Trinitatis, 12.06.2022, Stadtkirche, Römer 11,33-36, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 12.VI.2022
Römer 11, 33-36
Liebe Gemeinde!
Sherlock Holmes und Miss Marple, Pater Brown und Kommissar Maigret, Emil Tischbein und Kurt Wallander - von den Schimanskis, den Lindholms oder Odenthals, den Batics und Leitmayrs, den Ballaufs und Schenks, den Thiels und Professoren Boerne ganz zu schweigen - … diese Detektive und Inspektoren sind langfristig ohne jeden Zweifel sämtlich gut für den Blutdruck: Zwar muss man Schock und Spannung, muss Hängen und Würgen aushalten und ein bisschen Gänsehaut, ein wenig Zittern und stockenden Atem ertragen, aber wenn der Buchdeckel zugeklappt, der Abspann vorübergeflimmert ist, dann ist die Sache geritzt. Der Fall findet seine Lösung. Das beruhigt die Nerven schließlich mehr, als der ganze Krimikitzel sie bewegt hat. Und darum schläft Deutschland am heiligen Sonntagabend so gern auf dem Tatortsofa ein.
… Mord und Mystery machen uns Spießer zufrieden, weil sie am Ende ordentlich geklärt werden. … Und Ordnung muss nun mal sein. Lösungen müssen her. Klarheit soll herrschen. Der Müll wird sortiert und jedes Rätsel mit Geduld und Spucke eingespeichelt, bis es der widerstandslose Brei ist, mit dem wir am besten fertigwerden. Mag also auch die Schale rauh sein: Im Kern erwarten wir immer nur Weichheit.
… Wo kämen wir auch hin, wenn die Dinge hart und unrund blieben, wenn sie ihren Stachel, ihre unnachgiebige Verschlossenheit nicht schließlich doch aufgäben? … Was wäre das für eine Welt, in der die Nüsse sich nicht knacken lassen, in der das Unverständliche nicht vernebelt und das Erschütternde nicht kleingeredet, wegretuschiert oder den Dummen überlassen wird, die nicht kapieren, dass man sich seine Wirklichkeit aussuchen kann, wenn man nur ein bisschen gewieft ist?!
Machen wir’s uns also weiter gemütlich. Alles andere ist schließlich nervenaufreibender als jeder Krimi es sein könnte!
……. Unlösbare Fragen, nicht aufzuklärende Fälle? … Eijeijei.
Wo Schwierigkeiten unlösbar sind, bieten sich ja doch nur drei Möglichkeiten: Endloser Kampf, unversöhnte Kapitulation oder demütige Unterwerfung. Alle drei dieser schrecklich nach der militärischen Wirklichkeit unserer Tage klingenden Optionen sind aber erkennbar bitter.
Wenn die Ukrainer bis zum Untergang kämpfen müssten, wäre es genauso tödlich wie ein vergeltungsträchtiges Besiegt-Werden; und ein hingenommener Waffenstillstand, dem die Fremdherrschaft eines barbarischen Tyrannen folgte, wäre ebenfalls katastrophal. ——
Gibt es also keine Alternative, als bloß die leichte Schulter oder die tragische Ergebung in’s Verhängnis, wenn es um die Sackgasse geht, in die die Welt oft führt?
Zunächst müssen wir uns wohl daran gewöhnen, dass wir tatsächlich in einer Klemme sitzen:
Da machen die einen sich die letzten sonnigen Tage - schließlich könnte es nächstes Jahr sogar wieder Zinsen geben!!! -, eh die Zerstörung der Welt mit Wucht losgeht, noch einmal dekadent nett, während die andern längst betrogen und entwurzelt im gestaffelten Verderben stecken. … Aber etwas Verzicht auf exotische Cocktails am Pool oder ein paar agile Gerettete, die vor dem Tsunami vorübergehend nochmal Boden unter die Füße kriegten, die sind ja nun weder so noch so die Lösung. … Keine Lösung also, nur Komplexität. …….
Oder in der anderen Frage, der augenblicklich akuteren, die uns bewegen muss: Pazifismus ist keine Lösung im Angesicht real-radikaler Aggression, und die dringend nötigen Waffenlieferungen sind keine Lösung für die Gemeinde dessen, der in der Bergpredigt die Friedfertigen seligpreist. Wer also selig werden will auf dem Weg der Friedensethik, wird blutig schuldig, weil er lebensnotwendige Hilfe verweigert, und wer schuldig wird auf dem Weg der konkret gebotenen Verantwortung, der kann nicht die Seligkeit der wehrlosen Kinder Gottes erwarten. Die politische Tatenlosigkeit und Verzögerungstaktik aber versündigt sich sowohl am Gebot wie am Evangelium. … Keine Lösung also, nur Komplexität! …….
… Und kein Bienzle und kein Bond, die mit ihrem untrüglichen Gespür das Verworrene auseinanderpflücken bis alle Enden glatt sind und sich die unumstößliche Auflösung zeigt. ——
Ein solches frustrierendes Lebensproblem hatte nun auch Paulus: Seit Damaskus, seit der von Saulus verfolgte tote Betrüger von Golgatha ihm als die lebendige Wahrheit vom Himmel her in die Quere gekommen war, konnte der Weg des Paulus nicht mehr logisch verlaufen. Sein neues Ziel war für seine alten Lehrer die schlimmste Verirrung; was er erreichen wollte, sahen fast alle seiner Genossen als reine Zerstörung an; die er zum Heil rufen wollte - seine geliebten Blutsverwandten und Glaubensbrüder - argwöhnten seinen völligen Abfall. Paulus, der leidenschaftliche Pharisäer, der Frömmste der Frommen erschien denen, die er retten wollte, als Verderber, und denen, für die er warb, war er unheimlich. Die Jünger des gerechten und wunderwirkenden Jesus von Nazareth zweifelten an ihm, und die anderen Schüler des weisen und gerechten Lehrers Gamaliel in Jerusalem verzweifelten an ihm. …
… Wer sollte den Knoten lösen? … Wer sollte das Rätsel entwirren?
Den Heiden bot er das Heil Israels an, das viele gar nicht suchten, und den Juden konnte er ihren Messias nicht vermitteln, obwohl der ihn doch gefunden hatte.
Komplexer, irritierender, frustrierender geht es auch in unserem Leben und Denken nicht zu;
widersprüchlicher stehen Wollen und Vollbringen, Problembewusstsein und Lösungsmöglichkeiten auch bei uns nicht in Spannung zueinander. ——
Eigentlich schlägt in solchen vertrackten Situationen ja tatsächlich meistens die Stunde der Vereinfachung. Wenn die widerstreitenden Argumente, die gleichwertigen Gesichtspunkte, die unversöhnlich diametralen Prinzipien sich einfach nicht in ein harmonisches Gefüge bringen lassen wollen, dann fällt halt eins hinten runter.
Wir kennen das ungeschriebene Gesetz ja zur Genüge: Der Markt von heute oder der Mensch von morgen; eine Mehrheit der Stimmen oder die Stimme der Wahrheit; die rasche Zufriedenheit oder das nur langsam zu gewinnende Gleichgewicht … Man kann nicht beides haben – was also soll’s? Eins geben wir auf.
Paulus aber tut genau das nicht.
Der Heidenapostel gibt die Juden nicht auf. Der unterschiedslose Wohltäter vieler Völker hält dennoch am Heilsvorsprung des einen Volkes fest. Der Missionar, der die weltweite Kirche der späteren Antisemiten anstieß, wird doch nicht müde die umgekehrte, positive Diskriminierung zu bezeugen: „Das Evangelium gilt den Juden zuerst, (und) dann auch den Griechen“ (Rö1,16)!
Paulus, konsequent, messerscharf, haltungsstark und völlig unabhängig wie vielleicht kein zweiter unter den Botschaftern Jesu Christi, ist am entschiedensten vor allem anderen kein Mann des Entweder-Oder!
Unsere primitive, weil aus der Frustration geborene Logik eines „Wenn nicht links herum, dann eben rechts“, ist eben ganz und gar nicht das Denkmuster des Verkündigers der Rechtfertigung allein aus Glauben.
… Fängt also mit Paulus schon die Wischi-Waschi-Verlegenheit der Kirche an?
Diese haarsträubende Spezialität besonders der evangelischen Sprechblasen- und Nebelkerzen-Produzenten, die’s nie wagen, etwas rundheraus zu behaupten und zu vertreten, sondern immer im Kompromiss baden und also die Meinungen Dritter, die Gefühle Anderer, die denkbaren Hindernisse so sehr betonen, dass jede klare Kontur verschwimmt und man nur das scheußliche Gefühl bekommt, alles Gesagte sei Soße und alles Geschriebene Schaum?
Ist Paulus also verantwortlich dafür, dass wir im unverbindlichen und darum offenbar auch völlig unnötigen Sowohl-als-auch für ein bisschen Krieg und ein bisschen Frieden, ein bisschen assistierten Suizid und ein bisschen Lebensschutz, ein bisschen Bibel und ein bisschen Koran, ein bisschen schwäbische Frömmigkeit und ein bisschen Frankfurter Kritische Theorie und praktischen Atheismus stehen? … ——
Wenn wir so fragen, fehlt es uns in erster Linie nicht an Klarheit, sondern an geistlicher Tiefe.
Dass viele unserer eigenen und viele der öffentlich amtskirchlichen Positionen unklar, unentschlossen, quälend dialektisch und also unbefriedigend sein mögen, wo sie’s nicht sein müssten, lassen wir dahingestellt sein.
… Denn mit Paulus und seiner Weigerung, die Heilshoffnung der Juden zu opfern, um die Universalität seines Christuszeugnisses zu unterstreichen, betreten wir ein anderes Gebiet, als das der menschlichen Exklusivitäts-Logik.
Mit Paulus, der kein Entweder-Oder predigen kann, stehen wir vor dem wirklichen Gott, Der mehr ist, als alle unsere Vereinfachungen! —
Das Wesen des lebendigen Gottes ist eben nicht jene Einfalt, mit der wir einen Fall für abgeschlossen, eine Frage für geklärt halten.
So sind, so denken, reden und handeln wir Menschen. Unsere Person, unser Verstand, unser Fassungsvermögen und unser Einsatz sind von Natur aus einfach: Das bin immer nur ich Einer, der da lebt und reflektiert, der da kommuniziert oder agiert. Es ist nie mehr als nur das eine Ich allein.
Doch gerade so ist der Gott, von Dem, durch Den und zu Dem alle Dinge sind, nicht: Er ist in Sich das tiefe und das weite „Und“; Er ist die hohe und die innige Vereinigung, die wir niemals erreichen können, weil das Verbindende, das Versöhnen, der Zusammenhalten an unserer Vereinzelung scheitern muss.
Wir können nur erkennen, was zeitlich ist. Gott indes ist nicht einmal an die Ewigkeit gebunden.
Wir können nur begreifen, was unsere Sinne berührt. Gott dagegen bedarf keiner Organe, denn in Ihm sind die Wirklichkeit und die Möglichkeit, das Materielle und das Geistige selbst inbegriffen.
Wir vermögen nicht mehr wahrzunehmen und nichts anderes zu bewirken, als was uns ursprünglich zugänglich ist. Gott jedoch, weil Er selber die Offenheit ist, Der sich alles verdankt, in Der nichts ausgeschlossen sein kann und bei Der alles sein Ziel findet, … Gott übersteigt und Gott verknüpft das Vergängliche, das Noch-nicht-Seiende und die zeitliche, räumliche Schrankenlosigkeit in einer unlöslichen, unerforschlichen und unendlichen Gemeinsamkeit des für alle Geschöpfe Unzähligen und für den Schöpfer Unzertrennlichen.
… Dass Gottes Wesen also den Einen, die Vielen und darin Alles umfängt, …
… dass Er Beginn, Dauer und Vollendung zugleich gewährt, …
… dass in Ihm Wort und Fleisch und Geist der Selbe sind, …
… dass Er in sich die unverbrüchliche Identität von Geber, Gabe und Geben ist, …
… dass Gott nicht als Gott allein, sondern als Mensch erkannt werden will, und dass Er diesen Bund nicht nur als wundersames Ereignis, sondern in ewiger Wirklichkeit beschließt, vollzieht und bezeugt, …
… dass Gott also nicht einfach, sondern komplex, unglaublich, ununterscheidbar und dennoch nicht versteinert ist, … nicht versteinert, sondern bewegt von Liebe, erfüllt von Liebe, getrieben von Liebe, souverän in der Liebe, leidend aus Liebe, sterbend aus Liebe - unsterblicher Liebe! -, … dass Gott so viel mehr, so viel mehr, so viel mehr ist, als unsereiner - unser „Einer“! - jemals auch nur ahnen, nur vermuten, nur träumen kann, das ist der Grund weshalb Paulus nicht in schlichter Exklusivität denken, sprechen oder hoffen kann. —
Es ist – wenn wir es mit dem heiligen Gott, dem Gott des Liebesbundes, dem Gott des Himmels, der Erde und der Tiefe zu tun haben – … es ist unmöglich und unsinnig und unverzeihlich, wenn wir abschließend oder ausschließend von Gott oder zu Ihm sprechen wollten!
Das verbieten Demut und Weisheit gleichermaßen!
Die Torheit und der Stolz des Menschen, die ihn immer wieder verleiten zu behaupten, er sehe, wisse, urteile und vollziehe die Wahrheit, … die müssen stumm werden in heiliger Ehrfurcht und brennendem Verlangen und niemals zu erschöpfender Liebe, wenn er Gott zu spüren, zu vertrauen, zu erwarten beginnt.
Ein Mensch, der - so wie Paulus - existentiell erfährt, dass schon der irdische Sinn unserer Erfahrungen und Probleme sich nicht in simple Eindeutigkeit, in platte Basta!-Sprüche fassen lässt, der gibt nicht etwa seinen Verstand auf, sondern erweist ihm überhaupt erst Ehre, wenn er vor Gott und von Gott nicht in dummdreister Vereinfachung spricht.
Es ist also keine Feier der Irrationalität, sondern die erleuchteteste Einsicht, wenn ein Mensch, der denken und unterscheiden kann, das Unbegreifliche Gottes, die Unerforschbarkeit Seines Geheimnisses bekennt!
Wer die Welt als Sonntagabendkrimi, als kleine Denksportübung für Hobby-Spürnasen, als Unterhaltungsformat mit garantiert publikumsfreundlicher Pointe betrachtet, der hat nichts, gar nichts auch nur von Ferne von Dem erfasst, Der unser Gott ist.
Alles an Ihm ist wunderbar und unerklärlich. Seine Liebe zu uns und Seine Schöpfung haben keinen Grund, … kein Ende.
Sein Zorn, Sein Richten, Sein Zubereiten und Zurechtbringen gehen über unser sämtliches Fassungsvermögen, und Seine Gnade reicht tiefer, weiter, als die abstraktesten Formeln des menschlichen Geistes.
Niemand hat es je auch nur in abgeleiteter Annäherung streifen können, wie überwältigend die Wirklichkeit Gottes ist und niemand könnte sich je einbilden, sich auch nur einen Schatten dessen angeeignet zu haben, was Gott vermag, worüber Er gebietet und was Er schenkt.
Gott zu begegnen, heißt darum nicht, die Lösung zu finden, sondern die Unendlichkeit.
Gott zu erkennen, heißt nicht zu wissen, wie es endet und warum, sondern anzubeten, dass es ist und war und bleiben wird, wie Er es wollte, … wie Er es will.
Gott also, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, der Heilige, der Starke, der Unsterbliche, ist nicht die Erklärung, sondern das Geheimnis, … nicht die Begründung, sondern die Vertiefung, … nicht das fehlende Puzzlestück, sondern die immer schon und noch nie dagewesene Vielzahl aller Einzelheiten.
… Der Dreieinige, der nicht dieser, dies und das ist, … sondern Alles – Der ist kein Fall, den man löst, keine Komplexität, gegen die man rebellieren oder vor der man kapitulieren müsste.
Der dreieinige Gott ist schlicht die höher als alle unsere Vernunft und weiter als unser Wissen - und Wünschen! - reichende Wahrheit, die wir anbeten!
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Ihm sei Ehre in Ewigkeit!
Amen.
Pfingstsonntag, 05.06.2022, Stadtkirche, 200.Jubiläum des Amtsantrittes von Theodor Fliedner in Kaiserswerth, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 5.VI.2022
200 Jahre seit Theodor Fliedners Amtsantritt in Kaiserswerth[i]
Liebe Gemeinde!
In allem, was geschieht, stoßen wir auf den Geist.
… Kann man so sprechen in Tagen des Krieges und der Katastrophe??
… Man muss: Wenn wir die Welt als unerreichbar oder verschlossen für Gottes Geist sähen, dann wäre das Licht verloschen, dann ginge das Wasser des Tohuwabohu über alles und verschlänge, was noch bleibt von der Welt und ihrer Zeit im Sog des Chaos. Doch schon über dem ersten Tohuwabohu schwebte der schöpferisch brütende Geist (vgl.1.Mose1,2) und über den Wirbeln des Weltendes wird er genauso seine bergenden Schwingen breiten. In allem also, was geschieht, stoßen wir auf den Geist. Das ist gewiss.
… Ob aber alle Geschichte darum auch geistvoll auf uns wirkt, das darf man fragen.
… Oft werden wir auf den rohen Stoff der Welt – früher nannte man es „das Fleisch“, heute nennt man es „das Materielle“ – als stärksten Trieb und sichtbarstes Ergebnis dessen stoßen, was man Geschichte nennt. Das ist dann der rationalistische Blick, der beobachten kann und gut ist im Zählen und Erklären, der aber nicht wahrzunehmen vermag, was unerklärlich bleibt und nur erzählt werden will … oder staunend anerkannt … oder gläubig angebetet.
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Wenn man nun aber – weil wir zweihundert Jahre zählen, seit die Geschichte begann, die aus der verlassenen und zum Verschwinden verurteilten evangelischen Kirchengemeinde, die heute wir sind, etwas Unerhörtes und Unvergessliches machte – … wenn man nun aber auf die Zeit und Gestalt zurückblickt, die aus einer abgewirtschafteten Winkelsekte am Niederrhein ein prägendes Kraftfeld der Menschenliebe gemacht hat, … dann entdeckt man zunächst nichts vom Geist, sondern erschreckt.
… Man erschreckt sich, wie unvorstellbar spröde, wie zwanghaft, wie neurotisch und lächerlich der junge Th. Fliedner, der Anfang 1822 hier, in dieser Kirche in sein Amt eingeführt wurde, tatsächlich war.
Er war ein typisches Kind jenes Jahrhunderts, in das er gerade nicht mehr gehörte: In den allerersten Tagen des 19.Jahrhunderts geboren, war es doch geprägt vom Geist der Aufklärungszeit. Die heiligste Dreieinigkeit, der er diente, hieß nicht Vater, Sohn und Geist, sondern Vernunft, Tugend und Zivilisation. Er war ein rationalistischer Moralist, wie viele seiner Lehrer und Amtsbrüder unter den Geistlichen damals, die der Argwohn gegen jeden Überschwang an Glaube, Hoffnung und Liebe in die engen, nüchternen, phantasielosen Bahnen eines volkserzieherischen Selbstverständnisses zwang. Man verbesserte den Ackerbau und die Tischmanieren, man bildete sich und andere im redlichen Geist bürgerlichen Gewerbefleißes und nichtrevolutionärer Sittlichkeit und man strebte nach Form und Inhalt dessen, was als Kultur betrachtet wurde: Maß und Selbstkontrolle des Denkens und Fühlens, durch die das menschliche Los positiv vor allzu extremen Erfahrungen und Reaktionen geschützt werden sollte.
Wer diesen jungen Kandidaten der Gottesgelehrtheit, diesen pedantischen Hauslehrer und pathetischen Neu-Pfarrer Theodor Fliedner vor Augen hat, wer sein quälendes „Selbstprüfungsbuch“ durchblättert[ii], in dem er sich peinlich akkurat benotet, wenn er nach eigenem Eindruck anständig, salbungsvoll und diszipliniert genug war, … wer also denjenigen, dem wir die besondere Geschichte unserer Gemeinde verdanken, zunächst kennenlernt, dem wird alles, … außer pfingstlich zumute sein: Da ist so gar nichts schrankenlos Beschwingtes, nichts, das frei atmet oder ausstrahlt, nichts von energischem Aufbruch oder spontaner Leidenschaft. Nur ein konventioneller, ziemlich von sich selbst bewegter kleiner Kulturprotestant, der sich ab und zu hohle Phrasen leistet – wenn er bei seiner Ordination am Altar das Vorbild und den Geist des verstorbenen Vaters um Segen anruft und ihm Nachahmung schwört[iii] – und der ansonsten - wie jeder Gutmensch heute - sich selber als missionarisches Vorbild des Richtigen sieht und darum nichts ernster nehmen kann als sich selbst.
Diese kleinkarierte und doch gernegroße Eigenschaft derer, die verkrampft an ihrer Selbstverbesserung arbeiten, müsste uns ziemlich vertraut sein:
Wie sehr die Beschäftigung mit den eigenen Leistungen und Bildern, den eigenen Blutwerten und Fußabdrücken, der eigenen Beliebtheit und Beispielhaftigkeit von links bis rechts, von öko bis turbokapitalistisch unser Leben bestimmt, ist deutlich.
Bei Theodor Fliedner könnte man die ständige Selbstbeschau und Selbstbewertung, die ständige Selbstkritik und Selbstkorrektur durchaus als eine Gestalt des Heiligungsstrebens[iv], der strengen ethischen Selbstzucht bewerten, die so typisch für das reformierte Erbe war. Solche Gesetzlichkeit ist noch einmal verstärkt aus der Verbindung von evangelischem Bekenntnis und rationalistischem Menschenbild als Mischprodukt zwischen aufgeklärtem Optimismus und negativer Katechismus-Pädagogik hervorgegangen. Aber wenn der eben 22-jährige Fliedner in schlechtem Schiller-Stil schreibt: „So kehre, du heilige Ordnung, Tochter des Himmels, mit deiner Schwester Ueberlegung, kehre wieder in mein Herz und mein Haus ein!“[v], und wenn eine intensive Reflektion seines Amtes und seiner Vorsätze in dem Vorsatz gipfelt „Jesus Christus sei mein Vorbild, und der edle Paulus mein zweites Muster“[vi], dann wird deutlich, was in der Frühzeit, als er vor zweihundert Jahren hier ankam, Fliedners Mangel war: Er glaubte an nichts so sehr, wie an die Moral. Er wollte gut werden; und wer gut werden will, will irgendwann der Beste sein[vii]. Und dann kann man wirklich nur ein Apostel der Moral - der eigenen Moral wohlgemerkt! - werden und niemals der Apostel eines Anderen, dessen Liebe auch allen anderen gilt - besonders aber denen, die gerade nicht gut, sondern schlecht sind, … meistens ja, weil sie es schlecht und nicht gut haben.
Fliedner, der unreife Rationalist, der unsichere junge Moralapostel musste also ein Pfingsten erleben, das seine Beschäftigung mit der eigenen Rolle und dem eigenen Ruf verglühen ließ und eine andere Liebe in ihm entzünden sollte, die hier in Kaiserswerth zum Leuchtfeuer der Nächstenliebe werden sollte ….. eine Liebe, die nicht dem eigenen Gutsein, sondern dem Geliebtwerden entstammte.
Und wie Gott unseren Fliedner diese Liebe hat erfahren lassen, das ist ein pfingstliches Wunder, weil es in seiner Mischung von Materie und Geist, von Geld und Glauben so kurios war.
Es war die Jagd nach dem bitter nötigen Materiellen, die in Fliedners Biographie das Feuer der Liebe entzünden sollte. Die Evangelische Kirchengemeinde Kaiserswerth war ja pleite - eine Erfahrung der Anfänge also, die uns für die Zukunft nur heitere Gelassenheit nahelegt. Fliedner musste sie finanziell retten. Und schätze sich durchaus - erbsenzählend und korinthenkackend - richtig ein: Rechnen konnte er, und seine Gabe als Bettler war eine Gottesgnade. Vor der großen Kollektenreise, die ihn in seinem zweiten Amtsjahr nach Holland und nach England führen sollte, schrieb er doch tatsächlich in ungewohnt selbstbewusster Tonlage an seine Mutter und Geschwister: „So denke ich denn, wenn der Herr mich geleitet, stark genug zu sein, um die englischen Kassen zu sprengen“[viii]!
Erbsenzählender, panzerknackender Moralapostel auf Fundraising-Tour: Das war die Ausgangslage des Pfingstwunders im Leben Theodor Fliedners.
Zunächst bestand es für den jungen Mann in der gleichen Urerfahrung wie einst bei der Jerusalemer Apostelschar: Die überwältigende Vielfalt der Menschheit kann einen gemeinsamen Nenner bekommen, und wer in der bunten Menge nicht nur die Variationen, sondern das Thema vernimmt, wer nicht bloß das Unterscheidende, sondern das Einende verspürt, der wächst über das Eigene hinaus und wird vom Unvertrauten ergriffen und vom Neuen angesteckt, … ja, er wird bereichert von dem, was nicht Seines ist.
Das ist Fliedner ganz buchstäblich widerfahren: Der skrupulöse Beobachter seiner selbst, der so ängstlich auf die eigene Entwicklung und Wirkung konzentriert war, wurde von der Großzügigkeit, die ihm aus ganz ungewohnten Bereichen entgegenkam, nachhaltig überrascht.
Dass seine eigentlich ja so anonyme Bittstellerei für die völlig namenlose, unbekannte Zwerggemeinde Kaiserswerth im Ausland ein solches Gehör fand, dass solche Hilfsbereitschaft mobilisiert werden und schlichtes Mitgefühl zu so konkreter Solidarität führen konnte, hat Fliedner zweifellos auf dem ihm vertrauten Feld des Ethischen zutiefst ermutigt.
Wie in Holland die unterschiedlichsten Konfessionen und Glaubensgemeinschaften sich von ihm ansprechen und in die Pflicht nehmen ließen, brachte sein durchaus beschränktes Welt-bild in heilsame Unruhe und fröhliches Durcheinander: Da waren Calvinisten und Lutheraner bereit zu tätiger Hilfe; französische und niederländische Gemeinden empfingen ihn; es gab Pfeffersäcke und kleine Dienstmädchen, die jeweils ungeheuer großzügig waren; er ging bei Herrnhuter Gemeinschaftsleuten – „Muckern und Mystikern“, wie er sie vor Kurzem noch genannte hätte – und bei Mennoniten, die er als sektiererische „Wiedertäufer“ angesehen hätte, aus und ein. Doch nicht nur das: Auch römisch-, ja sogar griechisch-katholische Christen in Amsterdam und Rotterdam nahmen Anteil an seiner Mission und unterstützen ihn … Zu seinen orthodoxen Wohltätern in Amsterdam zählte etwa – es sei uns in dieser Zeit eine besondere Pflicht, ihn zu erwähnen! – der reiche russische Baron Stroganoff[ix]!
… Und dann waren da noch die Juden! Neben hugenottischem und holländischem Geld, neben dem anrüchigen Profit aus den Kontoren des Kolonialismus und den Beiträgen aus strikt friedensethischen Gemeinschaften wie den Mennoniten sind auch Spenden sephardischer Kaufleute aus Holland und aus London bald darauf dann auch eine Zuwendung aus dem Vermögen der Rothschilds in die Rettung dieser, unserer Gemeinde geflossen! Und wie Fliedner in der britischen Metropole die Hocharistokratie - er lernte beim Betteln auch die spätere Queen Victoria als Fünfjährige kennen - abklapperte und daneben auch die politischen Kreise, die aktiv gegen die Sklaverei etwa kämpften und aus quakerischem und methodistischem Geist sich in vielen sozialreformerischen Pionierprojekten versuchten, das ist eine atemberaubende Pfingstgeschichte von wegbrechenden Trennungen und aufbrechenden Verbindungen unter denen, die nach Christi Namen heißen oder nach dem Volk Israel, die nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit streben und auf so vielerlei Wegen zu gleicher Zeit doch alle von Seinem Heiligen Geist geleitet werden!
Fliedners starker, wohl vor allen Dingen jugendlicher Selbstbezug musste durch solche horizonterweiternden Erfahrungen mit unterschiedlichen Konfessionen, Kulturen und Nationen ohnehin erhebliche Veränderungen, musste Auffächerungen und Vertiefungen erfahren: Wer die Anderen kennenlernt, der kann nicht mehr wie zuvor nur bei sich selber bleiben, … er muss lernen , dass die eigene Haltung, Meinung und Bedeutung ein ziemlich nebensächliches, jedenfalls kein entscheidendes Element der Heilspläne und der Heilsgedanken Gottes sind. …….
Das moralische Streben nach der eigenen Heiligung – etwas, das für den sittenstrengen, und unnachgiebig gewissenhaften späteren Gründer und Verbreiter der Diakonissenschwesternschaft trotzdem ein Leben lang wichtig blieb – das moralische Streben nach der eigenen Heiligung, das für Fliedner vor seiner Reise zu den Nachbarvölkern zentral gewesen war, trat allerdings nicht nur vor dem Erlebnis der vielen, vielen anderen rechtschaffenen, mitfühlenden und einsatzwilligen Menschen, denen er begegnete, zurück.
Er traf auf seinen Reisen noch auf einen anderen. Eher noch: Ein anderer traf ihn[x]!
Bei den mancherlei Kirchen und Frömmigkeitsformen, die er kennenlernte, geschah es Theodor Fliedner, dass er immer mehr aus dem Blick verlor, was er selber tat, und immer klarer sehen musste, was Christus tut. Er war aus Kaiserswerth abgereist, wo er gut sein wollte und er stieß unter den anderen Christen darauf, dass es nicht mehr um dieses eigene Gute ging: Die Gütergemeinschaft – in Jerusalem einst Folge der Ausgießung des Geistes Gottes – lehrte Fliedner in umgekehrter Reihenfolge auf die Quelle alles Guten, aller Güte und Gerechtigkeit, aller Gnade und Liebe, aller Wahrheit und allen Segens zu schauen.
Um es kurz zu sagen: Der Mann, der die Ethik –- das Gutsein - für sich verstanden zu haben meinte, erfuhr, dass sie einzig aus dem Evangelium - der Guten Nachricht Gottes - stammen kann! … Nicht, was wir tun, sondern was Gott getan hat, tut und tun wird, ist also die Rettung!
Diese Erfahrung - noch kürzer gesagt: dieser Glaube an die Rechtfertigung durch Christus - wurde Fliedner erst durch seine lebendigen und leibhaftigen Begegnungen mit der Menschheit geschenkt. Nicht das Sehen auf sich, nicht das Kreisen um die eignen Aufgaben und Möglichkeiten, sondern die Berührung durch die Not, die andere leiden und lindern, und die Liebe, die andere zu und von Christus haben, … erst diese Erkenntnis dessen, was außerhalb des eigenen Lebens und ohne das eigene Zutun geschieht, machte Fliedner zu einem Menschen, der seinen Glauben nicht bloß rational, sondern existentiell erfuhr und ihn dann als Liebe weltweit weitergeben konnte. ——
Er hat diese Reise, die ihm unter den Völkern die absolute Angewiesenheit auf Jesus Christus zeigte, als eine Reise zu einem lebendigen, persönlichen Erlösungsglauben empfunden. Sie machte aus dem mit sich selbst beschäftigten, in sich selbst befangenen jungen Mann einen Jünger des auferweckten Jesus Christus mitten in der Welt.
Sie war sein Pfingsten.
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So wie es unser Pfingsten sein wird, zu erfahren, dass wir nicht alleine sind!
Und dass es also nicht darauf ankommt, uns ständig zu verbessern, um irgendwann unübertroffen und einsam gut zu sein, sondern darauf kommt es an, dass wir getroffen werden von der Gnade Jesu Christi, der gerade dann und dort zu uns Menschen allen drängt, weil und wo es schlecht um uns steht!
Wenn wir das wie Fliedner begreifen, dass wir mitsamt dieser ganzen Welt nichts so dringend nötig haben, wie die in Christus wirklich rettende Liebe Gottes, die im Heiligen Geist auch nach uns persönlich greift und die auch unsere bittere Zeit verändern und unsere zerfallende Welt heilen kann, dann werden auch wir tatsächlich Pfingsten feiern!
Nicht unsere Güte, sondern die Güte Gottes wird uns dann ja erfüllen!
Und nicht menschliche Kraft und Gerechtigkeit wird dann unser Maß und Ziel sein, sondern diese überschwängliche Hilfe Gottes!
Sie, nur sie ist es, die die Welt braucht: Russland braucht sie genauso wie die Ukraine, die römische und die evangelische Kirche brauchen sie, um Zukunft zu haben, die Frommen brauchen sie und die Zweifler, die hilflos Verunsicherten und die gedankenlos Übersicheren unter den Religiösen und den Atheisten brauchen sie, … schlicht sämtliche Sünder und alle, die reines Herzens sind!
Wir brauchen Gott: Vater, Sohn und Heiligen Geist!!! ——
Auf der Suche nach dem Materiellen fand Fliedner zu diesem Glauben.
Möge uns das Gleiche widerfahren heute, da das materialistische Zeitalter, das Zeitalter der Gier, der Gewalt und des rein stofflichen, rein weltlichen Gewinns enden muss.
… Möge es uns also wirklich trotz allem noch gewährt werden, in allem, was geschieht, auf den Geist zu stoßen!
Mit den Worten Israels: Mögen wir den Frieden Gottes und Seien Güte wie in der Höhe, so auch auf Erden sehen, … bald und in unseren Tagen[xi].
Komm, Heiliger Geist!
Amen.
[i] Als Grundlage sowohl der biographischen als auch der geistlichen Wahrnehmung Fliedners in dieser Predigt dienen die beiden großen Lebensbilder: Die erste Biographie, die Fliedners Sohn Georg verfasste: „Theodor Flieder - Durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes in der Evangelischen Kirche. Sein Leben und Wirken. I.Band“ (Kaiserswerth a. Rh., 1908), sowie; Martin Gerhardt, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild. Erster Band, Düsseldorf-Kaiserswerth, 1933.
[ii] Breite Auszüge bietet Georg Fliedner, aaO, S.87ff.
[iii] Vgl. Gerhardt, S.93.
[iv] Bei Gerhardt wird die moralistische Fassung des Heiligungsstrebens besonders kritisch eingeordnet, vgl. S.95ff.
[v] Georg Fliedner, aaO, S.88.
[vi] Gerhardt, aaO, S.99.
[vii] Überraschend scharf ordnet Georg Flieder die frühen rationalistisch-moralistischen Anschauungen seines Vaters ein: „Er wollte sich selbst erlösen; Gott sollte dabei nur ein wenig helfen“ (aaO, S.103).
[viii] Georg Fliedner, aaO, S.138.
[ix] Gerhardt, aaO, S. 118. Die zahllosen, farbigen Einzelheiten, die Gerhardt ab S. 114 als Eindrücke von der Kollektenreise, in sehr genauer Aufzählung der verschiedensten Unterstützer bietet, sind ein wirklich pfingstliches Gemälde multikultureller, pluralistischer Gemeinsamkeit avant la lettre.
[x] Diesen entscheidenden Umschwung analysiert Gerhardt ausführlich, vgl. aaO, S,125ff. Besonders zu beachten ist das resümierende, spätere Selbstzeugnis Fliedners, der im Blick auf die erste Kollektenreise festhält: „… daß ich nicht länger zweifeln konnte, mein bisheriger Glaube sei noch nicht der rechte gewesen, und der Glaube an Christus als unsern Herrn und Gott, an die Wiedergeburt durch die Erneuerung des heiligen Geistes in lebendiger, gründlicher Buße mir vor allen Dinge nottue, ehe ich andern Christus predigen könnte als göttliche Kraft und göttliche Weisheit“ (aaO, S.137).
[xi] Diese Grundbitte des „Oseh Schalom bimromav“ kommt in der Sabbatliturgie ebenso vor wie im Kaddisch.
Chr.Himmelfahrt, 26.05.2022, Dan.7,1-3(4-8)9-14, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
was sich viele, die den heutigen Tag einfach als freien Tag mit Gelegenheit zu Ausflügen wahrnehmen und schätzen, sich gar nicht bewusst machen: Himmelfahrt ist ein politisches Fest. Es geht um Macht und Einfluss.
Wenn ich jetzt in Ihre/Eure Gesichter schaue, dann glaube ich, dass ich das etwas näher erläutern muss.
Im Evangelium des Lukas haben wir gerade gehört, wie sich Jesus von seinen Jüngern verabschiedet hat. Nach Ostern hatte es für sie noch eine Fristverlängerung von 40 Tagen gegeben mit dem Auferstandenen. Aber dann war Schluss. Segen mit erhobenen Händen wie am Ende des Gottesdienstes. Und Tschüss. Ich bin dann mal weg! Geht in Frieden!
Himmel als Ziel. Auch für uns. Das war früher ein frommer Wunsch: nach dem Tod in den Himmel kommen. Was immer, wo immer das sein soll. Auf jeden Fall galt es, dahin zu kommen, wo Jesus schon ist.
Im heutigen Evangelium steht Himmel aber vor allem für Ausdehnung über der ganzen Erde. Jesus war als Mensch im heutigen Israel und Palästina unterwegs. Dass dann aus einer lokalen Geschichte im Nahen Osten eine internationale Glaubensbewegung und -gemeinschaft entstehen konnte, das doch nur deshalb, weil Jesus auferstanden nicht gen Himmel entschwunden ist, sondern weil sein Geist, weil Gottes Geist sich vom Himmel zu allen Menschen auf allen Kontinenten aufgemacht hat - an dieses Ereignis erinnern wir uns jedes Jahr an Pfingsten, wobei es sich nicht um ein einmaliges Ereignis handelt, sondern um die nachhaltigste Bemühung Gottes, diese Welt zu verändern. Überhaupt: Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten sind drei Aspekte einer Erfahrung, die die Weltsicht der Betroffenen grundlegend verändert - bis heute. Himmelfahrt ist dabei lokale Abreise, Pfingsten globale Ankunft.
Wenn wir uns auf der Welt so umschauen, dann sind neben Jesu Geist auch viele andere Kräfte global am Werk. Wir leben in Zeiten heftiger Mischungen von Kräften und Geistern. Überall gibt es barmherzige, einfühlsame und tatkräftige Menschen, die vom Geist Gottes, vom Geist Jesu inspiriert sind, getragen von Glaube, Hoffnung und Liebe, die Gottes Gaben an sie teilen und ihre Nächsten unterstützen. Erstaunliches ist da manchmal zu sehen - im Ahrtal nach der großen Flutkatastrophe im letzten Jahr; in der Hilfe für Flüchtlinge in Polen und auch hier vor Ort: Menschen haben ihre Häuser, ihre Wohnungen geöffnet für ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die vor dem Krieg dort geflohen sind.
Leider sind auch andere Gestalten und Mächte global unterwegs. Sie setzen auf Gewalt und Machterhalt und schrecken dabei vor nichts zurück. Ich denke dabei zuerst an die Diktatoren und Autokraten, die in immer mehr Ländern regieren: an Putin und Xi Ping, an Erdogan und Bolsonaro, an die Regenten in Nordkorea, in vielen Ländern der arabischen und afrikanischen Welt, aber auch demokratisch gewählte Regierungen in Europa wie in Ungarn, Polen und Serbien tun sich schwer, Recht und Wahrheit gelten zu lassen. Und nicht wenige teilen die Sorge mit Blick auf die USA, dass dort der Ungeist von Trump wieder aus der Flasche losgelassen werden könnte.
Was ist los mit der Welt? Das fragen sich die Menschen nicht erst seit dem 24.Februar, nicht erst im Angesicht von Corona, Klimakrise und Krieg. Das hat auch schon die Menschen in biblischen Zeiten umgetrieben, gerade wenn sie bedrängt wurden und nicht wussten, wie es denn für sie weitergehen sollte. Immer wieder gab es diese Zeiten von Verfolgung und Krieg, von Hungersnöten und Seuchen, die die Menschen heimsuchten. Immer wieder Zeiten wie Albträume. Wir können sie nachfühlen in Texten der Offenbarung des Johannes und auch im Buch des Propheten Daniel, wo die Bedrohung in Bildern von Monstern und Drachen daherkommt, die so manchen Fantasy-Film inspiriert haben. Wie kommen wir durch diese albtraumhaften Zeiten?
Es gibt nicht wenige Christen, die haben diese Zeit und Welt längst abgeschrieben. Sie hoffen nur noch auf das Ende, wo Jesus mit den Wolken des Himmels kommt und die Bösen ins ewige Feuer schickt und die Seinen zu sich in den Himmel holt. Für diese Welt und Zeit gibt es nur ein Ende mit Schrecken.
Doch mit solchen Gedanken kann ich mich gar nicht anfreunden. Worauf ich hoffe: auf ein Ende der Schrecken, darauf dass der Geist Jesu sich auf dieser Erde, in dieser Zeit immer mehr durchsetzt. Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde, Gott und Mensch - sie gehören zusammen. Was lässt uns nun hoffen für uns und unsere Welt?
Ein Text, der uns solche Hoffnung vermitteln kann, steht im Buch des Propheten Daniel, ein Text, der in Zeiten großer politischer Bedrängnis verfasst worden ist. Darin erzählt Daniel von einem nächtlichen Traum, der als Albtraum beginnt und dann eine überraschende Wendung nimmt.
Ich lese die Verse 1-3 und 8-10 aus der guten Nachricht und paraphrasiere die Verse 4-7, die die Albtraumbilder beschreiben.
„Im ersten Regierungsjahr des babylonischen Königs Belsazar hatte Daniel in der Nacht im Traum eine Vision. Er schrieb auf, was er geschaut hatte; hier ist sein Bericht:
Ich sah in meiner nächtlichen Vision, wie aus den vier Himmelsrichtungen die Winde bliesen und das große Meer aufwühlten.
Vier große Tiere stiegen aus dem Meer; jedes hatte eine andere Gestalt.
Jedes der Tiere steht für ein Weltreich, jedes wird als Bestie beschrieben von unterschiedlicher Gestalt, die jeweils Angst und Schrecken, Tod und Zerstörung anrichtet.
Das vierte Tier war völlig verschieden von den anderen Tieren und hatte zehn Hörner.
Während ich die Hörner beobachtete, brach ein weiteres Horn zwischen ihnen hervor. Drei von den vorigen Hörnern wurden seinetwegen ausgerissen. Das Horn hatte Menschenaugen und ein Maul, das großmächtig prahlte.
Dann sah ich, wie Thronsessel aufgestellt wurden. Jemand, der uralt war, setzte sich auf einen von ihnen. Sein Gewand war weiß wie Schnee und sein Haupthaar so weiß wie reine Wolle. Sein Thron bestand aus lodernden Flammen und stand auf feurigen Rädern.
Ein Feuerstrom ging von ihm aus. Abertausende standen zu seinem Dienst bereit und eine unzählbare Menge stand vor ihm.
Richter setzten sich und Bücher wurden aufgeschlagen.
Ich sah, wie das Tier, dessen Horn so prahlerisch dahergeredet hatte, getötet wurde. Sein Körper wurde ins Feuer geworfen und völlig vernichtet.
Schon zuvor war den anderen Tieren ihre Macht genommen worden; auf Tag und Stunde war die ihnen zugemessene Frist bestimmt.
Danach sah ich in meiner Vision einen, der aussah wie der Sohn eines Menschen/ein Wesen von der Gattung Mensch. Er kam mit den Wolken heran und wurde vor den Thron des Uralten geführt.
Der verlieh ihm Macht, Ehre und Herrschaft, und die Menschen aller Nationen, Völker und Sprachen unterwarfen sich ihm. Seine Macht ist ewig und unvergänglich, seine Herrschaft wird niemals aufhören."
Das Buch Daniel ist etwa 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung geschrieben. Der Autor wusste nichts von Jesus, genauso wenig wie er eine Ahnung von Hitler, Stalin oder Putin gehabt hat. Aber er wusste einiges von der vergangenen und gegenwärtigen Geschichte seines Volkes Israel, wusste, dass immer wieder mächtige Großreich wie die Ägypter, die Assyrer, Babylonier und Perser kleinere Völker überfallen und ihre Länder verwüstet haben. Wie monströse Raubtiere haben sie sich verhalten. Zuletzt war es Anfang des 2.Jahrhunderts v.Chr. der Seleukidenherrscher Antiochus IV., der Jerusalem zerstören ließ, den jüdischen Gottesdienst verbot und heidnische Opfer im Tempel anordnete. Durch die Jahrhunderte - immer wieder Krieg und Zerstörung, Unterdrückung und Elend. Immer wieder Verzweiflung und Leid. Wie es von der Geschichte der Menschheit insgesamt auch gesagt werden kann: immer wieder Kriege ... der Mensch, der Wolf des Menschen, eine Bestie ... Butscha hat es wieder deutlich gemacht.
Doch Daniel bleibt nicht in den Albträumen hängen, ein neues, ein anderes, ein helles Bild taucht vor seinem Herzensauge auf. Und was er da schaut und an uns weiterreicht, kann uns gerade heute zur Quelle der Kraft und Zuversicht werden. Es sind Bilder dabei, deren Wurzeln tief in die Geschichte der menschlichen Vorstellungswelt, was das Göttliche und Himmlische angeht, zurückreichen und die bis in unsere Tage so auf Kinderzeichnungen auftauchen.
Daniel schaut, wie sich im Himmel die himmlischen Heerscharen um Gott versammeln, der himmlische Thronrat in Aktion tritt. Die Bezeichnung für Gott fällt auf: der Uralte, der, der vor aller Zeit war und ewig sein wird.
Der, der allen anderen Lebewesen auf Erden, eine feste Zeitspanne zumisst, auch den Gewaltherrschern und ihren Reichen. Sie haben ihre Zeit - auch wenn wir darauf gerne verzichten würden - und dann ist es aus mit ihnen.
Die Zeiten der Bestien sind begrenzt und vorbei.
Dann erscheint mit den Wolken des Himmels einer, der aussah wie der Sohn eines Menschen, ein Menschensohn. Das Wort meint einerseits schlicht die Gestalt eines Menschen im Unterschied zu den Bestien, die aus den Fluten des Meeres aufgetaucht waren. Andererseits steht es für einen Titel, den wir aus dem Neuen Testament kennen, den Jesus - vielleicht als einzigen - auf sich bezogen hat. Damit steht Jesus für ein Reich, in dem das Menschliche endlich zum Zug und zur Entfaltung kommt, Jesus, der wahre Mensch, so wie Gott ihn sich gedacht hat. Er erhält vom Uralten Macht, Ehre und Herrschaft und im Unterschied zu den Reichen der Gewaltherrscher wird seine Herrschaft ewig sein. Kein Wunder, dass dieser Text aus Daniel 7 einer der Predigttexte für den heutigen Himmelfahrtstag ist. Wie es ja auch im Glaubensbekenntnis heißt: aufgefahren in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes ...
Ich möchte hier einen dritten Anlauf nehmen, diese Vision für uns zugänglich zu machen und Daniel hier beim Wort nehmen: Da kommt einer „wie eines Menschen Sohn". Da kommt ein Jedermann oder eine Jedefrau. Kurz gesagt: da kommt ein Mensch. Dieser Mensch wird reich von Gott beschenkt, mit Macht und Ehre und Reich.
Könnte es sein, dass Daniel uns alle an dieser Stelle in seinen Traum holen möchte? Uns Menschen, so wie wir sind? Da sehe ich uns vor meinem Herzensauge, wie wir vor Gott, dem Ewigen, stehen und ihn fragen: „Was hast du mit uns vor? Du kennst uns doch, du weißt doch, wie oft wir schon versagt haben. Du weißt doch, wie schwach wir sind!"
Doch Gott schüttelt den Kopf, erhebt sich von seinem feurigen Thron und kommt auf uns zu: „Macht euch nicht kleiner, als ihr seid. Ihr seid nicht nur schwach und fehlerhaft. Ihr seid meine geliebten Kinder. Euch habe ich meine Erde anvertraut und daran wird sich auch nichts ändern. Das Einzige, was sich ändern wird, das seid ihr: Ihr werdet in Zukunft einander besser zuhören. Ihr werdet einen Weg finden, über alle Grenzen hinweg gerecht und friedlich miteinander zu leben, meine Gaben an euch zu teilen und Barmherzigkeit und Güte zu üben. Das Zeitalter der Bestien, in denen ihr einander zu Wölfen wurdet, ist vorbei. Nun beginnt eure Zeit. Eine Zeit der wahren Menschlichkeit, der Mitmenschlichkeit. Habt also keine Angst vor der Zukunft."
Jesus der Menschensohn, der hat uns vorgelebt, wie wahres Menschsein heilsam und befreiend gelebt werden kann. Und er hat uns aufgefordert, ihm darin nachzufolgen. In Daniels Traum heißt es, dass Thronsessel aufgestellt werden - offensichtlich nicht nur einer für den Uralten; auf einem weiteren , dem zur Rechten Gottes, hat der Menschensohn Jesus Platz genommen und dann stehen da noch unzählige weitere bereit, warten auf Menschensöhne und Menschentöchter, die die Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit leben, tatkräftig und mutig, die unverdrossen in dieser oft bedrückenden und bedrängenden Zeit als Bauleute des Reiches Gottes leben, das einzige Reich, das kein Ende finden wird.
Amen.
Rogate, 22.05.2022, Ps.65,3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: „Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir." (Ps.65,3)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn man nach einem „roten Faden" sucht, einem Marker, der allen Religionen und Konfessionen eignet, dann ist es das Gebet. Das Gebet ist das Kennzeichen eines gläubigen Menschen und ist es seit Anbeginn der Menschheit. Schon auf den Höhlengemälden der Eiszeit finden sich menschliche Gestalten in Orantenhaltung.
Seitdem ich mich mit den religiösen Vorstellungen der Menschen in anderen Kulturen und anderen Zeiten beschäftige, staune ich immer wieder, wieviel Ähnlichkeiten es da gibt - mit unserer christlichen Tradition und untereinander.
Gewiss, es gibt auch Unterschiede. Gerade auch beim Gebet - und das nicht nur in der Körperhaltung, sondern auch in der Anrede: der Jude spricht Jahwe/Adonaj an, die Christin betet „unser Vater", wie es Jesus beispielhaft vorgebetet hat. Der Hindu sucht hinter den vielen Gestalten seiner Götter das eine Sein, das er Brahma nennt. Der Moslem spricht zu Allah. Der Buddhist betrachtet das Nichtfassbare des ganz Anderen. Wie sollen wir mit dieser Vielfalt, diesen so unterschiedlichen Sprachbildern von Gott umgehen?
Als christliche Abendländer sind wir gewohnt, zu bewerten, falsche von richtigen Anreden an Gott zu trennen. Nicht wenige stellen sich vor, das Gebet eines Christen höre Gott, während das Gebet irgendeines indigenen Stammes zu irgendeinem Gott nicht zum wirklichen Gott gelangt. Bei den Magandscha, einem afrikanischen Stamm, betet die Priesterin: „Höre, du, o Mpambu, sende uns Regen", und der versammelte Stamm antwortet mit leisem Klatschen und in singendem Ton: „Höre, o Mpambu."
Soll ich nun annehmen, dass dieser Ruf, dieses Gebet, buchstäblich ins Nichts geht, weil es den Regengott Mpambu „nicht gibt"? Oder hört und sieht da nicht doch einer die Rufe und Bitten der Menschen? Wird es nicht der eine Gott sein, der jedem Menschen auf dieser runden Erde nahe ist und der jede Stimme hört und sie immer gehört hat? Oder wird er, der eine, wirkliche, ewige Gott, sein Ohr - um es mal ganz menschlich zu umschreiben - verschließen, weil er nicht mit seinem korrekten Namen angeredet wird? Was besagen denn überhaupt die Namen, mit denen wir Menschen Gott benennen? Haben da nicht die Muslime mit ihrer Tradition recht, wenn sie sagen, Gott habe hundert Namen, neunundneunzig kann der Mensch nennen, den hundertsten aber, der seine eigentliche Wesenheit und Wahrheit ausdrückt, wisse allein das Kamel, das aber spreche ihn nicht aus?
„Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir."
El heißt es da in der hebräischen Bibel - El oder Elohim ~ Gott, Gottheit. Die Bezeichnung die ganz offen ist. Es steht nicht JHWH, nicht der Name, mit dem sich Gott Israel offenbart hat. Als wenn der Psalmist hier eine Tür des Verstehens öffnet: „Gott, du erhörst Gebet. Wir Israeliten, wir sprechen dich an mit JHWH, dieser Name ist uns heilig, so heilig, dass wir ihn nicht aussprechen und stattdessen Adonaj, „Herr" lesen. Die anderen aus den Völkern, sie rufen dich mit den Namen, mit denen du dich ihnen offenbart hast. Aber der Adressat der Gebete, das bist immer Du, der Eine Gott."
Diese fundamentale Einsicht es Beters des 65.Psalms stünde uns allen gut an. Unsere abendländische Bildung hat uns diese demütige Haltung eher ausgetrieben. Auch ich bin noch damit groß geworden, dass es Hochreligionen gibt und primitive Religionen wie Naturreligionen. Was für eine Arroganz steckt hinter solcher Wertung. Den Vers aus dem 65.Psalm, den haben wir eher so formuliert: „Dreieiniger Gott, du erhörst unsere Gebete; darum ist es für alle wichtig, unseren Glauben, unsere Vorstellungen von dir zu übernehmen."
Nach zweitausend Jahren christlicher Geschichte ist eine grundlegende Wandlung des christlichen Nachdenkens gefordert, vor der noch viele zurückschrecken. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an das erste religionsübergreifende Friedensgebet in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. im Oktober 1986 Vertreter aller Religionen eingeladen hatte. Gerade aus den protestantischen Kirchen, aus evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen kam viel Kritik und Ablehnung: man könnte doch nicht gemeinsam beten, unser Gott sei doch ein ganz anderer als der Gott der Muslime oder Hindus. Hier würden Grenzen verwischt, die doch unbedingt eingehalten werden müssten, denn nur im Namen Jesu könne man Gott in Wahrheit anbeten. An dieser Stelle sind die Bemühungen des Heiligen Geistes in der katholischen Kirche seit dem 2.Vatikanum deutlich erfolgreicher gewesen als in den Kirchen der Reformation. Und das trotz der sonst so konservativen Päpste und Kurienkleriker.
Die Bibel selbst lädt uns ein, uns als Christen, als Christen der Reformation neu zu positionieren, weiter, offener, demütiger und befreiter über unseren Glauben und über den Glauben der Menschen anderer Religionen zu denken.
Die biblische Urgeschichte erzählt, nach der großen Flut, in der von der Menschheit nur acht Personen in einer Arche gerettet worden seien, die Urvorfahren der Menschheit, habe Gott sie angesprochen mit den Worten: „Ich verbinde mich heute mit euch, mit euren Nachkommen und allen lebendigen Wesen der Erde. Meinen Schutz und meinen Segen gewähre ich euch allen. Nie mehr soll das Leben in den Wassern der Flut versinken. Als Zeichen dafür setze ich meinen Bogen in die Wolken als Bild für den festen Zusammenhalt zwischen der Erde und mir." (Gen.9)
Der Noah-Bund mit dem Bundeszeichen des Regenbogens ist der erste, der grundlegende Bund, von dem die Bibel spricht - und der gilt allen Menschen und Tieren, der gilt der ganzen Erde, der ganzen Schöpfung. Gott stellt sich vor als helfender, schützender, sprechender und hörender Gott nicht nur für die Religionen, die ihren Ursprung in der Bibel haben, sondern für alle Menschen.
So von Gott und seiner Schöpfung zu denken, ist heute wichtiger als jemals zuvor, in der globalisierten Gegenwart geradezu not-wendig: dass wir aus dem engen Raum unseres Anspruchs auf die alleinige Wahrheit heraustreten und eine liebende Achtung gewinnen für die Stimmen, die uns aus anderen Welten des Glaubens und des inneren Nachdenkens in der Geschichte der Menschheit und in anderen Räumen unserer Erde erreichen. Ich bin überzeugt: wo immer ernsthaft nach Gott gefragt wird und wo auf diese Frage nach Gott die Antwort Gottes gehört wurde, hat sich der Eine Gott offenbart. Wie es in den Psalmen immer wieder heißt: Gott erhört das Gebet des Gerechten, des Menschen, der ihn ernsthaft sucht und anruft. Und er hört das Schreien der Elenden, aller Menschen in Not. Ohne Unterschied, egal welcher Religion oder Kultur sie angehören.
Ich bin überzeugt, dass Gott immer gegenwärtig war, in den Höhlen der Steinzeitmenschen, in deren Wänden in Löchern oder Nischen Figuren standen, die ihnen die göttliche Gegenwart begreifbar machten. Immer und überall, wo irgendwelche Chiffren für Gott an die Wände gemalt wurden. Die Menschen mögen sich Gott so seltsam, so unmittelbar handgreiflich, so menschlich vorgestellt haben wie sie wollten, sie hatten es immer mit dem wirklichen, dem Einen Gott zu tun. Mit wem sonst?
Ob Gott den Menschen nahe ist, entscheidet sich nicht an ihren primitiven oder intellektuell reifen Vorstellungen. Wo immer Menschen Gott anrufen - sei es als Ahnengott, als Tiergott, vor einer Steinfigur oder in meditativer Versenkung - ihr Gebet ist ein Gebet zu Gott. Immer ist Gott hinter den Bildern, auch hinter den Wortbildern. Er ist keines davon, er ist dahinter. Immer sind die Bilder nur Zeichen für Gott. Wo Gott als Regengott eines indigenen Stammes in Afrika angerufen wird, hört der wirkliche, der Eine Gott. Wer sonst?
Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion,
und dir hält man Gelübde.
Du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir.
Erhöre uns nach der wunderbaren Gerechtigkeit,
Gott, unser Heil, der du bist die Zuversicht aller auf Erden und fern am Meer,
der du die Berge gründest in deiner Kraft und gerüstet bist mit Macht;
der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker,
dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen.
Du machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen.
(Ps.65,1-3.6-9)
Brahma, dir huldige ich.
Du hast die Welt erschaffen und erhältst sie.
Du wirst sie einst auflösen und in dich zurückziehen.
Unermesslicher, du hast die Welt gemessen.
Du willst nichts und erfüllst doch unsere Bitten
Unsichtbarer, du bist die Ursache der sichtbaren Welt.
Du wohnst in unserem Herzen und bist doch weit entfernt.
Du leidest mit uns und bist doch vom Leid unberührt.
Du bist überall und doch zeitlos.
Du bist allwissend, doch niemand kennt dich.
Du bist über allem, und keiner regiert dich.
Du bist allein, doch lebst du in allem Geschaffenen.
Die Pfade zur Erlösung unterscheiden sich wie die Gedanken der Menschen,
aber alle führen zu dir, wie die Arme des Ganges in dasselbe Meer münden.
(Gebet eines Hindu, 4.Jh.)
Der du vor allem Anfang warst,
der du nichts als Licht bist, mächtig und zart.
Viel wirst du besungen,
doch niemand kann dich beschreiben.
Nicht zu schauen bist du, strahlend in deinem Glanz.
Du nahmst das Dunkel von unseren Augen.
Du sandtest dein heiliges Licht über die Welt hin,
du ertöntest mächtig in der Stille dieses Lichts.
König der Welt, weithin schauender Geber des Lichts,
gib den Völkern das Glück deiner Heiligkeit,
dass geschlossene Augen beginnen zu schauen.
Sende Leben. Sende das Licht. Sende die Liebe.
(Orphischer Hymnus, 700 v.Chr., Griechenland)
Ewige Einheit,
die in Stille für uns singt,
leite meine Schritte mit Kraft und Weisheit.
Möge ich die Lehren verstehen, wenn ich gehe,
möge ich den Zweck aller Dinge ehren.
Hilf mir, alles mit Achtung zu berühren,
immer von dem zu sprechen,
was hinter meinen Augen liegt.
Lass mich beobachten, nicht urteilen.
Möge ich keinen Schaden verursachen
und Musik und Schönheit zurücklassen, wenn ich gehe.
Und wenn ich in das Ewige zurückkehre,
möge sich der Kreis schließen.
(Ritueller Gesang der Aborigines, Australien)
Möge der Gott,
der „unser Vater" für die Christen ist,
JHWH für die Juden,
Allah für die Muslime,
Ahura Mazda für die Zarathustrier,
Aarhat für die Jainas,
Buddha für die Buddhisten,
Brahma für die Hindus,
möge dieses allmächtige und allwissende Wesen,
das wir alle als Gott anerkennen,
uns Menschen den Frieden geben
und unsere Herzen brüderlich (geschwisterlich) vereinen.
(Vivekananda, 1863-1902; Hindu)
Rogate, 22.05.2022, Kantatengottesdienst zu TVWV 1:1746 "Victoria!, mein Jesus ist erstanden", Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 22.05.2022
Kantatengottesdienst „Victoria!, mein Jesus ist erstanden“ (TVWV 1:1746) & Apostelgeschichte 1,2f
Liebe Gemeinde!
Wer ins Neue Testament hineinhört, wird jedes Mal von einem quasi-musikalischen Geistes- und Glücksblitz überwältigt: Da meint man, Karfreitag sei der letzte Takt und letzte Ton. … Doch, nein: Das blutgefrierende, atemabschnürende Schweigen des Entsetzens und des Sterbens wird von einem unvermuteten, darum aber nur umso strahlenderen Wiedereinsatz durchbrochen: Osterjubel, Auferstehungsfreude, Triumphklänge … so, wie wir sie gerade hörten!
Das eigentliche Ende des Liedes, das die Evangelien singen, der tatsächliche Schlussakkord ist ein anderer. Er folgt erst in dieser Woche mit der Himmelfahrt: Das letzte Mal, dass Jesu Stimme erklang, die finalen Brusttöne seines lebendigen Herzens, sein letzter Lebenslaut. … Danach ……. nun, dazu kommen wir später. ——
Wenn wir uns also gründen auf das Wort, das Jesus Christus heißt (vgl.Joh.1), wenn wir einen Glauben haben, der aus dem Hören kommt (vgl.Rö.10,14-17), dann kann man nur staunen über die akustische Wirkung der Frohen Botschaft, über die unermessliche Fortsetzung, Variation und motivische Fruchtbarkeit, die ein kleiner Grundstock an Gehörtem etwa in der christlichen Musik hervorgebracht hat. Georg Philipp Telemann, unser heutiger Komponist – tatsächlich der produktivste Urheber geistlicher Vokalmusik in unserer Kirche – ist ein gutes Beispiel: Er alleine hat mehr ganze Kantaten geschrieben, als einzelne Sätze von Jesus von Nazareth überliefert sind. Ein ganz geringer Bestand an gesprochenen Worten hat also unendliche Vertonungen, Nachdichtungen, Meditationen, künstlerische Bearbeitungen, Aktualisierungen, Vergegenwärtigungen, freie Inspirationen und Assoziationen durch alle Zeitalter geweckt. Anders gesagt: Zwei Jahrtausende sind inzwischen durchwebt vom Klang und Nachklang einer einzigen Stimme, eines kleinen mündlichen Themas, das in unzähligen Abwandlungen, Brechungen, Spiegelungen und Verstärkungen sämtliche Epochen anregt und in Schwingung versetzt. Jesus ist – obwohl wir Karfreitag für das Ende hielten und den Abbruch durch die Himmelfahrt nicht vorhersahen – die hörbarste Stimme der Menschheit, er ist der Grundton der Weltmusik und Himmelsklänge geblieben … die heutige Basskantate lässt uns etwas hinkend sagen: Der Generalbass, auf dem das Konzert der Wirklichkeit, wie wir sie erleben, fußt, ist Jesus.
… Dabei waren es nur 3 Jahre seiner Verkündigung, seiner Lehre in Vollmacht, seines natürlichen Gleichnisreichtums, seiner heilenden Seelsorge, seiner prophetischen Offenbarung und geistvollen Schriftdeutung, die seine Jünger und alle, die ihn hören konnten, so erfüllten.
… Drei Jahre, in denen der Wanderprediger aus Nazareth auftrat, reichten, dass Menschen ihn liebten!
… Und nicht mehr als vierzig Tage waren es, vierzig Tage, in denen sie ihn wieder sahen und neu hörten, vierzig Tage bis zur Himmelfahrt, in denen daraus Glaube wurde.
Mehr ist das Christentum nicht, als die theologische und ethische, die musikalische und menschliche Echowirkung von drei Jahre Liebe und vierzig glaubensgründenden Tagen!
… Eine Luftnummer also. Ein flüchtiger Hauch bloß, ein mikroskopisch kleiner Wirbel inmitten des Strömens und Rauschens der unendlich vielstimmigen Weltgeschichte.
… Als Außenstehender muss man sich wahrhaftig fragen, wie es kommt, dass ein so nichtiger Anlass, ein so leicht zu überhörender und rasch verwehender Luftzug wie die wenigen Worte und Taten eines Einzelnen, der drei Jahre lang von sich reden macht und vierzig Tage lang das endgültige Schweigen durchbricht, solche Wirkung haben können? Wie kann man zu Telemanns Zeiten, wie kann man in unseren Tagen derart lebhaft „Victoria!“ rufen oder - wie mindestens drei andere Osterkantaten Telemanns beginnen - „Triumph!“ oder gleich „Victoria! Triumph! Victoria!“, wie der Eingang einer letzten österlichen Kantate des selben Meisters anhebt[i] … wie kann man so voller Freude und Überlegenheit reagieren, wie kann man sich so unanfechtbar, so getrost fühlen angesichts derart bescheidener Ursache?
So wenige Worte, so wenige Taten! Was können die uns noch bedeuten? Warum singen wir immer noch davon? Weshalb sind sie nicht längst im großen Lärm und im noch größeren Verstummen der Zeit verflogen? …
Sind es kleine Wunder und Zufälle, Launen der Geschichte, kuriose Kausalitätsketten, die gegen alle Wahrscheinlichkeit für die Durchsetzung eines untergangsbedrohten Stücks der Vergangenheit sorgen, weshalb es uns in Hochstimmung versetzt, wenn wir solche unerfindlichen Vorgänge nachzeichnen?
… Ein solches Staunen kann uns angesichts der Überlieferung der Telemann’schen Musik zum Beispiel tatsächlich überkommen. Die unermessliche Fülle seines bis heute längst nicht erschlossenen Nachlasses hat eine Gänsehaut-Geschichte, seit sein Enkel zahllose Manuskripte des Großvaters nach Riga mitnahm. Aus der dem Untergang geweihten baltischen Welt führten teilweise vertraute Namen diese Schätze im 19.Jahrhundert nach Berlin, an die Sing-Akademie. Dort gingen sie im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit so vielem anderen verloren. Vor zwanzig Jahren aber, als niemand mehr an ihre Fortexistenz glaubte, wurden sie völlig überraschend wiederentdeckt und konnten schließlich dem Preußischen Kulturbesitz zugeführt zu werden. Ein halbes Jahrhundert lang aber waren sie rätselhaft erhalten geblieben ausgerechnet in … Kiew[ii]!
Doch solche Wechselfälle der Geschichte sind es nicht, die dem Inhalt der Jahre vor und des Monats nach Ostern ihre unermessliche Bedeutung verleihen. Es sind einzig die begrenzten, aber unwiderruflichen Taten, die wenigen, leichten und doch unvergänglichen Worte Jesu, die alle späteren Zeiten durchdringen: Dass er Hunger bekämpfte und Krankheit, dass er Isolation aufsprengte und Verstoßene in sein Herz schloss, dass er Gott in der Wirklichkeit und den Tod als vergänglich zeigte, … das begründet die Liebe zu ihm, die nie wieder verlosch.
Und was er sagte - nach Ostern, als das Ende des Endes anfing - das ist die Quelle und der Stoff des Glaubens, der bis hier und heute in unsere Gegenwart und weiter noch und weiter reicht.
Wenn wir heute also, am Ende der diesjährigen vierzig Tage nach der Auferstehung, am Ende der vierzig Tage, die aus Liebe Glauben machten, in unserer Zeit des Hassens, Zweifelns und Verzweifelns wissen wollen, was uns Heutigen die Sicherheit und Zuversicht einer „Victoria!“-singenden Seele geben könnte, dann sollten auch wir wieder - in aller Bereitschaft uns vom Geringfügigen überraschen zu lassen – die wenigen, unglaublich kostbaren Worte Jesu hören, die überhaupt nur zwischen Ostern und Himmelfahrt überliefert sind.
Sie kristallisieren sich um nicht einmal zehn Motive herum.
Das stärkste ist sein Gruß, seine Zusage: „Frieden!“ (vgl. Lk.24,36; Joh 20,21+26;). Der, an Dem der Tod scheiterte, bringt trotz dieses allesentscheidenden Konflikts zwischen dem Beendiger und Vernichter aller Existenz und der Kraft des Lebens kein anderes Versprechen, keine wichtigere persönliche und politische Verheißung als dieses: „Frieden!“ – Das „Victoria“ des Glaubens ist also nicht Siegesgeschrei der Entscheidungsschlacht, sondern die Gewissheit, dass das letzte Wort der Frieden haben wird.
Das andere, was Jesus nach dem Abstieg in das Reich des Todes hören lässt, ist: „Fürchtet euch nicht!“ (Matth.28,10) – Wer österlich „Victoria“ ruft, besingt also nicht die Vernichtung des Feindes, sondern die Freiheit von aller Furcht vor ihm.
Als Nächstes dann spricht der Auferstandene Jesus in vielen Wendungen eine einfache, endlose Weisung aus: „Geht!“ – Geht nach Galiläa (vgl. Matth.28,10), zu meinen Brüdern (vgl. Joh.20,17), in alle Welt (vgl. Matth.28,19). – Der Sieg von Ostern ist also nicht im Stillstand - weder der Waffen noch der Uhren -, sondern in der Bewegung, im Fortschritt, im Weitergehen und -geben des Lebens zu suchen.
Ein weiteres Wort nun finden wir in Jesu Mund nach dem Wunder des dritten Tages, … etwas, das wir mit ewigem Leben und Himmelreich und allem, was wir sonst „Jenseits“ nennen, auf keinen Fall verbinden, auch wenn in unserer Wirklichkeit alles danach schreit, … mehr als nach allem anderen: Es ist das Essen (vgl. Lk24,41; Joh.21,5; vgl. dazu Mk.14,25!). Jesus will, ja Er muss gemeinsam mit den Jüngern wieder Nahrung verzehren, die den Hunger nimmt, um zu zeigen, dass Er auch auf der anderen Seite des Grabes ein Mensch unter Menschen und keine Erscheinung ist. – Die lebensbejahend-weltliche Barockmusik Telemanns ist da ein richtiges Signal, dass die Auferstehung nicht „ab von’s Weltliche“, sondern in die kreatürliche Gemeinschaft mit all dem begrenzten Leben, das doch nur leben will[iii], führt.
Der nächste unerschöpfliche Wink des nicht mehr Sterblichen in den Tagen seines Umgangs mit den Sterblichen ist die wiederholte Erinnerung, dass das Leiden und überwundene Grauen seiner Folter und Hinrichtung nicht einfach zynischer Willkür entstammten. Jesus legt nämlich nach Ostern ebenso wie vorher die Tora und die Propheten aus (vgl. Lk24,25-27 + 44-48), um aufzudecken, dass Gott einen Plan hat und trotz allen Anscheins Nichts endgültig der Sinnlosigkeit überlässt. – Diese Trophäe, diese Beute des Ostersieges ist vielleicht gerade heute die Entscheidende: Sieg bedeutet für uns, gegen die Diktatur des Destruktiven zu kämpfen und festzuhalten, dass wir - auch in der gegenwärtigen Welt! - echten Sinn für möglich und trotz aller Lüge zuletzt für wahr halten!
Und dann ist da der Dreiklang in Jesu Worten während seiner letzten Erdentage, der sofort ahnen lässt, weshalb in der irdischen Geschichte niemals zuende gehen wird, was diese wenigen Äußerungen an Echo, Aufschwung und Jubel hervorrufen: Jesus spricht in den vierzig Tagen vom Bleiben Seiner Jünger (vgl. Joh.21,22f) und Seinem Bleiben bei ihnen (vgl. Matth.28,20); Er spricht von der Kraft, die Er hat (vgl. Matth.28,19) und von der Kraft aus der Höhe, die Er ihnen senden und schenken will (vgl. Lk.24,49; Apg.1,5+8; Joh.20,22) und schließlich spricht Er von der Mission, die in Seinem Namen, im Glauben an Seine Gegenwart, ohne Ihn zu schauen (vgl. Joh.21,29) und unter Seinem Segen alles Geschehen durchziehen wird, bis alle Welt die Weisung Gottes (vgl.Matth.28,20) und Vergebung der Sünden (vgl. Lk.24,47; Joh.20,23) und das heißt freien, eigenen, wahren Zugang zu Gott gefunden hat (vgl. Joh.20,17). – Wenn das Rezitativ der Telemann’schen „Victoria“-Kantate also vom Auferweckten singt „Er triumphiert, daß ich dereinst soll triumphieren“, dann ist damit die universale Erlösung, Versöhnung und Verbindung zwischen der verlorenen Menschheit, die kraft- und ziellos vergehen muss und dem bleibenden, belebenden Gott gemeint. Es wäre also irreführend, in der Solokantate bloß die Feier pietistischer privater Erlösungsfreude zu finden: Ihr Sänger ist Stellvertreter sämtlicher Menschen. ———
In den vierzig Tagen zwischen Ostern und Himmelfahrt hat Jesus also mit spärlichen Worten und in einfachster Klarheit die Perspektiven aller Lebenswege und Zeitalter, die noch kommen sollten, aufgezeigt:
Der Frieden, der alle Angst hinter sich lässt, wird durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit lösen und in den universalen Bund mit Gott endlich einbeziehen.
Oder wie es bei Lukas (Apg.1,2f) heißt: Nach seiner Auferstehung gab Jesus „den Aposteln, die er erwählt hatte, durch den Heiligen Geist Weisung. Er zeigte sich ihnen nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes.“ ——
Drei Jahre Verkündigung und Rettungswunder, die tiefe Liebe hervorriefen, und vierzig Tage voll schlichter, erleuchtender Offenbarung der göttlichen Ziele für die Todbefreiung des Lebens insgesamt, die bei seinen Jüngern den Glauben begründeten, haben nun-mehr also genügt, um zwei Jahrtausenden Hoffnung zu geben.
… Nichts anderes ist ja die Rede vom Reich Gottes, als diese unendlich tiefe, starke, zähe Hoffnung, die sich aus der Liebe zum Menschgewordenen und aus dem Glauben an den Auferstandenen speist. ——
… Natürlich werden und natürlich müssen Außenstehende da seufzen oder sogar höhnen: „Was für eine Luftnummer!“ …….
… Aber sind wir nicht alle in den vergangenen Wochen zu Außenstehenden geworden, … zu Menschen, die außer sich sein sollten, … zu Christen, die neben sich stehen müssten, wenn wir nur ein wenig in unsere Zeit hören, die so grausame Ereignisse und so brutale Erfordernisse demonstriert?! …….
… Mit der Welt im Reinen, selbstgewiss oder gar siegessicher kann im Ernst doch niemand von uns sein, wenn wir die wirklichen Tragödien und die tragische Wirklichkeit des brutalen Krieges, der menschlichen Niedertracht, der gefährlichen Ratgeber und der ebenso gefährlichen Ratlosigkeit unserer Tage bedenken. …….
… Wenn uns so aber alles Rechthaben auf der Zunge verwelkt und alles Bescheidwissen sich in unserm Denken verflüchtigt, … weht es uns denn nicht gerade dann unwiderleglich an: Bessere Worte, gesegnetere Weisung, eine seligere Verheißung kann unsere Zeit gar nicht treffen, als diejenige, die der Auferstandene uns mit seinen wenigen Worten hinterlassen hat als Er auffuhr, um das Reich Seines Vaters vom Himmel aus der Welt endgültig nahezubringen?!!!
… Dass Frieden werden wird, der alle Angst hinter sich lässt, … dass durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit gelöst und endlich in den universalen Bund mit Gott einbezogen werden soll, … das ist doch das Einzige, das uns überhaupt noch zu atmen hilft.
Und mehr verlangt ja niemand unter allem Lebendigen jetzt und in Ewigkeit, als nur dass Gott uns Seinen Geist, den Hauch und das Wort Seines Mundes, von dem und durch das wir leben, nicht entziehe!
Dass Er aber weht und belebt, dass Gott Seinen Geist sendet und dass Sein Reich kommt, indem Jesus wiederkehren und alles zurecht bringen wird … genau das ist es, was uns aufatmen lässt seit das Leben, das wir am Karfreitag beendet sahen, sich nach Ostern wieder regt, voll Atemluft der Ewigkeit.
Wo uns der nun aber streift - Atem Dessen, Dem der Atem im Tod stillstand - , wo wir Luft schöpfen dürfen mit allem, was Odem hat, um für immer auf- und durch- und weiter zu atmen, …da antwortet alles in uns wohl mit ganzem Recht auf die „Luftnummer“ des Evangeliums bei jedem Ein- und Ausatmen: „Victoria! … Leben!“
Amen.[i] Zu Telemanns (erhaltenen) Kantaten vgl. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Bd. I: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt/M 1982, hier: S.214f.
[ii] Vgl. dazu: Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber 2017, S. 308f.
[iii] So Albert Schweitzer berühmte Formulierung für das Kernmotiv seiner Ethik.
Kantate, 15.05.2022, Stadt- und Jonakirche, Lukas 19,37 - 40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Kantate - 15.V.2022
Lukas 19,37-40
Liebe Gemeinde!
Am vergangenen Wochenende, bei den Konfirmationen habe ich noch einmal wirkliche Zuversicht aufgebracht und aus Überzeugung den Jugendlichen, die an der Schwelle des Lebens stehen, Mut zu machen versucht. Als Christinnen und Christen haben sie einen Glauben bestätigt und sollen ihn künftig weiter erfahren, der wirklich die - einzig - „Gute“ Nachricht ist und dessen tragende Kraft, dessen kraftspendende Verheißung sich auch in Widrigkeiten bewähren und im Schweren erweisen wird. Dessen bin ich gewiss.
Aber ebenso gewiss bin ich dessen, dass wir dem christlichen Glauben und dem Evangelium, auf dem er ruht, lange schon nicht mehr gerecht werden, wenn wir ihn nur zur Motivationsenergie erklären. Die Botschaft, von der wir leben, ist keine der vielen optimistischen Illusionen, keiner der zahlreichen Positivitäts-Tricks, mit denen sich das Publikum heute abspeisen lässt und selbst betäubt. Die unreife Haltung, die um sich greift, dass Menschen sich weismachen, Leben sei ein Produkt in Frischhaltefolie, das dauerhaft glatt und im Geschmack gleichbleibend allergiefreundlich sein werde, … diese Haltung verwöhnter Kinder darf nicht noch mit billigen christlichen Parolen unterfüttert werden.
Das Leben ist nicht nur nett und lecker, sondern auch hart und bitter.
Und wer sich an reine Schonkost gewöhnt hat und meint, aus solcher Bequemlichkeit einen Anspruch ableiten zu dürfen, die Welt müsse ihm regelmäßig und ausschließlich servieren, was er gernhat, ist auf dem Holzweg. In den Enttäuschungen, die da unweigerlich eintreten, und in den tatsächlich schockierten Reaktionen auf die Realität, die nicht wunschgemäß ist, wird nun aber immer wieder angst- und vorwurfsvoll gefragt, ob Gott denn nicht der Garant des Gelingens sei und ob das Glück denn also nicht als Garantiefall eingeklagt werden könne? … Was anderes, als eine solche Rundum-Sorglos-Versicherung solle denn bitte Segen sein? ——
Und darum will ich, wenn es nicht um die Jugendlichen geht – deren Leben wir Erwachsenen und Älteren schon mit einer Dreistigkeit belastet haben, die unverzeihlich ist – in absehbarer Zeit nun nicht mehr nur von der berechtigten Zuversicht, sondern vom ungeschminkten Realismus des Glaubens sprechen.
Unser Glaube fängt an mit der nüchternen Erkenntnis: Die Menschheit lebt in der Welt, die sie aus Gottes Schöpfung gemacht hat. Es war ein Garten, geschützt durch Gott. Der Mensch hat daraus die Bühne seines eigenen Willens gemacht. Das freie Können und Lassen wurde so durch menschliche Wahl zu menschlichem Müssen - im Guten wie im Bösen. Weil der Mensch sich entschied für den Verzicht auf Gottes Schutz.
Und in dieser Welt, in der der Mensch aus Abneigung gegen jede Bevormundung allein seine Verantwortung tragen wollte, muss er seine Entscheidung nun leben: Der Mensch, der Adam und Eva heißt und die ganze Menschheit umfasst, auch wenn wir Individualisten das nicht werden wahrhaben wollen, bis es uns auf die schmerzhafteste Weise dämmern wird …, aus Abneigung gegen jede Bevormundung hat der Mensch also wirklich zu tragen.
…Viel zu tragen: Folgen hat er zu tragen. Lasten, die ungleich verteilt sind. Risiken, die sich nicht in individueller Betrachtungsweise, sondern nur in der Bilanz des großen Ganzen zeigen. Der Mensch hat zu tragen und zu ertragen, dass die Freiheit, die er sich nahm, nur ein Teilchen ist, das mit so vielem Anderen in Widerspruch gerät, das in den von Gott gegebenen Gesetzen blieb: Himmel und Erde, Stoff und Geist, Wasser und Land, Tier und Pflanze, Tod und Leben. Sie alle folgen dem alten und klaren Gesetz von Ursache und Wirkung. Nur der Mensch in seiner Freiheit meinte, für ihn gelte nicht, dass man erntet, was man sät, … dass wo Licht ist, auch Schatten sein muss, … dass vor Gott nichts bleibt und nichts verjährt, … dass zum Geborenwerden das Sterbenmüssen gehört und zum Lachen das Weinen, zur Höhe der Fall und zum Haben der Verlust. Dass alles also Echowirkung hat.
… Der Mensch: Die Ausnahme.
Der Mensch: Ein freier Einzelner, ein spontaner Solist, eine Stimme nur für sich, in eigener Sache und niemals Ausführender im Werk eines anderen!
Darum ist der Mensch, der weitere Zusammenhänge leugnet und vergisst, der sich so gern als uneingeschränkt empfindet und nur die eigenen Zielen auf eigene Weise verfolgt, so verwundert, so verstimmt, wenn er spürt, dass er einer unter Vielen sein muss und dass sich das Leben eben doch nicht nach seinem Taktstock, seiner Pfeife richtet, sondern aus der Harmonie und Spannung, aus der „Sym-Phonie“ - dem Zusammenklingen - und der „Dis-Sonanz“ - der Unterbrechung der Stimmigkeit - des großen Gesamtkörpers besteht. Er wollte ganz allein das eigentliche Organum[i], die große Orgel also sein - der Mensch! - und ist doch bloß … eine Pfeife! ————
Warum aber nun dieser lange Umweg über Schöpfung und Sündenfall, über die menschliche Freude am Solo ohne Chor und Orchester und den Hauch und Atem Gottes, der dennoch alles durchweht und endlich in allem zum wohltönende Vollklang kommen wird?
Weil wir heute vom Jesus-Chor hören.
… Sonst sind die Zwölf seine Schar, sein Gefolge, sein Freundeskreis. Manchmal sind es auch nur Einzelstimmen, wenn Petrus mit seinem Bass groß von seiner Treue zum Meister tönt (vgl. Lk.22,33), oder Jakobus und Johannes jeweils mit krähendem Tenor beanspruchen, Stimmführer zu sein (vgl.Mk.10,35). … Oft schwätzen, noch öfter schweigen die Jünger.
Dabei kann doch, wo zehn jüdische Männer zusammen sind, der Gesang nie weit weg sein. Beten und Singen sind in Israel eines. Und jeder zwölfjährige Knabe muss wahrhaftig weder erst das Lesen noch den Text der Heiligen Schrift lernen, um in der Synagoge als mündig aufgenommen zu werden, sondern er erwirbt die religiöse Reife, indem er die Melodie eines bestimmten Abschnitts der Torah auswendiggelernt und vorgesungen hat.
Wer glaubt, wer bekennt, wer die Schrift beherrscht und nach dem Wort lebt, der ist in der Welt Jesu wie im heutigen Judentum also ein singender Mensch.
Und der Klangteppich des frommen Lebens ist so dichtgewirkt, dass manche Melodiefetzen, manche Tonfolgen eine so feststehende Bedeutung haben, dass sie von Hoffnung oder Buße, von Jubel oder Trauer zeugen auch ohne Worte. In späteren Zeiten haben die Wunderrabbiner und mystischen Gebetslehrer des chassidischen Judentums jeder seine typische Summweise, seine charakteristische Versenkungsmelodie, die nicht auf Worte, sondern endlos auf sinnfreie Silben – oijoijoij, daidaidai – wiederholt werden und so auf Flügeln des Gesanges die Seele rein, ohne allen Gedankenwust zu Gott führen. Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ sind ein Nachklang der heiligen Tonleitern und Himmelsvokale, auf denen sich die jüdische Frömmigkeit über die dunkle Welt erhebt.
Und das christlich-musikalische Erbe der festen Psalmtöne, der gesungenen Stundengebete, der bestimmten liturgischen Weise für jeden großen Text, ist die uns ganz nahe Erinnerung daran, dass Gottes Leute keine Monotonie und kein brütendes Verstummen kennen, sondern ihr Vertrauen und ihre Sehnsucht, ihre Bitten und ihren Gehorsam stets hörbar, erfüllt vom lebendig-bewegten Atem des Geistes miteinander und der ganzen Schöpfung teilen.
Das verdammte Corona-Schweigen der beiden letzten Jahre ist also nicht nur ein kultureller Verlust, sondern eine geistliche Erkrankung geworden, denn wenn die Gemeinde nicht mehr auf die Weise Gottes eingestimmt und nicht mehr vom Grundton des Glaubens bestimmt wird und wenn sie ihr Bekenntnis nicht mehr vernehmlich anstimmt und wenn ihr atmendes Miteinander also gar nicht mehr stimmt, dann ist der Sündenfall, in dem jeder nur für sich ist, zwischen uns wieder eingetreten.
Darum ist es so zum Aufmerken und Hinhorchen, dass wir heute zu Ohrenzeugen werden, wie aus Jesu Jüngern ein Chor wurde!
Sie singen - wie gesagt - erstaunlich wenig in seiner Gegenwart, obwohl doch der Psalmbeter in dem schönen Hochzeitspsalm (45,1), der immer schon auf die Verbindung des Messias mit seiner erwählten Gemeinde gedeutet wurde, sagt: „Mein Herz dichtet ein feines Lied, einem König will ich es singen“!
Die einzige Gelegenheit also, bei der Jesu Jünger nun endlich wirklich sein Lied anstimmen, … die einzige Singwoche ihrer Zeit mit dem Heiland ist … seine letzte!
Die Jünger stimmen unter freiem Himmel ihren hellen, überwältigenden Jubel am Palmsonntag an, und am Gründonnerstag singen sie im Obergemach in Jerusalem die Hallelpsalmen (Pss.113-118) der Passaliturgie (vgl. Matth.26,30), ehe sie in die Nacht von Gethsemane und in das große, furchtbare Karfreitags-Verstummen aufbrechen.
Zweimal nur singen sie sich also die Seele aus dem Leib, zweimal nur lassen sie in ekstatischer Erhebung ihrem Gefühl für Ihn, ihrer Zuversicht, ihrer Inspiration durch den Geist, der sie durchflutet, freien Lauf: Bei seinem Einzug singen sie die Erlösungshymne des 118.Psalms, den wir während der Osterzeit immer wieder anstimmen – „Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN!“ – verbunden mit dem weihnachtlichen Gloria: „Friede im Himmel, Gloria in Excelsis!“, und mit den Worten des gleichen 118.Psalms endet ihre Feier des Abendmahls in der Stunde seiner Agonie und ihres Verrates.
Der Chor, den Jesus geweckt hat, das Lied seiner Jünger ist mithin - ohne dass sie es ahnten - Gesang im Zeichen des Unheils, es ist Singen im Angesicht des Todes.
Und darin ist es der bleibende Maßstab für unser eigenes Dasein als singende Kirche: Die Musik der Kirche, die Melodie des Glaubens ist keine Tonspur für das Selbstverständliche, sondern sie erhebt sich da, wo man sie nicht erwartet und wo sie nicht einmal einordnen lässt.
… Nicht dass wir unsere Schlager also in heiteren Zeiten dudeln, nicht dass wir Marsch- oder sonstige Begleitmusik für das geordnete Leben liefern, nicht dass wir Feierliches nur steigern, Festliches hübsch verzieren, Fröhliches noch anheizen ist der Sinn unseres wahrnehmbaren Miteinanders, sondern dass wir uns aus der Vereinzelung, der solistischen Beschränkung auf eigene Befindlichkeiten lösen und unsere Stimme erheben, wenn es am unwahrscheinlichsten ist und man es am wenigsten vermutet.
Dass Jesu Jünger erst da zu Sängern werden, wo Er selbst bald den letzten Atemzug tun wird, ist dafür ein eindringlicher Beweis! Dass Jesu Jünger ahnungslos also gerade dann herrlich hörbar werden, als Er beinah schon zum Verstummen gebracht wird, ist wirklich ein unmissverständlicher Wink:
Wer sich nur in eigener Sache äußert, wer nur das aufgreift und ventiliert, was ohnehin schon in der Luft liegt ist, gehört nicht in den Chor Jesu. Diejenigen unter uns, die nur jaulen, wenn ihnen etwas wehtut, … die nur pfeifen, wenn sie eine Glückssträhne empfinden, … die man nur von den eigenen Sorgen und Erfolgen tönen hört, … von deren Lippen nur das Rühmen des eigenen Namens und das Beklagen des eigenen Geschicks fließt, … die sollen schweigen in der Gemeinde: Ihre Stimme, die nur von sich selbst und für sich selber spricht, wird sich niemals in den Jubel oder die Klagelieder der Kinder Israels, in das Gloria der Jünger Jesu, in die Liturgie der heiligen christlichen Kirche einfügen lassen!
… Nur wer vor der seltsamen Erkenntnis nicht zurückschreckt, dass die ersten Nachfolger Jesu erst in der Karwoche zu seinen vernehmlichen Zeugen, zu seinem willkommenen Chor wurden – „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien!“ –, nur also, wer das Singen als das wissentliche oder unwillkürliche Stärken und Trösten Anderer im Leid versteht, kann mitsingen in der Gemeinde Jesu Christi!
Was man im politischen Bereich als Utopie gerne einmal durchspielte – wie wäre es z.B., wenn heute niemand an der Wahlurne seine Stimme nur für sich abgegeben dürfte, sondern jeder die eigene Stimme einlegen müsste für einen anderen Menschen und dessen Anliegen?! – … was also im politischen Bereich unvorstellbar ist, das soll uns im geistlichen Bereich je länger desto lieber und leichter, desto bewusster und bewegender werden: Unser Lied und Lob, unser Halleluja und unser Kyrie-Ruf, unsere Zukunftshymnen und Sterbechoräle sind nicht die Äußerungen unserer persönlichen Befindlichkeit, sondern sie dienen viel größeren Zwecken, … sie dienen Anderen und darin dienen sei dem Herrn, … denn sie sind wortwörtlich Liturgie, also „Dienst!“ ———
Die in der Karwoche singende Jüngerschar, die Lieder, die - auch wenn ihre Sänger vor und in Jerusalem es nicht ahnten - das Kreuz leichter tragen, den Schmerz gefasster durchhalten, das Sterben zuversichtlicher dulden ließen, … diese älteste und einzige Musik, die Menschen in den Evangelien anstimmen, hat daher aber auch gerade mit unserer Zeit zu tun!
Dass es eine Zeit ist, in der die gewohnten und die frivolen, die leichtfertigen und die harmlosen Lieder und Lebensweisen uns plötzlich nicht mehr geheuer sind, in der uns das unbedachte Trallala vergeht und die Stille einer tiefen Sorge, bald dann wohl aber auch wieder das dumpfe Alltagsrauschen der Gewohnheit sich unaufhaltsam ausbreitet, … dass es eine solche ernste Zeit ist, bedeutet nicht, dass wir als die Kirche Jesu Christi nun unsere Gesangbücher schließen oder die ohnehin schon viel zu kurz und unvertraut gewordene Liturgie einstellen sollten.
Im Gegenteil:
Singen ist unser Amt im Angesicht des Schreckens, der verstummen lassen will!
Lob ist unsere Weise, wenn die Welt sich fürchterlich gibt!
Gott zu preisen und zu verherrlichen mit Seiner ganzen Schöpfung, ist und bleibt der Sinn unseres Lebens und Atmens bis zum Schluss.
Je realistischer wir die Welt sehen, desto klarer zeigen uns die singenden Jünger in Jesu letzten Lebenstagen: Wir sollen unsere Zeit in Trost und Zuversicht verwandeln bis zuletzt.
Gott sollen wir singen solange wir leben.
Nichts als Sein Lied soll auf unseren Lippen sein.
… Denn dann stimmen wir ein in das, was immer neu ist in unserer alten, grausamen Realität der durch den Menschen so unglücklich gewordenen Welt der Einzelgänger: Das Lied der Gemeinde des Mose und des Lammes[ii], … die Melodie des Chores der Ewigkeit, … das Halleluja aller Zungen, das nie verklingt.
Amen.[i] Wer dabei an Francis Bacons Grundlagenwerk „Novum organum scientiarum“ denken muss, mit dem 1620 in England der Paradigmenwechsel von der religiös-philosophischen Weltsicht zur technisch-empiristischen Weltbeherrschung eingeläutet wurde, liegt nicht falsch.
[ii] Schriftlesung an Kantate ist Offenbarung 15, 2- 4: ... Zugleich das Ziel aller unserer Zeit.
Veranstaltungskalender
27.06.2022
Mach' mit - Café01.07.2022
Gebetskreis in der Stadtkirche07.07.2022
Planungstreffen des Kulturtreffs16.07.2022
Fahr' samstags Rad!20.07.2022
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