und Erwartung bis zum Messias David, dann vierzehn Geschlechtern auf dem Thron und im Reiche Davids und zuletzt vierzehn Geschlechtern unterm Gericht und in der existentiellen Erwartung dessen, in dem alles verheißene Heil sich doch noch erfüllen werde, ist schief.
… Es besteht nicht symmetrisch aus zweiundvierzig Gliedern, sondern einem weniger.
Das liegt an der tiefen Krise des babylonischen Exils, als Davids Stern erlosch, als alle Zusagen Gottes zusammengebrochen schienen, als das Land verloren und das Volk gescheitert war, … als - kurzum - die Zukunft beendet sein musste, weil die Verbannung in Babel den Schlussstrich und Todesstreich herbeigeführt hatte.
Diese Krise im Weltuntergangsmaßstab begegnet als einziges historisches Ereignis in der Aufzählung der Namen, die wir als Segensträger und Jesus-Zeugen verstanden haben … und sie begegnet gleich zweimal, … so tief teilend, so einschneidend war sie.
Die Wirklichkeit also durchbricht das allzu schöne, allzu glatte Schema der Heilsgeschichte auch im Buch der Zeugungen - der Zeugen - Jesu, so wie unsere Erfahrungen der weltgeschichtlichen Gegenwart es auch tun.
Doch der Einbruch des Unheils zerstört nur das Schema, nicht aber die innere Wahrheit des unwiderruflichen und unumkehrbaren Wirkens Gottes auf das Leben hin, … das Leben Jesu und das Leben aller!
In der Reihe derer, die Jesus vorbereiten und empfangen, fehlt also – was Matthäus unmöglich entgangen sein kann – unterbrochen durch das Exil, ein Name, … aber kein Glied: Jesus - so zeigt es der Evangelist - hat Zeugen, Er hat Angehörige, die zwar nicht aufgezählt sind, aber darum doch nicht in Nichts aufgelöst, doch nicht spurlos verschwunden.
Die, die nicht da sind, sind Ihm doch gegenwärtig.
Die, die wir nicht finden, sind doch für Ihn nicht verloren.
Für Jesus, Der aus dem Segen, aus dem Geist des Vaters gezeugt wurde, gilt nämlich weihnachtlich der eine, trotz aller Anfechtungen einfache Satz:
Er, Der unmittelbar aus Gottes Leben kommt, ist Der, Dem alle leben, … hier und da, … die Anwesenden und die in Seiner Gegenwart! —
Und so ist Weihnachten das Lebens-Fest der gesamten Menschheit; Hier, in der Zeit und dort in der Gegenwart!
Amen.
[i] Das Verdienst, spröde-scheinende biblische Texte – wie etwa alles Genealogische – sensibel, aufmerksam und theologisch fruchtbar eng zu lesen („close reading“) kommt unbestreitbar der Tradition der holländischen Exegese zu, die sich auf den großen reformierten Theologen Kornelis Heiko Miskotte (1894 – 1976) zurückführen läßt. Aus seiner Schule hat besonders Frans H. Breukelman den biblischen Wirklichkeits- und Geschichtsbegriff aus dem Denken und den sprachlichen Formen der Hebräischen Bibel erhoben. Breukelmans mehrbändige „Bijbelse Theologie“ beginnt nicht zuletzt mit grundlegenden Untersuchungen des hebräischen Wortstammes und der Denkfigur, die im Griechischen als „Βίβλος γενέσεως“ übersetzt wird. Breukelman plädiert bei diesem hermeneutisch entscheidenden Terminus, der geschichtsphilosophisch als ein hebräisches Äquivalent zum Konzept von „history“ betrachtet werden kann, asl angemessene Wiedergabe schließlich für das schöne niederländische Wort „verwekkingen“ (also: Weckungen, Auf-Erweckungen?!), das in unserem Horizont die natur- und stammesgeschichtlichen Entwicklungsschübe aus der Dynamik des Segens von vorherein österlich färbt; vgl. F.H.Breukelman, Bijbelse Theologie, Deel I,2 תולדות - De Theologie van het Boek Genesis. Het eerstelingschap van Israël temidden van de voelkeren op de aarde als thema van „het boek van de verwekkingen van Adam, de mens“, Kampen 1992, S. 24.
1.Christfest, 25.12.2022, Stadtkirche, Kolosser 2,3.6-10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Geburt des Herrn - 25.XII.2022
Kolosser 2,3.6-10
Liebe Gemeinde!
Sonntag und Weihnachten – in dieser Reihenfolge: Das Leben, das den Tod besiegt, ist heute geboren worden! … Mehr Wirklichkeit und mehr Verheißung kann in einem Satz nicht zusammenkommen. Ein größeres Fest lässt sich nicht feiern als an diesem Tag, an dem Beginn und Vollendung gemeinsam begangen werden wollen.
Die Geburtsgrotte in Bethlehem ist ja schlicht der Eingang zum 11 Kilometer, 33 Jahre und eine Lebens-, Leidens- und Todesgeschichte entfernten Felsengrab von Jerusalem, in dem eine neue, … eine Geburt für die Ewigkeit geschah. Ohne den seit Pfingsten allwöchentlich begangenen Tag der Auferstehungsfeier wäre unser heutiges irdisch-historisches Geburtsfest Christi gewiss niemals in die christliche Liturgie aufgenommen worden. Und daher dürfen wir Weihnachten heute endlich einmal wieder so feiern, wie es ursprünglich gemeint war: Als österlich durchglühtes Fest der Inkarnation, … als den Tag, von dem an es dem Fleisch – also der physischen, organischen, konkreten Menschennatur, die Jesus von Maria annahm – bestimmt war, zu jenem unverweslichen Leib zu werden, der die persönliche Wirklichkeit des Auferstandenen ist. ———
Allerdings ist gerade diese Verbindung zwischen dem obdachlosen Säugling in Bethlehem -also einem Allerwelts-Migrantenkind, das heute ebenso aus der Nähe von Aleppo stammen könnte oder aus Bachmut, aus dem Jemen oder der mittelamerikanischen Tristesse, aus der sie nach Norden strömen - … die Verbindung also zwischen dem bedrohten kleinen Wurm, das zwischen Hypothermie und Hunger in Bethlehem zur Welt kam und dem, den die Forschung gern den „Christus des Glaubens“ nennt, ist eine geradezu peinliche.
… Denn dass ein menschlicher Organismus – also ein reines Beispiel stammesgeschichtlich-biologischer Evolution und Adaption des homo sapiens an das heterogene Ökosystem der Erde – in irgendeiner Beziehung zu einer transzendentalen Existenzform stehen könne, das scheint nicht erst heute unbegreiflich.
Zwar werden die inzwischen die Mehrheit darstellenden Nicht-Christen weiter so tun, als sei-en die Fragen, die die moderne Naturwissenschaft hier stellt und die Zweifel, die ein geschlossen materialistisches System hier anmeldet, nun mit sofortiger Wirkung das endgültige Ende des lächerlich voraufgeklärten, des „mythischen“ christlichen Bekenntnisses.
… Doch wie wenig wissen die, die ihren heutigen Horizont für universal halten, tatsächlich vom hohen Alter und der langen Tradition ihrer eigenen Zweifel!
Es brauchte nicht die verengte Wahrnehmung einer auf reine Sinneseindrücke beschränkten Weltsicht, um zwischen dem Geborenen und Gekreuzigten und Dem, Den wir heute als den Lebendigen bekennen, einen tiefen, unüberbrückbaren Graben zu ziehen: Seit dem Sonntag, den wir Ostern nennen, ist es eine ständige, schon in Athen zu Paulus’ Zeiten (vgl. Apg17). von reinem Hohn gekennzeichnete Ablehnung des Zusammenhangs zwischen der körperlichen und der spirituellen Gestalt Christi, die das Evangelium weckt.
Heute, weil alles auf’s Physische reduziert ist; damals, weil nur das Metaphysische zählte.
Wo die Moderne nur Greif- und Messbares anerkennt, verneinte die Antike gerade dieses, denn philosophisch gültig schien den körperskeptischen Alten einzig das geistige Reich der Ideen, wohingegen uns geistfernen Naturalisten nur das wissenschaftlich Eingegrenzte dingfest vorkommt.
Doch beide Ansichten sind wirklichkeitsferne Reduktionen.
Der Marxist, der lehrt, dass Leben einzig im angemessenen Stillen der physischen Bedürfnisse bestehe, ist genauso ein halber Mensch wie der Buddhist, der hofft, dem Kreislauf des Brauchens, Begehrens und Befriedigens zu entkommen, um endlich zur Freiheit zu gelangen. Im Menschen ist vielmehr beides angelegt: Das stoffliche und das geistige Angewiesensein, … der nackte Hunger und die seelische Aufnahmebereitschaft.
Die Menschenwürde ist es, dass er vom Brot lebt und vom Wort!
Und damit treten wir zur Krippe, in der beides liegt: Das Wort Gottes und das Brot des Lebens … und zwar ungetrennt und unvermischt im Körper eines kleinen Kindes.
Denn das ist das Dritte, was die Weisheit und die Kritik der philosophischen wie der wissenschaftlichen Schulen der Menschen übertrifft: Nicht Weizenmehl findet sich da und nicht die Zeichenfolge der Buchstaben und Laute und doch Der, Der uns an Leib und Seele mit Sich Selbst erfüllen kann.
Was für ein seltsames Wunder, das zugleich die uralte und die allerjüngste Weltanschauung der Menschen herausfordert. „Zu primitiv!“, ärgern sich die Alten: „Der sublime Gottesgeist als reales Menschenkind?“ – „Zu spekulativ!“, ärgern sich die Modernen: „In einem realen Menschen den abstrakten Gott zu sehen?“
Doch die Gemeinde, die da so paradox von zwei Seiten die Größe ihres einen, versöhnenden Mittelpunkts bestätigt sieht, kann sich daran nur freuen: Zerreißt es auch der Rest der Menschen lieber, um in der je eigenen, ihnen geheuren Hälfte der Wirklichkeit ungestört zu verharren, so ist das Geheimnis des Christus-Ganzen, der Ganzheit in Christus doch zu herrlich, um es bestreiten und zerstören zu lassen.
Die Zeit der Pandemie hat es uns ebenso gezeigt, wie jetzt die Kriegszeit, wieviel Unheil in der säuberlichen Zergliederung und Zerstückelung unserer Wirklichkeit liegt: Wo man nur die Gesundheit des Leibes schützte, kam der Mensch seelisch zu kurz; wo man nur die Reinheit seines Gewissens retten will, opfert man dem pazifistischen Seelenheil das Leben anderer Menschen.
Es müssen um des fleischgewordenen Wortes willen immer beide Seiten in der christlichen Gemeinde zusammenkommen, um das weihnachtliche und österliche Wunder zusammen zu halten: Dass das Kind, das die schmutzstarrenden Hirten mit ihren reinen Herzen und ihrer Ziegenmilch beschenkten, zugleich der König ist, den die durch ihn erleuchteten Weisen für seinen Leidensweg und Siegeszug mit Gold, Weihrauch und Myrrhe ausrüsteten.
Leib und Seele, das Unmittelbare und das Reflektierte, Gefühl und Gedanke sind durch die Inkarnation, die zur Auferstehung führt – die Geburt, die Ostern bringt – schlicht und ungeschieden und unverbrüchlich verbunden. ———
An der Sollbruchstelle, die das eine vom anderen separieren will, hat indes schon Paulus sich abgemüht.
Er konnte nicht zulassen, dass bereits die ersten Taufanwärter für sich eine fundamentale Unterscheidung trafen: Den vergeistigten Christus – das jenseitige Ideal eines Übermenschen, den sie mal mehr jüdisch als den perfekten Frommen und Gerechten, mal mehr griechisch als den leidenschaftslosen Philosophen in der Sphäre der reinen Theorie, der vollkommenen Wahrheitsschau deuteten … –, den wollten sie gerne als ihr Über-Ich, als ihr Maskottchen, als ihren Avatar, ihren virtuellen Stellvertreter akzeptieren. In die Nachfolge dieses rein spirituellen Idols gliederten sie sich je nach Schule oder Sekte schon in den allerersten Gemeinden gerne ein.
… Dass aber diesem früh entwickelten Christusbild in der Wirklichkeit der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Heilsereignisse eben gerade kein Bild, keine Projektionsfläche, sondern ein echter Mensch entspricht, das blendeten viele von Anfang an lieber aus.
„Lasset uns Christus machen nach unserem Bild“, lautete ihr instinktiver Vorsatz.
Doch gerade dieser Versuch läuft dem Weihnachtswunder und dem Osterziel genau zuwider: Gott, Der den Menschen nach Seinem Bilde schuf, hat damit die Gottähnlichkeit jenem Geschöpf eingestiftet, zu dem Er selbst zu werden bereit war. Dass das Geschöpf aber auch das wieder besser zu können glaubt, … dass es Gott nicht gar so menschlich, sondern viel lieber den Menschen in Christus nach eigenem Gusto noch göttlicher machen würde, das ist die alte Sünde im neuen Gewand des neuen Glaubens.
Der rein himmlische, transzendente Christus, den sich die Menschen gerne denken und ausmalen, … der Gott, der als Mensch nach den Vorstellungen der Menschen etwas weniger Mensch und dafür etwas stärker Gott sein sollte: Ist das nicht schon wieder das goldene Kalb?
Alle die vom Menschenwahn geschaffenen Christusse – der entrückte byzantinische Herrscher-Christus, … der auf russischen Ikonen abgebildete „Zar aller Zaren“, dessen götzendienerischer Patriarch heute wieder im Kriegsrat des Kreml thront, … der arisch antibiblische Christus unserer Großeltern, … das allgemein moralische und korrekte, von jedem freiwillig erlittenen Schmerz, aber auch jeder richtenden Autorität unüberbrückbar weit entfernte, woke Weichei der heutigen a-theologischen Kirche … sie alle sind törichte Abgötter, geformt nach den Trends und Theorien, den Moden und Marotten ihrer jeweiligen Zeit.
Doch das Kind in der Krippe von Bethlehem, der kleine jüdische Knabe, der am achten Tag als Sohn von obdachlosen Reisenden beschnitten wurde, der dann als Fremdling in Ägypten zusah, wie die Eltern sich durchschlugen, der in der galiläischen Heimat die stillen Jahrzehnte seiner Alltäglichkeit verbrachte, der drei Jahre des harten Wanderprediger und Wunderheilerlebens bestand und dann in weniger als fünf Tagen vom Liebling zum Sündenbock der Stadt Gottes wurde, der Märtyrer, den man auspeitschte, folterte und langsam zu Tode quälte, der Gleiche, lebenslichtleuchtend als Auferweckter mit berührbaren Wundmalen an Händen und Füßen, der segnende Kyrios, der in die universale Gegenwart Gottes aufgenommen worden ist, der weihnachtlich-österlich - als Fleisch aus Maria und ewiges Wort Gottes - im Heiligen Geist jetzt hier unter uns Gegenwärtige, Der ist in alledem nicht das, was jedermann aus Ihm machen mag, … Er ist und bleibt stattdessen einfach und ganz Er selber.
Und auch wenn die Philosophen und die Materialisten das nicht zugeben können, dass Jesus der wahre Mensch bleibt und dass es sich in Bethlehem und auf Golgatha und im Gartengrab genauso wahrhaftig ganz um Gott handelt, so gilt doch das Beharren des Paulus, dass gerade und nur so alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis – der Sophia und der Gnosis im Griechischen, der sapientia und scientia auf Latein – in Ihm verbunden sind:
… Dass es bei diesen Reichtümern, bei dieser psychosomatischen Erfahrungsfülle um nichts Theoretisches, Abstraktes, Ideales gehen kann, das wird jedem klar sein, der je wirklich einen neugeborenen, einen leidenden und sterbenden Menschen oder im Vorgriff einen erlösten, einen losgelassenen, einen seligen Menschen wahrnehmen konnte.
Die wirklich nötige Erkenntnis, was das Elend und was das Glück der Menschen ist, … die wirklich notwendige Wissenschaft, die das Eine zu mindern und das Andere zu fördern hilft, … die wahrhaft menschenwürdige und menschenfreundliche Anschauung und Praxis, die am weihnachtlichen Anfang Jesu und an Seinem österlichen Ziel ihre Maßstäbe und Motive des Ernstnehmens der Liebe zu allem Leben und der Hoffnung für jeden Sterblichen gewinnen, die sind eben tatsächlich nie und nimmer so klar, so echt und so tief zu begreifen wie dort, wo Jesus Christus uns Glaubende prägt.
Jesu Leben ist die Schule allen Lebens.
Jesu Leben ist die Therapie für alles Leid.
Jesu Leben ist die Verarbeitung und Bewältigung aller menschlichen Schuld.
Jesu Leben ist das Verheißungspotential des gesamten Menschengeschlechtes, in dem die Seinen wurzeln, gründen und leben.
Andere Faktoren können neben dieser Fülle nicht wirklich ins Gewicht fallen: Die jeweils zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Brennpunkte und Hauptschauplätze der wunderbaren und erschreckenden Macht des menschlichen Forschens und der menschengemachten Technik kommen an die Dichte und an die Universalität, an das Existentielle und an das Konkrete des lebendigen Leibes Jesu nicht heran. Er umfasst alle. Verbindet sie. Erhält und heilt sie, durchströmt und löst sie von allen Lasten, Fesseln und Gewalten.
In Seiner Menschheit und Gottheit ist allen alles gegeben, was Leib und Seele in Zeit und Ewigkeit brauchen.
Das verbindet uns an diesem sonntäglichen Weihnachtsfest in einer Zeit der weltweiten Passion restlos untereinander.
In unser Vertrauen auf den Menschengewordenen und Auferweckten schließen wir darum unverbrüchlich gerade die ein, die in diesem Augenblick unterm Krieg, unter der Kälte, unter den Verheerungen, die wir an der Natur verüben, so bitter leiden müssen, ebenso wie die, deren Dasein von starrem Unrecht, ständigem Mangel, steigender Aussichtlosigkeit seit Jahr und Tag ausgepresst wird.
Die Fülle Gottes, die leiblich in Jesus verkörpert und greifbar bleibt, ist grenzenlos: Ihre immanente Wirklichkeit in der uns verwandten und zugänglichen Menschengestalt ist unerschöpflich und allumfassend. Wo sie noch nicht spürbar verwirklicht ist, wird sie es werden. Wo sie noch nicht ungehindert wirken kann, wird es nicht dabei bleiben. Wo sie nur teilweise begegnen kann, werden ihre Ansätze und Bruchstücke sich zum großen Ganzen fügen.
Am heutigen Weihnachtssonntag nehmen wir darum für Ost und West und Nord und Süd, im Namen der Feiernden wie im Namen der Klagenden, … nehmen wir Wenigen hier für alle in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellvertretend Teil an einer Vollkommenheit, die ohne Abbrüche, ohne Leerstellen sein wird.
Und darum wollen wir hier im Westen mit Worten des Ostens das besingen, was alle Erkenntnis noch übersteigt, was der mängellose Reichtum und die vollständige Wirklichkeit des zur Erlösung geborenen Lebens ist, … mit Worten des unvergleichlichen ostkirchlichen Hymnendichters Romanos, genannt „der Melode“[i]:
„Bethlehem öffnete Eden, / kommt hierher, lasst uns schauen!
Wir haben den Überfluss im Verborgenen gefunden; / kommt hierher, lasst uns empfangen
die Gaben des Paradieses im Inneren der Höhle!
Dort zeigte sich die nicht bewässerte Wurzel, die die Vergebung hervorsprießen ließ.
Dort fand sich der nichtgegrabene Brunnen,
aus dem einst David zu trinken begehrte.
Dort stillte die Jungfrau, da sie ein Kind gebar,
sogleich den Durst von Adam und David.
Deshalb lasst uns dorthin eilen, wo geboren ward
ein kleines Kind, der urewige Gott!“
Amen.
[i] Zitiert nach: Maria H. Duffner, Romanos der Melode: „…denn für uns wurde geboren ein kleines Kind, der urewige Gott“. Gedanken zu einem alten griechischen Weihnachtshymnus, Gersau 2001, S.17.
Christmette, 24.12.2022, Stadtkirche, Hesekiel 34,23ff i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2022
Hesekiel 34, 23-31 (in thematisch-assoziativer Auswahl)
Liebe Gemeinde!
Jetzt feiern wir Weihnachten in schrecklicher Zeit: In einem Jahr voller Täter und Opfer, voll Verbrechen und Flucht, voller Einkreisen und Umzingeln, voller Belagerung, Bestialität und weltweiter Schockwellen. …….
Dabei endet an Weihnachten doch das Katz-und-Maus-Spiel, … das Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Zeit und der Ewigkeit. Das Einander-Umschleichen und Reißaus-Nehmen von Schaf und Wolf, von Gott und Mensch hört heute endgültig auf. …
… Denn seit dieser geheimnisvollen und engelhell blendenden Nacht muss kein Raubtier mehr lauern, kein Jäger mehr jagen. … Es ist ja nun klar geworden, wo man Ihn finden kann. … Wen’s dazu treibt, der kann jetzt zupacken und das lästige Geschrei von Gott ein für alle Mal zum Schweigen bringen. ——
Der Mensch, der Gott wohl immer schon einfangen, dressieren, vielleicht sogar schlachten wollte, muss endlich keine raffinierte und anstrengende Hetzjagd mehr unternehmen, er muss nicht planvoll Fallen stellen oder mühsam durch’s Theoriegestrüpp und die wilde weite Welt pirschen, um Gott zu stellen und dann zu zerreißen, denn heute hat Gott sich endgültig als völlig hilflos und ohnmächtig, als erbärmlich leichte Beute für den so weitaus stärkeren, für den so viel gnadenloseren Menschen erwiesen.
Seit Er sich einfach in einen Mutterschoß fallen und dann in einen Viehtrog legen ließ, ist Gott geliefert, … ausgeliefert. Wer immer beweisen wollte, dass Gott in Wahrheit nichts kann, hat hier Recht bekommen. Alle, die den Argwohn hegten, Gott sei zu nichts zu gebrauchen, … Er sei so eine Art Puppe, ein Spielzeug oder eine kindliche Ablenkung vom echten Ernst des Lebens, können sich in Bethlehem voll und höhnisch bestätig sehen: Gott ist unfähig zu irgendwas; Er kann in Seiner Krippe tatsächlich gar nichts ausrichten; Er vermag nun nur noch das, was Menschen aus Ihm machen und für Ihn tun. …….
Als Gott in dieser unvorsichtigen Nacht voller Klarheit also ein neugeborenes Kind wurde, da haben die, die zu groß für ein so schwaches Argument sind, tatsächlich gesiegt: Weihnachten liefert ihnen den Beweis, dass Gott nicht die Oberhand hat oder das letzte Wort, weil Er jetzt eindeutig in Menschenhänden liegt und eine verständliche, eine sinnvolle Sprache noch lange nicht spricht.
Und also stimmt, was immer mehr Menschen immer lauter sagen, … stimmt gerade in dieser Nacht der Verkleinerung und Entmächtigung des Himmlischen: „Wir brauchen Ihn nicht! Für uns ist die Existenz Gottes schlicht hinfällig.“
Amen!
Die Gebete der Gottesbestreiter, der Gottesverächter, der Gott-Vergesser sind alle erhört worden. Seit zweitausend Jahren haben sie vollumfänglich Recht: Gott ist unbrauchbar! … Nicht unwiderleglich, unüberwindlich oder unwiderstehlich!
Gott ist die Maus, und die Menschenkatze ist klüger.
Und darum herrscht der Mensch über die Erde.
Er macht die Gesetze und fällt die Urteile.
Er ist sein eigenes Idol und der unangefochtene Despot … jedenfalls des Sonnensystems. Da kommt ihm kein Gott dazwischen. Da ist er mit seinem ganzen Bewusstsein ungestört mit sich allein beschäftigt.
Er zwingt die Natur.
Er verlässt den Verstand.
Er wagt das Äußerste.
Er bricht alle Tabus. … Und nichts hindert seinen Zug zu den Sternen … oder in den Abgrund. Außer, dass die Welt so dumm endlich, so lächerlich erschöpft ist. Außer, dass die bleischweren Fakten den hochtrabenden Menschen nicht beflügeln, nicht bestätigen wollen.
Aber der Mensch macht weiter. Verliert vielleicht das Gefühl für Sachen und Seelen, für den Stoff und für den Geist, … doch eine höhere Macht, ein anderes Gebot, eine Ehrfurcht vor einem Fremden kommt dem Menschen jetzt nicht mehr dazwischen. Er siedet besoffen sein Gift, baut sehenden Auges in blindem Selbstvertrauen an der superlativistischsten Vernichtungserfindung und bleibt der allzeit unbezwingliche Fresser … bis zum Gefressenwerden.
Der wissenschaftlich zu höchstem Stolz erweckte, rein rationale, reflektiert materialistische Mensch im katastrophalen Krieg und Chaos unserer Tage ist so unberührbar von der konkreten Wirklichkeit wie die harmlose Kundin, die letzte Woche strahlend im Blumenladen zwitscherte: „Noch ein paar Tage Frost, dann hört das Gesabbel vom Klimawandel endlich auf!“
……. Und wer nicht Nachrichten hört, erfährt nichts vom Energiekrieg, vom Krieg der Kälte und des Stillstands, von den in dieser Nacht heulend und zähneklappernd Frierenden im Dunkeln der Ukraine, von der nahen Not und der mörderischen Gewalt „in meiner Welt, in deiner Welt, in unserer Welt“ (EG 547). Und wer genug Geld hat, wundert sich ja immer schon, was Armut wohl sein soll, und wer das Brot wegwerfen kann, hat keinen Hunger. …
… Und Gott braucht niemand, … solange niemand Ihm begegnen muss.
Denn das ist eine Tatsache, die so schlicht und banal ist, dass man beinah zucken möchte: Der behauptete, geforderte, gepflegte, gewohnte Atheismus geht nur solange gut, bis nicht diese ungeheure Nacht über einen Menschen kommt und ihr winziger Mittelpunkt ihn anrührt.
… Gott nicht gebrauchen zu können und für nichts zu halten, das geht wunderbar glatt, bis man überrascht wird wie einer der Hirten oder bis die Weisheit der Sterndeuter einen überfällt, die höher ist als all unsere Vernunft.
Wenn man dann aber auf irgendeinem Weg zu dem Kind in der Krippe gerät – gelockt von einem Neugier-Engel, geschoben von einer behäbigen alten Tradition, pfadfinderisch gelenkt von einem verheißungsvollen Stern der Jugend – … wenn man also irgendwie auf das kleine Kind in der Nacht und Not von Bethlehem stößt, dann kann es ganz schnell ganz anders werden mit der kaltschnäuzigen Gleichgültigkeit gegen den unbrauchbar gewordenen Gott! An der Krippe, angesichts des Neugeborenen, das uns mit Freudestaunen anschaut, als wären wir die Morgensonne, …das uns wie selbstverständlich seine Hände hinstreckt und gefüttert werden will, … das dringend und natürlich die Wärme eines Körpers und Hautkontakt braucht, um nicht auszuwehen, wie eine Kerze im Wind, … angesichts dieser instinktiv ergreifenden, urmenschlichen Bedürftigkeit, … da schmilzt die Dummheit, die uns von Gott trennt: Der von uns übermächtig ausgemalte und dann an unsern Allmachtsphantasien scheiternde Gott, den wir leugnen, erweist sich als Phantom, als Hirngespinst einer selbst vom Omnipotenz-Wahn genarrten Welt.
… Gottes wahres Wesen ist nämlich eben nicht die Überlegenheit, die alles unfrei lenkt, sondern die Hingegebenheit, die sich in alles frei verwickeln lässt: „Ihr werdet finden das Kind, in Windeln gewickelt“ … eingebunden in die Welt, verbunden mit allen, die so klein, so hungrig, so angewiesen, so ungeschützt sind wie Er.
Gott, der aus dem Jenseits Überlegene ist ein Hirngespinst.
Diesseitig real dagegen, fleischlich ist Gott, der Säugling, Der den Atheisten in uns wehrlos macht.
… Denn das ist ja tatsächlich die einzigartige Wirkung eines Wickelkindes: Es teilt sich und seine Bedürfnisse beinahe jedem Menschen mit und verwandelt selbst den abgestumpftesten Egoisten in aller Regel in seine freiwilligen Helfer.
……. Wer dagegen einem dieser Kleinen etwas zuleide tun kann – und viel zu oft erfahren wir, dass das gegen alle Gesetze der Natur und der Kultur tatsächlich geschieht –, der stellt das eigentliche, das ernsthafte atheistische Problem dar, weil er sich an dem vergreift, was Gottes ist. Wer Menschen missbraucht oder schändet, wer das Leben verachtet oder verdirbt, wer Lebewesen und Geschaffenes, statt sie zu hüten, schlicht verbraucht, der will Weihnachten abwickeln, der will ungeschehen machen, was dabei unumkehrbar geworden ist: Gottes Einbindung in den Lebensrahmen und Lebensraum unserer irdischen Wirklichkeit. …….
Zurück aber zu jener unmittelbaren Begegnung, die uns an der Krippe erwartet und verwandelt:
Wenn uns das Kind dort elementar ergreift, wenn es uns unmittelbar packt in seinem reinen Bedürfnis nach uns - ohne die es verloren wäre! -, dann ist mit Gott auch der Unglaube in höchster Gefahr.
Denn dann erfahren wir instinktiv: Gott braucht uns! Weil Er tatsächlich unseretwegen in unsere Welt kam, darum hat Er uns auch tatsächlich nötig!
Und das ist der zentrale Grund, weshalb dem Menschlein da im Stroh, das später ein-mal sagen wird, es sei der „gute Hirte“ (vgl.Joh.10,11ff) als allererstes selbst Hirten zum Empfang in seinen Stall geschickt wurden.
Genau darum aber hört an dieser Stelle die heutige Nacht auf, bloß eine dunkle Meditation über die trübe Welt und über den Schatten zu sein, der sich in unserer Zeit auf alle unsere Bilder von Gott zu legen scheint.
… Denn jetzt leuchtet es unmittelbar auf und leuchtet unmittelbar ein: Der, Der uns behütet, Der nicht schläft noch schlummert (vgl. Ps121,4), Der braucht nun auch uns als Seinesgleichen … und Er macht uns tatsächlich ja auch dazu!
Wenn Gott unser Hirte ist, Der uns weidet und führt - wie noch alle von uns es auswendig lernen und immer wieder inwendig spüren - , dann wandelt Seine Menschwerdung Ihn genauso wie sie uns verwandelt: Der Hüter gibt sich in die Obhut der Seinen und die Behüteten werden gebraucht, um Seine Hirten zu sein!
Und so macht die Weihnacht, die wir jetzt feiern, uns neu! Sie legt uns Gott in die Arme und ans Herz mit einer Direktheit und Dringlichkeit, wie sie nur ein Neugeborenes ausstrahlt. … Obwohl so ungeschützt, ist es doch so unwiderstehlich; obwohl so vorbewusst, ist es doch so klar; obwohl so ohne Wortgewalt, ist seine Sprache doch so unmissverständlich: „Nimm mich zu Dir. Trag mich mit Dir. Gib mir, was ich verlange. Schenke mir, was Du nur hast. Denn wenn Du Dein Leben so mit mir teilst, dann wird meins auch zu Deinem werden!“
Weihnachten, die schwächste Stunde Gottes vor Seinem Karfreitag, wird ausgerechnet dadurch jedoch zur stärksten Berufung der Christen: Weihnachten, das Fest der vollständig freiwilligen und freiwillig vollständigen Angewiesenheit Gottes, macht uns nämlich entweder zu Seinen triumphierenden Verächtern oder zu Seinen eingeschworenen Bewahrern!
… Denn was aus dem Hüter der Welt, dem Hirten der Menschen wird, das liegt nun an den menschlichen Hirten, die zum menschgewordenen Hüter halten:
Man kann Seine Schwäche ausnutzen. Man kann Ihn verlassen und vergessen.
Oder man erfährt die große Verwandlung, die Verbindung, die ein Kind ohne alles Weitere herstellt. Dann wird man wie von selbst zu dieses Kindes Verbündetem, lässt sich in diese Welt verwickeln so wie das Kind selbst und sorgt dafür, dass dieser kleine Jesus, Der uns wahrhaftig braucht, nicht enttäuscht wird.
Wenn wir Ihn also hüten, wenn wir Ihn nicht denen preisgeben, die Ihm nach dem Leben trachten, wenn wir Ihn davor bewahren, dass Er verloren geht, dann tun wir das, was die Welt am meisten braucht. Denn dann tragen wir – die Hirten und Hirtinnen, die Gottes Sohn seit der Nacht von Bethlehem nötig hat – dazu bei, dass dieses Lamm nicht irgendwo in der Wüste unserer Gegenwart einfach verschwindet, sondern dass Es der Menschheit erhalten bleibt und tun wird, was nur von Ihm getan werden kann (vgl. Joh.1,29): Diese Welt freiwillig ertragen, … bis zur letzten Konsequenz.
Dazu ist die Nacht jetzt wohl zu weit fortgeschritten, um das ganz und gar auszuloten: Aber wer 2022, in einem so brutalen Kriegsjahr mitten in Europa, in einer Zeit der schrumpfenden Hoffnung wie unserer dennoch Weihnachten feiert, der wird ahnen, dass gerade Jesu Lamm- und Opfernatur, seine Wehrlosigkeit als Kind und seine Existenz als eine zur Gewalt ohnmächtige - und in aller Ohnmacht doch so gewaltige! - Liebesbitte die einzige Rettung für die Welt ist.
Wölfe herrschen ja zahllose auf Erden. Kämpfer, Räuber, Lügner, die an sich reißen, was sie nur können, … die nehmen und verschlingen, ohne Mitleid.
Aber sie können nichts und niemanden bewahren. Sie behüten vor gar nichts … am Wenigsten vor sich selbst. Bei allem Machtgehabe sind sie doch kein Schutz, sondern die schlimmste Bedrohung.
Die Welt behüten vor der Ungeheuerlichkeit, die sich in Menschen zeigt, kann nur der menschgewordene Gott, … weil Er selbst als Lamm gekommen ist!
Und deshalb ist es unsere Aufgabe, unsere Auszeichnung, dass wir Christen in dieser Nacht zu Seinen Hirten bestellt werden.
Unser Glaube in dieser Nacht bewahrt und behütet Ihn vor allen, die Seine Unbrauchbarkeit zelebrieren.
Unsere Nachtwache an Seiner Krippe in schrecklicher Zeit - in Geduld und Vertrauen - schützt das Lamm Gottes, damit es wachsen kann, bis es endgültig zu jenem Hirten wird, den der HERR verspricht, Der den Bund des Friedens mit der ganzen Welt schließen wird, weil alles Böse vergangen ist und die Flüchtlinge und die Verirrten und die Gläubigen, die Nicht-mehr-Leidenden und die Endlich-Glücklichen in der Steppe wohnen und in den Wäldern schlafen können. …
… Damit das geschehen kann, sind wir hier.
… Und darum – weil wir jetzt bei Ihm sind und Er bei uns – …. darum allen, überall auf Erden „Eine heilige, eine gute Nacht“!
Amen.
Christvesper, 24.12.2022, Stadtkirche, Lukas 2,1, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Christvesper 2022
Lukas 2,1: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“
Ein Brief in den Orkus anstelle einer Predigt
»Lieber Augustus!
Ich schreibe Dir, weil ich nicht von den Krisen, aus denen wir kommen, vom Krieg, der ist, von den Katastrophen, die sein könnten, schreiben mag, … um die ich aber nicht um-hinkäme, wenn ich mit Zeitgenossen korrespondierte oder kommunizierte. … Vielleicht hilft ja Post an Deinen fern vergangenen Schatten, die Tiefenschärfe und Wirklichkeit von Weihnachten anders zu prüfen als nur vorm Hintergrund des Heute.
Alle Welt verschickt und empfängt in diesen Tagen jedenfalls Weihnachtsgrüße.
Du hättest Deine buchhalterische Freude daran, dass man als Sterblicher zwar keinerlei Übersicht über die vielen gedruckten, handgeschriebenen oder elektronischen Sendschreiben zu den Feiertagen behalten kann, dass es aber inzwischen stählerne oder gar körperlose Sammel-, Zähl- und Denkmaschinen gibt, die in einer staunenerregenden Summe ausrechnen könnten, annährend wie viele Botschaften da gerade statistisch wahrscheinlich im Umlauf sind.
… Solche Fakten, am liebsten bezifferbar gebündelt haben Dich erkennbar fasziniert.
In der berühmtesten Inschrift der Antike[i], die lange verloren schien, bis ein habsburgischer Gesandter zur osmanischen Hohen Pforte sie 1555 an einer ehemaligen Kirchenwand - längst natürlich einer Moschee - in Ankara beinah vollständig entdeckte, … in diesem berühmten, zugleich pedantischen wie großmäuligen Verzeichnis Deiner Taten und Leistungen hast Du jede Erbse Deiner Erfolge gezählt, jedes Lorbeerblatt Deines Ruhms getrocknet, jede Unze und jedes Körnlein Deiner strategisch berechneten Großzügigkeit archiviert: Du warst das, was einer wie ich einen arithmetischen Fetischisten nennen würde. Unser vor zweihundertundfünfzig Jahren geborener Dichter Novalis (Du merkst, dass das Zählen sich als abendländische Ordnungsidee selbst im schöngeistigen Revier festgesetzt hat), hat zwar davon geträumt, dass einmal „nicht mehr Zahlen und Figuren die Schlüssel aller Kreaturen“[ii] sein mögen, aber die Handfestigkeit und Belastbarkeit des richtig Gemessenen, des schlüssig Potenzierten oder Projizierten und die unbestreitbare Nüchternheit des korrekt Multiplizierten oder Dividierten ist doch eine Basis der faktischen Wahrheit, die wir in lügenfreudiger Zeit zu respektieren wissen.
Darum bedenke ich Deine spröde Bilanz der eigenen - bald als göttlich verklärten - Errungenschaften denn auch wirklich mit äußerstem Respekt.
Du warst kein Hasardeur und Aufschneider wie so viele Möchtegern-Cäsaren unserer Tage, die nur heiße Luft und leider auch heiße Kriege aufwirbeln können. Du hast berechnet, was sich lohnend einsetzen lässt und was man sich rational lieber sparen sollte. In der Redeweise einer Zeit, die zu unserem Schmerz gerade historisch geworden ist, hat Dein Streben nach innerer Macht und äußerer Balance eine echte „Friedensdividende“ getragen: Dass Du stolz vermerkst, dass der zweitürige Janustempel, der nur bei reichsweitem, dauerhaftem Frieden symbolisch geschlossen werden durfte, in Deiner Herrschaftszeit dreimal eine feierliche Stilllegung erfuhr und damit einmal öfter als bis dato überhaupt ab urbe condita, … das fällt unter Deine sympathischen, Deine friedenspolitischen Züge. Und wie Du neben den 500 000 Mann, die auf Dich vereidigt waren, auch die 300 000 aufzählst, die Du als Soldaten im Ruhestand versorgt und in ihren Schrebergartenkolonien zur Ausbreitung der augusteischen Friedenszivilisation in den Provinzen angesiedelt hast, das ist beinah schon biedermeierlich gemütlich, wenn wir an die Gespenster der Mobilmachung und der Zwangsrekrutierung denken, die heute in Europas östlichen Breiten die Wirklichkeit dominieren.
Gewiss, Du hast auch Statistiken geführt, die selbst gut gelüftet nach zwei Jahrtausenden noch arg nach Selbstbeweihräucherung riechen: 600 von Deiner Flotte gekaperte Schiffe? - À la bonheur! Weihegeschenke aus Kriegsbeute im Wert von Hundert Millionen Sesterzen? - Alle Achtung! Auf eigene Kosten 26 mal Raubtierhetzspiele mit afrikanischem Großwild ausgerichtet, bei denen um die 3500 der Tiere erlegt wurden? - Solche Publikumsspektakel würden heute zu Shitstorms führen … oft schlimmer noch als Menschenjagden in den verdrängten Gewaltexzessen, die unsere Tage durchziehen.
Jedenfalls bist Du ein akribischer Protokollant aller Deiner Vorhaben, ihrer Umstände und ihrer Beteiligten gewesen. Dir entging wenig und was Du nur konntest, hieltest Du fest.
Allem voran Menschenzahlen.
Dreimal hast Du gezählt. Von 4063000 wuchs unter erkennbar gedeihlichen Umständen die Anzahl der römischen Bürger auf 4937000 bei der letzten Volkszählung, die Du befohlen hast.
Damals war ein Bürschlein gerade dabei ein Handwerk zu lernen, irgendwo in einem einfachen Dorf im Hügelland der bescheidenen Landschaft, die die Herodianer in Abhängigkeit von Dir innerhalb der Provinz Syria beherrschten. Solche Existenzen hat es viele, viele Millionen in Deinem Reich und Einflussgebiet gegeben. Unmöglich, dass Du auch nur Notiz von ihnen genommen hättest: … Den unsichtbaren Alltagsleuten, den leisen Randsiedlern, den ruhmlos sich nährenden, mühenden und schließlich verlierenden Massen.
Und dennoch: Du hast in’s Leben dieses einen Menschenkindes eingegriffen.
Während Du Dir eine Zeitlang als Vornamen den Begriff „Imperator“ zulegtest und den Caesaren-Namen Deines zum Gott erklärten Großonkels und Adoptivvaters trugst und schließlich den beispiellosen, altehrwürdigen Heiligkeitsnamen „Augustus“ - „Erhabener“[iii] - empfingst, hätte der Junge, von dem ich spreche, für Dich ewig anonym bleiben können. Selbst wenn Du seinen einseitigen Stammbaum (er war ja noch vaterloser als Du) je erfahren hättest – was Dir aus Gründen der Tribut- und Steuerpflicht vielleicht sogar einen Aktenvermerk wert gewesen wäre –, hättest Du Dich sofort wieder abgewandt. Du konntest sie ja nicht leiden, diese Ein-Gott-Plebs Judaeas. Deinem Enkel Gaius gilt Dein ausdrückliches Lob als er einmal an Jerusalem vorbeimarschierte und keinen touristischen Andachts-Abstecher dort einlegte, wie man es in Euren Tagen sonst üblicherweise in den spirituellen Kolonialgebieten tat[iv].
Aber, Augustus, dieser anonyme arme Junge, der auf eine von den Historikern nicht ganz einzuordnende Weise, die nur die Propheten und die Evangelisten verstehen, durch Deinen Zensus-Erlass an den vorherbestimmten Ort seiner Geburt versetzt wurde, … dieser von Dir nicht einmal mitgezählte Beifang der Bürokratie Deines Reiches, … Er ist es, der Dich im Gedächtnis der Welt lebendig erhält!
Sonderbar! Du hast so vieles einkalkuliert, so viele beherrscht, so umfangreich Buch geführt.
Doch dass Du heute Abend bei den griechisch-katholischen Christen in der leidgeplagten Dunkelheit der Ukraine genauso wie im Licht des Dir völlig unbekannten Australien genannt wirst, dass man sich Deiner in den nächsten Stunden in den Gottesdiensten entlang des Amazonas, des Ganges und der Donau erinnern wird, dass Du Analphabeten und Gelehrten noch heute vor Augen stehst, wenn sie von Rom hören, das verdankst Du dem übersehenen, dem nicht wahrgenommenen Kind, das inzwischen jeder Mensch kennt.
Für Deinen Weltruhm, für Dein Nachleben – sogar Dein wirkliches Leben in Ewigkeit – trägt also einer die Verantwortung, der auf ganz unvermutete, ganz andere Weise das wurde, was Du warst oder sein wolltest.
Er ist tatsächlich der Sohn eines göttlichen Vaters, so wie Du Dich gern nennen ließest, aber nicht durch juristische Adoption wie es bei Dir geschah und auch nicht durch das physisch-metaphysische Liebesspiel Eurer Mythologie, sondern auf eine für Dich viel provozierendere Art:
Du, als Zahlenmensch - als Pedant könnte man vielleicht sagen, oder als empirischer Systematiker - müsstest Dir die Haare raufen, wenn Du diesen x-beliebigen Menschen (Jesus heißt er übrigens) formell in ein Register eintragen lassen wolltest. Denn er zählt nicht nur für Einen und auch nicht als Zwei. Zwar ist er ein völlig gewöhnlicher Knabe gewesen, der zum Mann ohne erhabene Eigenschaften wurde. Was an Ihm ungewöhnlich war – wie er Menschen verstand und wie er Menschen wunderbar helfen und ihnen ihre Lasten und ihr Schicksal abnehmen konnte und wie er bis heute die Menschen liebt – das sind nicht seine Eigenschaften allein, sondern sie gehören Dem, Der mit ihm eins ist (vgl. Joh.10,30).
Ja, Augustus, das „Dogma“, das Du damals ausgehen ließest – denn so heißt im offiziellen Griechisch ja Deine Verordnung, dass Menschen zu den Wurzeln ihrer Herkunft zurückkehren sollten, um dann als individuelle Elemente in die Tabelle der patriarchalen Zahlenreihen eingeordnet, eingepreist zu werden – … dieses Dogma, das einfach jeden vollwertigen Menschen mit einer Ziffer verbindet und in dieser Klarheit fast digital anmutet (wo-von wir immer noch träumen) … nun, langer Rede kurzer Sinn: Dieses Dogma „Sag, wer Du bist und woher, und wir machen eine Zahl aus Dir!“ … an Jesus scheitert es!
Jesus ist eine Primzahl. Man kann ihn nicht durch Zwei teilen, er ist auch nicht zweierlei zu fünfzig Prozent, sondern in der Einheit seiner Person ist er ein zweifaches Ganzes: Wahrer Mensch und wahrer Gott.
Und weil er aus der von Dir - wahrscheinlich für ihre Einfachheit - verachteten Ein-Gott-Plebs Israels stammt, kann man als gesunder Ordnungsliebhaber nur völlig verzweifeln. Denn eine gescheite rationale Zahl kann man aus dieser Verbindung, die da waltet, auch nicht herausrechnen. Jesus ist kein Bruch, in dem Gott durch etwas Menschliches geteilt würde. Im Gegenteil: Gott ist ungeteilt in Jesus! Wollte man Jesus und Gott also zählen, um sie systematisch oder digital in irgendeiner Form abzuspeichern, dann kann man nicht „Der und Der“ sagen, also nicht das allersimpelste „Eins plus Eins“ anwenden, denn es bleibt beim unveränderten Singular. Gott ist kein zweites Mal in Jesus, Jesus kein zweiter Gott.
Für Deine imperiale Buchhaltung also das frustrierende Ergebnis, da keine doppelte Buchführung anwenden zu dürfen. Du hast nur einen Untertan übersehen, als Jesus anonym als Sohn des Joseph in der Steuerliste Bethlehems eingetragen wurde. Dass neben dem Jesus-Namen womöglich als zweiter noch „Der lebendige Gott vom Zion“ als dessen Vater in’s Bürgerverzeichnis der Provinz des Beamten Cyrenius hätte eingetragen werden müssen, trifft’s also nicht. Es sind nicht zwei, nur einer.
Und doch warst ausgerechnet Du der absehbar zu vergottende Kaiser, gerade als Gott Mensch wurde! Eure Wege beschreiben erkennbar den größten Gegensatz. …….
Aber nun es kommt noch schockierender, lieber Augustus! Nun endet Dein ganzes Herrschaftsinstrument der Bürokratie sinnlos. Denn das Zählen – Dein aus heutiger Sicht unvollständiges, zutiefst exklusives Zählen, das nur eine bestimmte Auslese von Männern einschloss und für Frauen, Unfreie und Fremde genausowenig eine Kategorie besaß wie für Kinder, Krüppel oder Kranke – … Dein ganzes Zahlenwerk also ist inhaltsleer und falsch!
Wenn Du Dich wirklich für Menschen interessiert hättest, für ihr einzelnes, gewöhnliches, verborgenes, kleines, trauriges, heiliges, graues, aber für den Blick der Liebe dennoch leuchtend-kostbares Leben, dann hättest Du kein Dogma gebraucht, das die Wehr- und Wahl- und Zahlungsfähigen inventarisiert, sondern es hätte Dir ein einziges Menschenkind genügen können: …. Das übergangene Kind, das durch die Logistik Deiner Volkszählung ganz außerhalb jeder Menschlichkeit geriet und in einem Stall zwischen den Viechern und ihrem Unrat geboren wurde!
Denn auf dieses Kind, diesen Jesus aus Davids Haus bezieht sich ein Dogma, das Gott selber hat ausgehen lassen. Es lautet: In ihm sollen alle – wirklich alle!, … das inklusivste „ALLE“, das es geben kann – mitgezählt und mitgemeint, mitgewollt und mitgeliebt sein.
Keinen Menschen in all seiner Besonderheit, seiner Je-Einzigkeit und seiner unbezifferbaren Vielseitigkeit, … keinen Menschen in seiner Einsamkeit, seinem Infrage-Gestellt-Sein, seiner sterblichen Begrenztheit, … keinen Menschen irgendwo und jemals, … keinen erzwungenen Kämpfer auf ukrainischer oder russischer Seite, keine entmündigte Frau in Afghanistan oder im Iran, keinen Schwulen in Uganda oder Qatar, keine christliche Ordensfrau in Pakistan oder Myanmar, … niemanden im Norden wie im Süden, … niemanden - ob im Luxus oder im Elend -, … niemanden voller Frömmigkeit, voller Zweifel, voller Gleichgültigkeit, … niemanden, der lebt oder gestorben ist, … niemanden sieht Gott nicht in Jesus, in niemandem erkennt Er nicht Sein über alles geliebtes Kind!
Zähle also nicht die Menschen, Augustus, und unterscheide sie nicht nach Deinen Gesichtspunkten. Sie gehören zusammen. So wie auch Du zu uns und in Deiner Größe und Deiner Blindheit, in Deiner Lebensleistung und in Deinem Tod in keine andere Rubrik ge-hörst als jene, die Weihnachten eröffnet hat: „DASS ALLE WELT GESCHÄTZET WÜRDE“ … von Gott, Der sie so liebt, dass Er sie nie preisgeben, sondern aus der Not und dem Tod erlösen wird.
Aber das weißt Du nun längst.
Und kennst Den, Der Dich liebt und beim Namen ruft.
Jesus heißt Er. Und in der Mitte der Zeit, in ihrer tiefsten Stille … jetzt … ist alles in Ihm eins … und gut.
In dieser Verbundenheit des Segens Des von Dir Übersehenen, Der Einer ist und Alle:
Salve Augustus! … Sei erlöst wie wir – durch Jesus!«
[i] Die „Res Gestæ Divi Augusti“, auf die sich dieser Brief ständig (ohne nähere Verweise) bezieht, liegen greifbar vor in der Ausgabe der „Sammlung Tusculum“: Augustus, Meine Taten – nach dem Monumentum Ancyranum, Apolloniense und Antiochenum, hgg. v. Ekkehard Weber, Ausgabe: Darmstadt 19996.
[ii] Die programmatischen Zeilen von Novalis finden sich in seinem Romanfrgament „Heinrich von Ofterdingen“; hier sind sie frei zitiert.
[iii] Vgl. hierzu: Ronald Syme, Imperator Caesar: Eine Studie zur Namengebung, in: AUGUSTUS (Wege der Forschung Bd. CXXVIII), hgg. v. Walter Schmitthenner, Darmstadt 1985, S. 264 – 290.
[iv] Vgl. dazu Sueton: Cäsarenleben hgg. u. erl. v. Max Heinemann (Übersetzung: M. Ihm), Stuttgart 1957, S.148.
2. Adv., 04.12.2022, Hoheslied 2,8-13, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
es ist Advent. Diese Zeit ist viel mehr als ein bloßer Auftakt zum Weihnachtsfest. Sie schenkt uns einen Neuanfang mitten im Alten. Ihre Einladung an uns lautet: auch wenn alles zu Ende zu gehen scheint – es dunkler wird und kälter, die letzten Blätter von den Bäumen fallen – es ist bereits etwas Neues im Gang und im Schwange. Sie erinnert uns: der Tag endet nicht mit dem Abend, sondern er beginnt mit dem Abend und führt uns in einen neuen Morgen.
Insofern passt es einfach, meine Entpflichtung im Advent zu feiern. Dankbar zurückzublicken und dann voller Erwartung auf das Neue zuzugehen, das mitten im Alten aufwächst. Zu feiern, dass das hier in Kaiserswerth so möglich ist – wie es im Eiskunstlauf ja auch vorgegeben ist: zuerst das Pflichtprogramm und dann die Kür.
Und es passt auch, dass die Neufassung der Perikopenordnung für den heutigen 2. Advent einen Text vorgelegt hat, der mir in den vergangenen 38 Jahren meiner Berufstätigkeit noch nie als Predigttext begegnet ist. Und er passt einfach wunderbar in diesen besonderen Tag.
„Horch! Mein Geliebter! Sieh da, er kommt. Er springt über die Berge, hüpft über die Hügel. Der Gazelle gleicht mein Geliebter, dem jungen Hirsch. Sieh da, er steht hinter unserer Mauer, er blickt durch die Fenster, späht durch die Gitter. Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch! Denn vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen. Die Blumen erscheinen im Land, die Zeit zum Singen ist da. Die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land. Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte, die blühenden Reben duften. Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch!“ (aus der Einheitsübersetzung)
Dass das Hohelied Salomos es in den Kanon Israels und in den Kanon der christlichen Bibel geschafft hat, ist fast ein kleines Wunder zu nennen; denn genaugenommen ist es kein religiöser, geistlicher Text, sondern ein profanes Liebeslied, das die sinnliche Liebe feiert – losgelöst von allen kulturellen und religiösen Ordnungen – die Liebe zwischen zwei Menschen, zwischen einer Frau und einem Mann. Das Hohelied feiert die Liebe, und die Liebe, die ist nie nur profan, sondern in ihr teilt sich Gott selbst mit. Und so haben dann durch die Jahrhunderte auch die Auslegenden des Hoheliedes die Personen allegorisch gedeutet: individuell auf Gott oder Christus als den Geliebten und die Seele des Menschen als die Geliebte, oder kollektiv die Geliebte als das Volk Israel bzw. als die Kirche angesehen.
Keine Angst, diese allegorischen Pfade werde ich nicht weiter bemühen, das könnte dann eher zum Karnevalssonntag passen. Mir ist da ein anderer Gedanke gekommen in Anlehnung an die jüdische Tradition, in der das Hohelied in der Synagoge im Frühlingsmonat Nisan zum Pessach-Fest gelesen wird. Das Fest, in dem Israel die Befreiung und den Auszug aus der ägyptischen Sklaverei erinnert und feiert. Befreit von Gott, der die Not seines Volkes gesehen, ihre Schreie gehört hat und sich ihm voller Liebe zugewandt hat.
Befreiung – Auszug - Liebe, das sind wesentliche Momente, die in den Versen des Hoheliedes aufleuchten. Ein Geschehen, das nicht nur vor unseren Augen in einer weit entfernten Vergangenheit abläuft, sondern in das wir einbezogen sind mit unserer Existenz heute im Jahr 2022. Es geht mir um die Dynamik, die jedem Leben innewohnt, die Möglichkeiten, die sich bieten und die wahrgenommen werden wollen – allen Hindernissen zum Trotz.
Um dieser Dynamik in uns und um uns herum auf die Spur zu kommen, ist es hilfreich, die Geschlechter der Personen einmal außen vor zu lassen. Es geht einfach jeweils um einen Menschen. Jeder und jede kann sich so mit ihm identifizieren.
Was das Geschehen bestimmt, das ist die Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem Geliebten, nach der Geliebten, die Sehnsucht nach einem glücklichen, erfüllten Leben, denn dafür steht die Liebe. Diese Sehnsucht teilen alle Menschen miteinander, egal welchen Geschlechtes und egal welcher Kultur und Religion. Und diese Sehnsucht teilt auch Gott. Er sucht unsere Liebe, unsere Nähe, unser Entgegenkommen. Nichts anderes feiern wir Weihnachten. In unserem Predigttext ist es allerdings noch nicht so weit, dass sich die Liebenden in den Armen halten. Die Sehnsucht ist da, sie ist auf beiden Seiten groß, aber ein entscheidender Schritt ist noch zu tun: der eine sitzt im Haus, ist drinnen – der andere ist draußen, vor dem Haus. Die eine horcht nach draußen – die andere ruft draußen und hofft, gehört zu werden. Der eine sitzt am Fenster und sieht den anderen kommen – der andere ruft „Steh auf und komm doch!“ Zwischen beiden ist eine Mauer, und das Fenster, das den Blick nach draußen wie nach drinnen ermöglicht, ist vergittert. Wie können beide zusammenkommen?
Aufgrund der biblischen Erzählungen ist klar: der, der drinnen sitzt, oder die, die drinnen sitzt, muss sich bewegen, muss aufstehen, muss hinaus – Exodus, Befreiung, Auszug. Erfülltes Leben kann nicht hinter Mauern gedeihen. Erfülltes Leben braucht Freiheit, braucht Bewegung an frischer Luft.
So gemütlich man es sich auch zu Hause, in seinen Traditionen und Gewohnheiten, in seinen Vorstellungen und Vorlieben eingerichtet hat, so sicher und geborgen man sich darin auch fühlen mag – erfülltes Leben ist darin nicht zu finden, denn Gott ist ein Gott, der unterwegs ist – durch die Zeiten, durch die Geschichte, in allen Kulturen anzutreffen, in allen Religionen – erfüllt von der Sehnsucht nach uns Menschenkindern. Er lockt uns: „Steh auf, meine Freundin, mein Freund, so komm doch! Denn vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen. Die Blumen erscheinen im Land, die Zeit zum Singen ist da.“
Liebe Gemeinde, das ist Adventszeit pur, vielmehr: Advent mit einem gehörigen Schuss österlicher Zuversicht: aufstehen, auferstehen, herausgehen aus den alten Gemäuern, von Gewohnheiten, Vorstellungen, Traditionen und Dogmen, die vielleicht mal Wegemarkierungen in die Freiheit waren, aber die es heute nicht mehr sind und sein können, weil sich die Erde weitergedreht hat und vor allen Dingen: weil Gott weitergegangen ist. Er ist nicht drinnen, er ist draußen und ruft: „So komm doch!“
Aufstehen, auferstehen, herausgehen – die Freiheit, die lockt, macht vielen auch Angst. Das Neue ist noch nicht greifbar, die blühenden Reben duften zwar, aber Trauben sind noch nicht zu sehen. Aufstehen, auferstehen, herausgehen, mit Gott Hand in Hand, mit lieben Menschen Hand in Hand, nicht in einer fernen Zukunft, sondern jetzt, hier und heute – das ist erfülltes Leben, darin lebt die Liebe.
Liebe Gemeinde, zu diesem Leben sind wir eingeladen. Zu einem Leben in Verbundenheit und Freiheit. Wir können und dürfen Neues entdecken, zum Beispiel wieviel Gemeinsamkeiten es gibt zwischen den Religionen und Konfessionen, wie sehr alles immer nur darauf ankommt, ob die Sehnsucht in den Herzen und Gedanken der Glaubenden von der Macht der Liebe genährt wird oder von der Liebe zur Macht. Ich habe in den vergangenen Jahren nicht nur den Duft der blühenden Reben wahrgenommen, sondern in vielfältiger Weise erleben können, dass erste Früchte herangereift sind am Feigenbaum der Ökumene, im vertrauensvollen und bereichernden Miteinander mit den Frauen der kfd, im gemeinsamen Engagement in der ökumenischen Flüchtlingshilfe und der Hospizarbeit, in der ökumenischen Zusammenarbeit mit dem Schulseelsorger und der Schulleitung des Suitbertus Gymnasiums. Wobei der Feigenbaum der Ökumene noch ordentliche Düngung und einen gut aufgelockerten Boden braucht, um die Früchte zu bringen, die sein Schöpfer von ihm erwartet.
Wir können und dürfen Neues erwarten und entdecken. Wir dürfen Großes erwarten und hoffen, denn Gott kommt uns entgegen, unsere Zukunft ist seine Zeit und Gegenwart. Und das macht mir Mut, von einer geschwisterlichen Gemeinschaft aller Glaubenden zu träumen, in der wir unter einem Dach jede und jeder in der Weise, wie er oder sie es erfahren hat, in jeweils ihren Ritualen ihren Glauben lebt und bekennt, voller Dankbarkeit für die Vielfalt, in der sich Gott durch die Zeiten seinen Menschenkindern erfahrbar gemacht hat. Warum nicht in der Mutterhauskirche – wo doch Gott als Mutter alle ihre Kinder in ihrem Schoß sammelt oder wie eine Henne alle Küken unter ihre Fittiche nimmt.
Der Buntheit des Lebens entspricht die Buntheit des Glaubens. Entscheidend ist immer nur eines: die Liebe, die die Freiheit und Würde jedes Menschen achtet.
Wie es der muslimische Mystiker Rumi formulierte: „Von allen Religionen unterscheidet sich die Religion der Liebe. Wer liebt, hat den Weg zum Glauben gefunden.“
Nein, in den Ruhestand werde ich nicht treten. Schon gar nicht mich zur Ruhe setzen. Ich möchte den Ruf hören und ihm folgen: „Steh auf, meine Freundin, so komm doch!“ Und ich möchte ihn weitergeben: „Steht auf, meine Freundinnen, meine Freunde, so kommt doch!“ Es gibt noch viel zu tun – gehen wir es in Freiheit und Verbundenheit gemeinsam an. Amen.
2.Advent, 04.12.2022, Stadtkirche, Hoheslied 2, 8 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 4.XII.2022
Hoheslied 2, 8-13
Liebe Gemeinde!
Vor Sätzen, die behaupten, dass dies oder das „frei macht“, kann man in Deutschland nur auf der Hut sein: Die Tore von Sachsenhausen, Theresienstadt und Auschwitz mit ihrem zynischen Missbrauch einer Befreiungssentenz stehen allzu mahnend vor Augen. … Aber auch - was die sog. Humanisten und Freidenker immer geflissentlich vergessen - die Erinnerung an die Morde und die Toten, die die „Aufklärung“ forderte: Im revolutionären Frankreich reimte sich „Liberté“ für viele Menschen auf Schafott. Und am 24.Februar dieses Jahres fing im christlich-humanistisch-liberalen Abendland ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, das als Befreiung von den Nazis begründet wurde und das von der „freien“ Welt doch nur insoweit geahndet wird, als es die eigene Unversehrtheit nicht allzu dramatisch auf’s Spiel setzt. … Freiheit und Blutvergießen, Freiheit und Schuld sind also nicht weniger paradox verschwistert und verkettet als es Glaube und Gewalt, Evangelium und Ausbeutung fatalerweise immer wieder waren. —
Aber weder von der Freiheit noch von der christlichen Botschaft können oder werden wir je schweigen. Sondern immer weiter versuchen, sie reiner, weniger kompromittiert, weniger vergewaltigt zu verbreiten und zu befolgen.
Immer reiner also, immer klarer wollen wir von beidem sprechen: Von Freiheit und Glauben.
Am besten kann das vielleicht gelingen, wenn wir sie nicht absolut nehmen: Freiheit ist genauso wenig ein höchstes Gut an sich, wie es der Glaube wäre. Freiheit misst sich am „Wozu“, Glaube misst sich am „Woran“, … soviel haben wir verstanden. … Aber dass sie beide einen gemeinsamen Nenner haben, auf dem sie beruhen und der sie tatsächlich auch formt, das können wir heute auf die ursprünglichste Weise lernen:
Wenn wir nämlich auch keine Protokolle aus dem Paradies, keine Dokumentation von Eden besitzen, wo Mensch und Menschin frei und unmittelbar zu Gott – also im Schauen, das das Glauben noch übertrifft – existierten, so haben wir doch ein Stück Urstand, ein Stimmenbild aus der heilen Erstzeit des Geschaffenen in der Bibel: Es ist das „Hohe Lied“, der salomonische Gesang vom Glück der Liebe.
Wie im Hohenlied Menschenwünsche nach Menschen und menschliches Verlangen nach Menschlichem sich äußern und erinnern, wie dort tastend und fassend das Geheimnis des guten „Nicht-Allein-Seins“ ausgelotet wird, wie Schmachten und Erfüllung da erfahren werden, das gehört zum unmittelbarsten Reichtum unserer Art: … Was Leib und Seele sind, wie schön das Leben ist, wie zart und wild das Herz und alle Triebe der Menschen auf den Menschen reagieren können, das kann man dadurch alles in der Heiligen Schrift erleben und erlernen. Da braucht es weder Tanzkurse, die den Anstand, noch Therapiesitzungen, die das Gefühle-Zulassen lehren, sondern da passiert spontan und naturrein, was keineswegs ein bloßes Relikt der versunkenen Hippie-Ära ist: Freie Liebe.
… Nicht partnertauschende, nicht unersättliche, nicht erosfixierte Gier zeigt sich da, sondern das befreiende Wunder, das die Liebe ist.
Liebe im segensreichsten Sinn ist ja das, was wirklich über die eigenen Grenzen hinausführt: Sie vermag das totale Ich, das so gern herrschen will, zu verändern, indem sie drüber hinauswächst. Liebe - „freie Liebe“ - bedeutet, dass die Fessel meiner Ego-Angst, meiner Ego-Sucht, meiner Knechtschaft unter dem Ego sich löst und die wunderbare Offenheit für das Du sich einstellt und die freie Neigung, sich einem anderen anzuschließen, sich aus freien Stücken anzuvertrauen und antwortend auf die Regungen des Nächsten sich verantwortlich zu machen.
Die Freiheit der Liebe ist also wortwörtlich die Freiheit zu solcher Bindung.
Und da sie das Überschreiten der Selbst-Beschränkung, das Überschreiten der Ich-Schranke ist, hat sie tatsächlich in ihrem Wesen diese Bestimmung zum Jenseits-des-Ich, eine „jenseitige“ Bestimmung also.
Darum ist es auch keine Willkür, sondern psychologisch sinnvoll und authentisch, wenn in Judentum und Christentum die letzte Bestimmung und die letzte Erfüllung der Liebe in der Transzendenz, … im Verlangen nach, im Hängen an und im Bund mit Gott gesehen wird. —
Liebe eröffnet Freiheit zur Bindung, sagten wir; und also führt sie in letzter Konsequenz, wenn sie die Öffnung zu dem ist, was jenseits der eigenen Beschränkungen, Bedingungen und Bedingtheiten liegt, … und also führt sie in letzter Konsequenz schließlich zum Glauben selbst.
Das also ist die Gemeinsamkeit von rechter Freiheit und echtem Glauben: Beide ergeben sie sich aus der Liebe. ———
Darum aber ist es in diesen adventlichen Wochen der Gottesvorbereitung, … in diesen Wochen, in denen die Kirche sich wie eine Schwangere darauf vorbereitet, dass eine Bindung entsteht, die ihr Leben in der Tiefe verändert, nur angemessen, aus dem Hohen Lied zu hören, wie wartende Liebe sich auf die ersehnte Ankunft des Geliebten einstellt.
Herzklopfen hat sie, die Wartende. Und es fährt ihr durch die Glieder, wenn sich die bewegte Gestalt und die bewegende Stimme des Liebsten allmählich aus der unklaren Entfernung vergegenwärtigen.
……. Diese Hochstimmung vor dem Rendezvous, dieses Lebendig-Werden vor der ersehnten Begegnung, gehört buchstäblich zu den höchsten der Gefühle. Der akuten Erfahrung nach ist das für uns natürlich allenfalls ein Ausnahmezustand für Verliebte; dem Sinn nach aber könnte nichts angemessener die besondere Adventssituation des Glaubens beschreiben: Wir schweben in der Erwartung eines tief berührenden, alles entscheidenden, das Leben verändernden Zusammentreffens! Jedes Adventslicht hat - so betrachtet - etwas von der berühmten Laterne Lili Marleens. Was könnte herrlicher sein, als die Aussicht auf’s Wiedersehen in ihrem geheimnisvoll-heimeligen Schein?! …Was könnte herrlicher sein, hier in der Kaserne?! Was könnte herrlicher sein, als das, wenn in der Welt wieder Krieg ist und Winter und wenn der Frost und der Hunger und das Töten eigentlich nur Abschied und Schluss machen wollen. … Was könnte herrlicher sein, als die Erwartung des Wiedersehen?! …..
… Und dann kribbelt es, als sich die Blicke treffen: Er noch von außen, sie ganz eingefügt und festgelegt im Inneren des Lebenskreises, aus dem ein Mädchen im Orient damals nicht ausbrechen soll. ……. Oder doch?
Er blickt durch das Gitter. …
… Auch durch mein Gitter und unsere Sperranlagen, … durch all unsere Maschen und alles Verdrahtete, durch alles, was wir festgezurrt und abgezirkt haben, … durch alle kleinen Karos und Kästchen, ja, durch die Bretter vor unserm Kopf und die Schlösser vor unseren Gedanken. Er durchschaut unsere Sicherheitsmaßnahmen, die die Dinge so abschließend ordnen, weil wir Angst vor der Weite, … weil wir eigentlich einfach nur Angst vor der Liebe haben!
Er, der von außen Kommende, der weltweit Bewegte und die Welt Bewegende sieht glatt durch dies Absperrgitter unseres engen Wesens hindurch. …
Und da passiert’s im Hohenlied: Da bricht die Liebe durch, und sie bricht durch zur Freiheit! Frühlingsgefühl und „Winter Ade“; Locken und Kitzeln und ein jenseits aller Konventionen ertönender Ruf: „Komm raus in’s Freie, meine Geliebte, meine schöne Freundin: Ich freie Dich, … Ich befreie Dich! Meine geliebte Menschheit: Ich, Der Ich die leibhaftige Liebe Gottes bin, Ich komme auf den Freiersfüßen des Erlösers und führe Dich in die schrankenlose Offenheit der freien Liebe, die Gott und Welt verbindet, die die Menschheit und die Gottheit verbündet, die die Hassenden und Schuldigen mit der Gnade und der Gerechtigkeit versöhnt! Steh auf und komm mit! Steh auf, … auch wenn Du Angst hast! Steh auf, … auch wenn Du’s nicht darfst oder nicht wagst, es zu dürfen! Steh auf und komm’ mit: Wer soll Dich aufhalten und uns scheiden? Der Tod oder das Leben? Engel …, Mächte …, Gewalten? Gegenwärtiges oder Zukünftiges? Hohes oder Tiefes oder irgendeine andere Kreatur (vgl.Rö.8,38f)? Komm mit, Du Geliebte Gottes, … komm mit in die Freiheit der ersten und letzten, der immer schon wirkenden und der in Ewigkeit währenden Liebe!!“
Und die Gitterstäbe des Serail, die Grenzen der selbstgewählten Festlegungen und der beklemmenden Aussichtslosigkeit können nicht mehr halten: Die Liebe macht tatsächlich frei!
Die Begegnung mit dem Gott, Der kommt, um Sich die Menschheit zu lösen aus ihrer Verschlossenheit in sich selber und sie anzustecken mit Seiner hindernislosen All-Liebe, … diese Begegnung weckt Mut und Lebenslust und führt das versklavte Israel genauso wie die verfolgte Kirche …ja, auch noch die träge, Diesseits-verhaftete Christenheit von heute hinaus und hinüber in’s Leben, in’s Offene, in das, was da jenseits ist: „Steh auf, ich stehe vor der Tür! Komm’ mit, wir wollen der Zukunft der ganzen Welt und jeder Seele und des einen Reiches, das kommt, entgegenziehen und sie zusammen erobern!“
Dieser angstschmelzende und herzbewegende, dieser pulsierende, elektrisierende Ruf zum Leben ohne Grenzen ist das Gegengift und der Gegenangriff gegen die sämtlichen Lähmungen und Erstickungen, die Herzen und Hoffnungen in unserer Zeit betreffen: Der Liebhaber der Welt, der Liebhaber des Lebens (vgl. Weisheit Salomos 11,26) fordert seine Braut – uns also, die Menschheit, die Ihm traut, die an Ihn glaubt – dazu auf, außerhalb der bewährten Bezirke Ihm auf Wegen zu folgen, die nicht vorgegeben, sondern gewagt sind. Er will – so wie die Freundin im Hohenlied auf jede Schicklichkeit pfeift und mit ihrem stürmischen Freund allen Konventionen Lebewohl sagt und raus in’s Freie strebt – … Er will, dass wir das Unbekannte wagen, … das, was angeblich nicht sein kann und nicht funktionieren wird: Das Experiment eines schlicht zuversichtlichen Herzens und einer ungebremsten Bereitschaft zur Zukunft mit Ihm. ———
Um von solchem Lebensmut und einer derart vitalen, unanfechtbaren inneren Kühnheit der Liebe bewegt zu bleiben, haben Christen zu allen Zeiten nicht nur den Bräutigam, sondern auch die Braut, nicht nur den befreienden Gott, sondern auch die von ihm befreiten Menschen gefeiert.
Wir wollen uns ihnen heute darin anschließen, indem wir uns – im Wissen um die schreckliche Not des ukrainischen Mord-Winters, des jemenitischen Hungerkrieges, der iranischen, der russischen und chinesischen Unterdrückungsherrschaft – heute zu den ältesten und bedrohtesten Geschwistern unseres Glaubens gesellen. Sie sind in ihren angestammten Heimaten, in den ältesten christlichen Landstrichen, den ehrwürdigsten Patriarchaten und Diözesen der Kirche in einen Strudel der Verdrängung, der Verfolgung, der Ausrottung gerissen worden, der uns eigentlich nicht ruhig schlafen lassen darf: Im ganzen Vorderen Orient, wo das Christentum seine ersten Wurzeln hat, leiden, fliehen und verschwinden in diesen Jahren die letzten Christen. … Der Glaube, der unwiederbringlich Vergangenheit werden soll: Unser Glaube!
Aber am heutigen Tag feiern sie in den palästinensischen und den syrischen Kirchen, im angefochtenen Libanon und in der seit dem Armenier-Genozid beinah „christenreinen“ Türkei eins ihrer größten Feste: „Eid il-Burbara“, … den Tag, an dem die befreiende Liebe Gottes sie mit solcher Courage beflügelt wie Barbara von Nikomedien im 3.Jahrhundert.
Barbara war die behüteteste höhere Tochter, die sich denken lässt, vom Vater um ihrer Schönheit willen und im Namen ihrer Unschuld in einem Turm eingekerkert, … so wie viele von uns, ja unser ganzer Kontinent aus Angst vor fremder Lust und Gier am liebsten Zäune ziehen und Mauern bauen und verriegelte Freiheit ihrem Gegenteil - der aufgeschlossenen Freiheit - vorziehen.
… Doch welche die Liebe trifft, die sind nicht zu halten. Auch nicht von den väterlichen Schranken. Barbaras Gedanken an den Gott der Liebe, dem sie in Christus ihr Herz und Leben schenkte, zerrissen die Schranken und Mauern entzwei. … Und sie war frei. Wie ein Vogel. Auf der Flucht vor denen, die nicht zulassen konnten, dass Christus sie hingerissen hatte wie der Freund des Hohenliedes die Freundin. Barbara türmte buchstäblich und suchte ganz buchstäblich mit Christus das Weite, das Leben. Man jagte sie wie das Wild, und weil sie nach der östlichen Legende ihr Kostüm andauernd wechselte, verkleiden sich heute die christlichen Kinder in den palästinensischen und syrischen Flüchtlingslagern und spielen das Abenteuer der Frau nach, die nichts mehr aufhalten konnte, weil sie die Liebe ihres Lebens gefunden hatte, Der zugleich die Liebe zu allem Lebendigen ist und Dessen Liebe nie aufhört. Die chaldäisch und maronitisch getauften Kinder ziehen von Haus zu Haus und betteln um Süßes, und es ist ein Schabernack für sie, dass man so unverschämt sein darf.
Für Barbara aber war es die reinste Wahrheit, dass Furcht, Scham und Fesseln, dass Angst, Qual und Sterben ihr nichts mehr anhaben konnten. Als sie einmal über den Acker floh, wuchs die frische Saat über ihren Spuren so schnell, dass man ihren Weg dort nicht weiter verfolgen konnte: Die arabischen und türkischen Christen säen deshalb heute Weizenkörner, Kichererbsen oder Linsen auf kleine Wattelagen und werden das raschsprossende junge Grün in zwanzig Tagen schon um die Krippe stecken, so wie im Westen heute Zweige geschnitten werden, deren Knospen bis zur Christnacht in Blüten aufgehen und den endlosen Frühling des Hohenliedes bezeugen, der beginnt, wo der Freund zur Freundin, wo der Himmel zur Erde, wo Gott zu uns kommt, die wir für Ihn bestimmt sind.
Das rauschhaft fröhliche Fest der befreiten Barbara, die aus der Enge in die Weite, aus dem Verließ in die Begegnung, aus dem drückenden Schmerz in das Glück ziehen durfte, das ihr das Martyrium nicht nehmen, sondern nur besiegeln konnte, … dieses „Eid il-Burbara“-Fest, diese Freiheitsfeier der Liebe, … Freiheit der Liebe, die zum Glauben kommt: Es stellt uns den Advent unnachahmlich plastisch vor Augen!
Von unseren verfolgten, bedrohten, aussterbenden und heute dennoch so unbeschwert lachenden Brüdern und Schwestern sollen wir es lernen: Wenn Der kommt, Der jeden Einzigen von uns so liebt, wie man nur lieben kann, dann werden auch wir von allen feindlichen Mächten und alten Gewalten frei, und in der Freiheit wartet auf uns der Glaube. … Wartet darauf, dass wir lieben, wie wir geliebt sind!
Amen.
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