Altjahresabend, 31.12.2020, Stadtkirche, Jesus Sirach 1, (18) 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahresabend 2020
Jesus Sirach 1, 18 (Vulgata: 22)
Liebe Gemeinde!
… Sollen wir Bilanz ziehen?
Oder ist das nicht das Tagesgeschäft seit Monaten schon, dass wir dieses schön mit der doppelten 20 so symmetrisch, so parallel geordnet daherkommende Jahr vermaledeien und verwerfen, weil es in Wahrheit nun gar nicht einzuordnen, gar nicht ebenmäßig, sondern unrund und chaotisch und voller Brüche ist?! ….
Doch, wir ziehen Bilanz: Viel zu danken. Viel zu lernen. Viel zu hoffen. Viel zu üben. Viel zu verbessern und viel zu vergessen.
– Nur das Eine nicht, das nottut: „Was Er dir Gutes getan hat“ (Ps.103, 2)! ——
Das Jahr, das jetzt leiser, als es seit Jahrzehnten üblich war, Vergangenheit wird, hat niemanden ungerührt lassen können. Der Alltag wurde 2020 zu etwas Köstlichem. Und Selbstverständliches hörte auf verachtet zu sein. Globales durchdrang den eigenen Lebensraum, wie es für Weltbürger, die keine Höhlenmenschen mehr sind, sein muss. Angst und Unverstand, Tapferkeit und Wissenschaft begegneten einander und ihr Ringen dehnte sich aus der öffentlichen Arena bis in jeden einzelnen Zug unseres Denkens und Handelns. Und wir wuchsen über Gewohnheiten hinaus und versagten in einfachsten Herausforderungen. Medizin und Menschlichkeit, nackte Sorge, ungeahnte Langeweile, turbulente Spannung bestimmten in ihrem Durcheinander die Schlagzeilen und die Stundenpläne. Wirkliches oder dessen Ersatz, die Not mit der Nähe, die heiligen Urerfahrungen von Berührung und Gesang: Alles kam auf den Prüfstand, und wenn wir nicht demütig daraus lernen, wovon der Mensch lebt und was ihn zum Menschen macht und weshalb er keine Maschine ist und werden darf, dann käme ebenso eine Zivilisationsfinsternis, wie wenn nach dem Impfen nur der geile Reigen der Hemmungslosigkeit anbräche, den die Soziologen für die wilden Zwanzigerjahren vorhersagen. —
Über dem allen aber wurde die ernsteste Mahnung, die jede Stunde von Neujahr bis Silvester predigt, vielen von uns ungewollt bewusst: Zeitlich sind wir und darum steht nichts fest; sterblich sind wir und also nie sicher. —
Ob aber das Unvorhersehbare und Ungewisse dieser Tage ein Vorbote großer Verdunkelung oder der Aufbruch zu einer vorsichtigeren Weise des In-der-Welt-Seins war, können wir nicht sagen, … gebannt wie wir sind an den jeweiligen Augenblick, der je und je so unterschiedliche Folgen freisetzen kann. ——
Doch gerade bei diesem Eingeständnis, dass die Zeichen der gegenwärtigen Zeit bei aller Eindrücklichkeit keine Eindeutigkeit ergeben, kann uns eine der großen Konstanten der Geistesgeschichte des Glaubens zur Eröffnung klarer Perspektiven werden.
Ich meine ein biblisches, ein jüdisches und christliches Prinzip, das so uralt und so verdrängt ist, dass seine Vergessenheit es beinah schon wieder frisch macht: Es ist der unvordenkliche Grundsatz, dass unsre Erkenntnis und damit aller Sinn, dass sämtliche gültige Wahrheit und jedwede Anwendung unseres Intellektes anhebt und hinzielt auf die Gottesfurcht.
… Da zucken wir. … Und grinsen. „Gottesfurcht“ ist keine geläufige Vokabel des 21.Jahr-hunderts und war es schon seit dem 18. nicht mehr.
Und wenn tatsächlich die logische und technische Vernunft, die wir experimentell entgrenzen und verfeinern, wenn tatsächlich der materielle und der virtuelle Kosmos, die wir entwerfen und gestalten und verschmelzen, unter das Vorzeichen oder in die Perspektive der „Gottesfurcht“ gerückt werden sollen, dann klingt das für die wenigsten von uns noch nach der großen abendländischen Tradition, die von Aristoteles bis Anselm, von Thomas über Erasmus bis zu Kant das Denken ja nicht etwa theologisch unterdrückt, sondern christlich universalisiert und humanisiert hat, … sondern für die allermeisten von uns ist „Gottesfurcht“ eher gleichbedeutend mit der Rückständigkeit, die das Stichwort Scharia hervorruft.
Wie um alles in der Welt sollte also ein so ungeschmeidiger, archaisch-absoluter Begriff wie ausgerechnet „Gottesfurcht“ uns in der komplexen Pluralität und Zufälligkeit unserer Krisen weiterhelfen? Wie viele Fliegen soll die eine Klatsche denn zu unserer Beruhigung treffen?
Doch es war – entgegen landläufiger Meinung – nie naiv, wenn die Frommen Israels und der Kirche in der Gottesfurcht das erste Motiv und das letzte Kriterium unseres Selbst- und Weltbewusstseins fanden.
Es war vielmehr immer schon der alles-entscheidende Vorbehalt vor dem katastrophalen Irrtum, der Mensch sei alles, … einem Irrtum, der entweder in die Hybris, in den Größenwahn führte, als wäre Gott vom Menschen erledigt oder aber zur Resignation, zur Verzweiflung, dass der Mensch von Gott verlassen sei.
„Gottesfurcht“ ist also ein rettendes Korrektiv, das aus der Isolation befreit. Weder Angst, die ja immer tiefer in die Einsamkeit treibt, wie unsere Viren- und also Menschen- und letztlich Lebensfurcht es beweist, noch die Sklavenmentalität, die Nietzsche am Christentum verabscheute, sind das, was im Glauben seit jeher wegweisender Maßstab war.
Eher sollten wir darin das sinnenscharfe Bewusstsein sehen, uns an einer Intention beteiligen zu können, statt uns reiner Willkür auszuliefern.
Wer das aber spürt – dass er selbst als Geschöpf im Entwurf aller Dinge nicht Objekt, sondern Teilhaber ist –, dem gehen Werte und Wunder auf, die sich nicht im Materiellen erschöpfen.
Die Tiefe und Weite des Wirklichen erwachen ja für den, der auf seinem Feld nicht nur zum Täter oder Opfer, sondern zum Zeugen berufen ist.
Wo wir aber eines größeren Forums innewerden, dessen Urteil nicht allein unserem augenblicklichen Nutzen und Lustgewinn gilt, da erfassen wir das Gewissen nicht mehr bloß als überflüssigen Blinddarm oder nutzlose Wolfskralle, sondern als Antenne für die Richtung, die unser eigener Beitrag zum Ganzen nehmen soll.
Und so formt die Einsicht, dass wir nicht Urheber des Alls und auch nicht seine Tyrannen sein können, uns viel mehr zu mündigen Wesen als die vermeintliche Unabhängigkeit gottloser Erfahrung es vermag.
Weit davon entfernt, den Menschen zu knechten, befreit die Gottesfurcht ihn also zur respektvollen Aufmerksamkeit für das Gefüge des Lebens und zur zuversichtlichen Einbindung und Entfaltung seines persönlichen Scherfleins in das Kunstwerk der sinnreich geschaffenen Gesamtheit.
… Wollten wir sie also mit unseren Worten beschreiben – die alte Ehrfurcht, die der biblische Glaube immer schon als Grundhaltung und Erkenntnisziel gelehrt hat –, dann müssten wir von ethischer Lebensbejahung oder empathischer Weltverantwortung sprechen, die geborgen sind in einer unverbrüchlichen Gottesbindung. ——
Was aber trägt eine solche Meditation über die jahrtausendelange Überlieferung, die in der Einordnung unter Gottes Willen nicht Beklemmung, sondern Befreiung erfährt, denn noch aus in der Lage, in der wir heute sind?
Sind das nicht doch veraltete Schablonen und unbrauchbare Versatzstücke mitten im schrillen Schwirren von Inzidenzzahlen und im großen Schweigen des Abstandserlebens? Gehört die Gottesfurcht nicht irgendwo in das Archiv der frühen Menschheitsmuster, die heute nicht mehr tragbar sind?
— Salomo, der König vor dreitausend Jahren, als Israel plötzlich selbstbewusst aus dem Schatten der ägyptischen und mesopotamischen Mächte trat, hat der Gottesfurcht doch diese sprichwörtliche Rolle zugewiesen: „Aller Weisheit Anfang“ sei sie, sagte Salomo (vgl. Sprüche 1,7; 9,10; Ps.111,10); … was aber, wenn man so fortgeschritten ist wie wir, wenn der Ausgangspunkt der menschlichen Erforschung der Welt in grauer Vorzeit verloren liegt? … Was ist „die Furcht des HERRN“ denn dann?
„»Corona«, … die »Krönung« also, die höchste Auszeichnung aller Verstehensbemühungen des Menschen, das ist die Gottesfurcht bis zum heutigen Tag“, sagt ein anderer Weiser in Israel: Jesus, Sohn des Sirach, dessen philosophisches Trostbuch aus der Epoche stammt, in der Europa aus dem Geist der Griechen und den Sitten der Römer zu etwas zusammenwuchs, das dem fruchtbaren alten Orient an Kultur ebenbürtig werden sollte.
Die Ehrfurcht vor Gott, die fundamentale Achtung vor der Gabe und der Grenze, die den Menschen im Glauben begegnen, sind für Jesus Sirach auch vor dem Hintergrund hellenistischen Denkens nicht roher Ausgangsstoff, sondern schönste Besiegelung des Geistes.
Insofern ist es eine glückliche Fügung, dass mich der heutige Abend zu diesem uns fremden, für uns apokryphen Buch geführt hat.
Ich wollte das Wort, das in 2020 alles beherrschte, nicht einfach wiederholen und damit stehen lassen, als sei dieses Jahr nun plötzlich doch eindeutig.
Auf der Suche nach der biblischen Verwendung der lateinischen Vokabel blieb ich dann aber dort hängen, wo ich nicht heimisch bin: In den Büchern, die die Reformatoren verwarfen, weil sie zu ihrer Zeit nicht auf Hebräisch bekannt waren und deutlich jünger als alle anderen Schriften des Alten Testaments sind. Inzwischen sind in Qumran und andernorts große Teile des Urtextes von Jesus Sirach entdeckt worden, und da ich ohnehin eine Verpflichtung diesem Buch gegenüber spüre, weil einer meiner Urgroßväter wegen seines hartnäckigen Zitierens des jüdischen Weisheitslehrers aus dem öffentlichen Dienst des 3.Reiches entfernt wurde, habe ich mich am Beginn von Jesus Sirach festgelesen, in einem herrlichen Hymnus auf die Gottesfurcht, die Weisheit – also segensreiche Lebensethik – ist.
Und siehe da: In der lateinischen Bibel findet sich im 22.Vers des 1.Kapitels der einprägsame Vierwortsatz: „CORONA SAPIENTIÆ TIMOR DOMINI“ – „Krone aller Erfahrung und Wissenschaft ist der Respekt vor dem Herrn.“ Im Griechischen aber folgt (nach dortiger Zählung in Vers 18) die Bestimmung, dass diese Krönung aller Theorie und Praxis ὑγίειαν ἰάσεως, (unsere zentralen Themen des Jahres: Hygiene und Pflege!) d.h. „gesunde Heilung“ hervorbringt.
… Und das glaube ich auch!
Was wir brauchen – jetzt, am Schluss des europäischen Doppeljahrtausends, das zu Jesus Sirachs Zeiten heraufdämmerte –, ist genau diese, der Welt trotz allem vertrauende und das sterbliche Leben achtende, aber nicht vergötzende Einwilligung in die Weisheit des Schöpfers und Vollenders.
Wenn wir unsere Gründung in Seinem großen Werk, unsern Halt an Seiner allesumfassenden Wirklichkeit bewahren, dann entgehen wir den Gefahren der ängstlichen Einseitigkeiten und versöhnen, was wir sonst verabsolutieren: Gesundheit des Leibes und der Seele; die Ansprüche von Bedürftigen wie Befähigten; das Recht auf Schonung neben dem Recht auf freie Entfaltung; die Bereitschaft zu leben ebenso wie die notwendige Bereitschaft zum Sterben. In der „Gottesfurcht“, in der Beugung vor und der Einbettung in Gottes Welt- und Himmelsherrschaft schwinden die ausschließlichen Betonungen, mit denen wir – wie in diesem Jahr scheinbar so zwangsläufig – immer nur einen Akzent setzen und uns nur einem Anliegen widmen können, …. nicht, weil wir durch die Gottesfurcht plötzlich so viel mehr oder gar alles selber vermöchten, sondern weil wir uns einbezogen wissen in die unendliche, die gerechte, die gnädige Gesamtliebe Gottes.
Und wenn wir diese Krone der Weisheit erlangen, dass wir unser Leben und Erleben und alles Lebendige und Erlebte als Winke und Werke aus Gottes Hand verstehen, dann kommen wir zu der gesündesten, der nötigsten und heilsamsten Erkenntnis, die unsere ganze Gegenwart am meisten braucht: Wo Gott der Schöpfer und der Herr, ja der Heiland Seiner Schöpfung ist, da ist unser einziger geschichtlicher Auftrag in der Welt nicht jenes pulverisierende Verschleißen, das wir „Machen“ nennen, sondern das sorgfältige Hüten und Heilen des Gemachten; nicht als Hersteller, sondern als Wiederhersteller nehmen wir Christen Teil an Gottes Plan; nicht die Erfindung, sondern die Heilung der Welt ist die Aufgabe, vor die Zeit und Zukunft uns in der Furcht Gottes stellen.
So bringt sie nämlich Frieden und Gesundung. Das, was alle hoffen und was sie alle haben sollen.
Das vergessen wir gerade am Ende dieses schrecklichen Jahres nicht: Was Er uns Gutes getan hat und tut. Und wie wir nicht in Menschen-, Krankheits- oder Todesangst schweben müssen, sondern in Gottesfurcht leben dürfen.
„Benedices coronæ anni benignitatis tuæ“ sagt es ein Psalm (Vulgata:64,11) mit dem Wort, das uns so bis zum Überdruss verfolgt hat und das doch so viele andere Inhalte, so viel Verheißung und Hoffnung freisetzen kann: „Du krönst das Jahr mit Deinem Gut!“ (Ps.65,11)
Wünschen wir und suchen wir das für uns, für die Menschen, für alle Welt im kommenden Jahr: Die Krone der Weisheit, die uns heilt – DOMINI TIMOR SAPIENTIÆ CORONA!
Amen
1.Christtag, 25.12.2020, Stadtkirche, Jesaja 52, 7 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christfest - 25.XII.2020
Jesaja 52, 7-10
Liebe Gemeinde!
Weihnachten der Unsichtbaren: Das ist 2020 wahrhaftig.
Nicht im sozialkritischen oder im Märchen-Ton……. , obwohl es immer bitter richtig ist, dass wir wie Oscar Wildes glücklicher Prinz uns die Augen öffnen lassen für das massenweise unbeachtete, das übersehene, in Hintergrund und Tiefe, jenseits der Nachrichten verdrängte Leid und Elend dieser Erde: Gerade alle Unsichtbaren, ungern Gesehenen, von denen voller Absicht abgesehen wird, sollten uns Christen, wenn Gott uns Sein Licht aufgehen lässt, ja am meisten vor Augen stehen.
… Sonst wäre das obdachlose Kind aus dem Himmel umsonst in der unverschlossenen Höhle geboren worden, um die sperrangelweite Tür zum Vater zu werden.
… Wenn wir nicht wissen, dass Weihnachten die Einladung an alle ohne Ansehen ist, dann läuft es in’s Leere, in’s hirn- und herzlos Unsinnige.
Doch 2020 ist ein Weihnachten der Unsichtbaren in einer weiteren Hinsicht. Es wird gefeiert in einer Welt, die belagert und durchdrungen wird von etwas, das wir nicht sehen: Weil unsere Augen zu grob, zu ungeeignet sind, um es zu erfassen.
Ohne dass wir es wahrnehmen oder erkennen könnten, ist aber trotzdem das zackenreiche Virus zum ungekrönten Beherrscher der Weltlage bei der diesjährigen Weihnacht geworden. Und die Unsichtbarkeit verleitet wie alles, was unsere Begriffe übersteigt, zu Furcht und Zweifel. … Trotzdem aber sollte es bereits einem Kind von sieben Jahren bekannt sein, wie hilflos unsere Sinnesorgane ja tatsächlich bleiben, wie klein der Ausschnitt dessen, was wir wirklich mitkriegen und aus eigener Erfahrung bestätigen können, ist und wie tausendfältig, vielschichtig, ungezählt die Elemente und Geheimnisse der Wirklichkeit sein müssen, die sich uns entziehen! … Das müsste das Jahr, in dem Weihnachten im Schatten des Unsichtbaren liegt, uns lehren.
Und dann müsste es uns – wenn wir die Grenzen der Empirie, der Beobachtung und Anschaulichkeit verspüren – leichter, sogar leicht werden, vor der Grenzenlosigkeit zu stehen. …
Da stehen wir nämlich wirklich. Wir vor ihr, … die Grenzenlosigkeit vor uns.
Denn wir stehen vor Gott.
… Das ist ja Weihnachten: Die Grenzenlosigkeit, die alles Verstehen übersteigt (vgl.Phil4,7), ist in den winzigen Ausschnitt eines einzigen Wesens gekommen. Die unendliche Gesamtheit beginnt endlich – „endlich“ im doppelten Sinn – irdisch zu leben! —
Eigentlich müsste so etwas völlig unbegreiflich, völlig unfassbar sein, wenn wir die Botschaft von der Sichtbarkeit des Geistes, von der Geburt des Ewigen, von der Individualität des Universalen angesichts jenes kleinen Kindes von Bethlehem hören.
Das sprengt doch alles Denkvermögen, obwohl Menschenaugen das schmatzende oder greinende oder schlummernde Körperchen voller Verletzlichkeit wahrhaftig anschauen können, und eine Mutterbrust kann das Mäulchen füttern und eine Hirtenhand kann die runzligen Neugeborenenärmchen streicheln und der Mund eines Weisen kann schweigen und den kleinen Fuß vorsichtig, vorsichtig küssen. … Aber dass in diesem Geschöpf der Schöpfer, in diesem rohen Organismus die ewige Weisheit, in dieser winzigen Wirkung die alleinige Ursache des Alls zu treffen sei – wie soll das jemals nachvollziehbar werden? … Wer könnte das jemals einsehen? ———
… Weihnachten der Unsichtbaren.
– Doch es gibt Hilfe, es gibt Hinweise und Hinwege, es gibt Hinworte und Hinführung zu dem, was unsere Augen nicht sehen, unsere Sinne nicht aufgreifen, unsere Gedanken nicht verarbeiten können.
Und von dieser Hilfeleistung lebt Weihnachten. Dank dieser Hilfestellung wurde es überhaupt auch nur Weihnachten, und nur durch ein ähnliches Auf-die-Sprünge-Helfen hat sich die Weihnachtswahrheit trotz ihrer Un„wahrschein“lichkeit durchgesetzt.
Von diesen Helfern also, die das nahebringen und weitersagen, die das verkündigen und deuten, die zum Hören, zum Einsehen und schließlich nicht nur zum Verstehen, sondern – was noch wichtiger ist – zum Glauben helfen, muss jetzt also die Rede sein.
Sie sind die Unsichtbaren, deren Weihnachten wir immer feiern und nicht nur in diesem Jahr: Es sind die Boten, deren Füße auf den Bergen lieblich sind, es sind die Wächter, deren laute Stimmen den Jubel der Erlösung erklingen lassen.
Nur dass wir sie nicht erblicken, nicht erkennen können. Unsere Antennen für sie sind zu schwach, unser Radar ist nicht dafür ausgerüstet, sie zu erfassen. Zwar umgeben und durchstrahlen sie uns, sie berühren und sie elektrisieren uns genau wie alle anderen Wellen und Teilchen, Kräfte und Ströme, Impulse und Felder, die den ungesehenen Kosmos ausmachen, … aber ihre unmerkliche Bewegung – so „lieblich“ sie auch ist – , und ihre nicht einzuordnen Stimmen – so „laut“ sie auch sind – lassen uns staunend, skeptisch, zweifelnd zurück.
Zu den Engeln fällt uns nichts ein: Zu den Engeln, den unsichtbaren Boten und Verkündern, ohne die Weihnachten und Christentum, ohne die Ostern und die Kirche nicht wären. Wir haben keine Vorstellung von ihnen.
Ihr Auftauchen und ihre Ausbreitung, die Übertragunsgwege, auf denen sie in Menschen Glauben entzünden und Hoffnung anstecken und dann die Wirkung, durch die sie aus Einzelnen Unzählige machen, die es ebenfalls in sich tragen und weitergeben werden – die Freu-de, den Frieden, das Gute, das Heil – , …. diese Inspirationsketten, die sich von der Heiligen Nacht her durch die gesamte Menschheit verbreitet haben und immer wieder neue, persönliche, leib-seelische Schicksalsgemeinschaft mit dem menschgewordenen Gott hervorrufen, bis eine weltweite Herden-Kommunität, die wir die Kirche nennen, entstand … für dieses ganze Geschehen sind unsere bloßen Augen von Natur aus mindestens so blind wie für die Erfassung der viralen Vorgänge, die dieses Jahr so prägen. ——
… Mein blinder Fleck sind die Engel jedenfalls seit Jahrzehnten, und wäre nicht das gesundheitliche Drama von 2020 mit dem Predigttext aus dem Propheten Jesaja zusammengetroffen, ginge mir womöglich immer noch nicht auf, wie verblendet ich da bin … beinah so willkürlich ignorant wie jene, die das Virus nicht selber festmachen können und es darum als Mythos betrachten.
Doch die Freudenboten, die nicht schwerfällig über die geröllreichen Hügel Judas oder gar die Trümmer Jerusalems steigen müssen, sondern leichtfüßig, ja schwebend überm Hirtenfeld den unendlichen Gloria-Gesang anstimmen, der seither nicht mehr verstummt, diese Evangeliumssänger und Herolde des Trostes und der Erlösung Jerusalems und aller Welt sind es wirklich wert, dass sie wie bei Jesaja zum Gegenstand unserer fröhlichen Betrachtung an diesem Weihnachtsmorgen werden:
Wir mögen keine Vorstellungen von ihnen formen können; sie werden den geflügelten Götterboten Griechenlands und den gefiederten ägyptischen und babylonischen Halbwesen, die bei uns ihr Bild prägen, so unähnlich sein wie ihr krankheitserregendes Gegenstück in Wahrheit keiner Krone gleicht, … doch alle diese Schwierigkeiten, sie uns zu vergegenwärtigen, können und sollen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie wirklich und wirksam sind, so heilvoll wie die anderen Unsichtbaren unheilvoll, und dass wir letztlich ihretwegen versammelt und durch sie bewegt sind, weil wir es schließlich ihnen, der Menge der himmlischen Heerscharen verdanken, dass die frohe Kunde von Bethlehem bis hier und jetzt ihre lebensverändernde, stärkende, frohmachende, erlösende Wirkung entfaltet.
Gabriel, der Maria die Empfängnis verkündet (vgl.Lk.1,26ff), und der namenlose Engel, der sie dem Joseph erklärt (vgl.Matth.1,20ff), sind für die Jungfrau der erste Freudenbote des Weihnachtswunders und für ihren Verlobten der erste Wunderbote zögerlicher Erlösungsfreude.
… Weihnachten der Unsichtbaren!
Doch wie dann dem Joseph vor und nach der Geburt des Immanuel immer wieder ein Engel das je Nötige und Richtige, die je neue Weisung und Hoffnung trotz aller Schatten und Schrecken mit tragender Gewissheit nahebringt (vgl.Matth.1,24ff; 2,13ff. 19ff), das ist das erste individuelle Motiv, die erste Einzelstimme, die sich aus dem himmlischen Weihnachtschor über den dunklen Landschaften der verstörten, der erwählten, der beglückten Hirten Bethlehems löst.
……. Und seither bereiten, säumen und deuten Engel den Weg des Weihnachtskindes: Dienen ihm im Hunger (vgl.Mk.1,12), trösten ihn im Leid (vgl.Lk.22,43), öffnen sein Grab (vgl.Matth.28,2), verkündigen seine herrliche Auferstehung (vgl.Joh.20,12ff), bezeugen seine Himmelfahrt und Wiederkunft (vgl.Apf.1,10f), lenken und stärken seine Jünger (vgl.Apg.10,3; 12,7ff), schützen, lehren und bewachen das Wachstum der Gemeinden (vgl.Offenb.2f) und warten auf jedes Zeichen, dass sie einen der Kleinen, die zu Jesus gehören, verteidigen und schirmen oder endlich zu Gott heimtragen sollen (vgl.Matth.18,10; Ps.91,11f).
Dass die Weihnachtslieder und -bilder durch und durch auch Bilder und Lieder der Engel sind – Lieder über die heimlichen und doch unüberhörbaren Zeugen und Gesandten, Bilder der unanschaulichen und doch unbezwinglichen Helfer und guten Mächte der Christusbotschaft und der christlichen Gemeinde –, das ist für jeden, der nicht mehr zu den schnöden Engel-Leugnern zählen mag, mehr als schmückendes Beiwerk. Um es in der Sprache dieses Jahres und im Geist des Propheten Jesaja, der die Boten der guten Nachricht so überschwänglich rühmt, zu sagen: Die Engel sind als treibende Kräfte jederzeit so zur Stelle, sie sind als die dynamischen Beweger, die das Geschehen des Weihnachtsevangeliums in Gang und voran bringen, so zentral, dass man in ihnen erkennen muss, was wir in den letzten Monaten endlich in den pflegenden und helfenden, den erziehenden und sorgenden Berufsgruppen erkannt haben … die wirklich „Relevanten“, d.h. wörtlich die, die wirklich „hochheben“ und „erhöhen“, was zählt.
Und was dieses Überragend, alles Aufwiegende, dieses Allein-Wichtige auf Erden ist, das sagen uns Jesaja und Lukas in den Grundworten ihrer Engels-Kunde: Trost und Erlösung, große Freude, die Ehre Gottes, Frieden der Welt und den Menschen ein Wohlgefallen!
Das ist vor allem anderen und zu allen Zeiten wirklich relevant: Wer davon ergriffen ist, wer von den Engeln, die diesen Frieden, dieses Heil und Gute verkündigen, mit ihrer wundervollen, auf landläufige Weise unsichtbaren, aber nichtsdestotrotz unendlich wirksamen Freude über Jesus, den Christus angesteckt wurde, der hat auch in diesem trüben, bedrückenden, lähmenden Jahr das beste Gegenmittel gegen alle Leiden gefunden, den echtesten Inhalt in aller Leere, die unvergänglichste Gabe für alle menschlichen Entbehrungen und Mängel.
Wo sich die Weihnachtsbotschaft der Engel verbreitet, verbreitet sich genau das, was wir Menschen sämtlich brauchen: Zuversicht, dass nichts unheilbar zerbrochen, nichts unrettbar zerstört sein wird. Hoffnung, dass die Einsamkeit der Vielen und die Feindschaft durch die wahre göttliche Menschlichkeit überwunden werden soll. Glaube daran, dass unsere Zweifel und unsere Schuld schließlich doch von Gottes Nähe widerlegt und durch seine barmherzig-endlose Gerechtigkeit getilgt werden. … Und eine Liebe, die mit einem weiteren, einem tieferen, einem höheren Sinn als alle unsere anderen Wahrnehmungen schließlich tatsächlich beherzigt und begreift, dass in dem kleinen Kind in der Krippe in Davids Stadt alle gemeint und alle verbunden, alle erwählt und alle versöhnt sind! ——
Diese wunderreiche Zusage, dieses Evangelium bringen die unsichtbar gegenwärtigen Freudenboten Zions, die Heerscharen des HERRn in jedes Land, an jeden Ort, zu jedem Menschenkind auch heute.
Und so verborgen und geheimnisvoll das uns immer noch scheinen mag, hat doch Jesaja das letzte Wort: „Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.“
Auf Hebräisch wörtlich: „Alle Enden der Welt sehen den »Jesus« unseres Gottes“!
Amen.
2. Christtag, 26.12.2020, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Predigt-Paraphrase zu Lukas 2,1-20 am zweiten Weihnachtstag
Es begab sich aber zu der Zeit, als ein Gebot weltweit die Runde macht, dass alle Abstand halten sollte. Zu viel Nähe, so die, die das Sagen hatten, sei nicht nur von übel, sondern gefährlich, im schlimmsten Fall sogar tödlich und vor allem: unverantwortlich. Jeder Kontakt sei im Grunde schon einer zu viel. Mit den Familienangehörigen, das könnte eventuell noch gut gehen. Alles andere würde aber die Zahlen in unermessliche Höhe schnellen lassen. Und da sei der Inzidenzwert, der R-Wert, der R 7 Wert, der Ct-Wert und all die anderen exponentiellen oder doch eher wellenförmigen Bewegungen ja nur einige Indikatoren. Man denke bitte auch an die überfüllten Intensivstationen und die Bilder aus aller Herren Ländern, die unerträgliche Situation einer „Triage“ und die Überforderungen des Pflegepersonals. Und neuerdings auch noch die Mutationsmeldungen, B 1.1.7, mit ungeahnten Folgen. Kurzum: Es reihte sich ein Horrorszenarium an das nächste, wenn nicht dem Gebot Folge geleistet werde, das ausführlich und detailliert in dem Infektionsschutzverordnungsgesetz angeführt, begründet, hinterlegt und mit geradezu erdrückender Faktenlage der Exekutive an die Hand gegeben wurde. Schuld und Auslöser dieser Einsicht war kein Kaiser, kein Monarch, kein Autokrat und kein Möchtegerndiktator. Schuld war ein kleines, sehr ansehnliches, zugleich aber brandgefährliches Virus namens Covid 19 Sars-cov.2. Es hatte sich - keiner weiß es so ganz genau – im fernen Osten auf den Weg in alle Welt gemacht, hinterher wollte es keiner gewesen sein, egal: Es war dann auf jeden Fall da, und versetzte alle, die es in geballter und gehäufter Weise traf, in Angst und Schrecken, vornehmlich auch jene, die schon mehr als 700 Monde zu und abnehmen gesehen hatten. Und dann vor allem die sogenannten Risikogruppen, zu denen sich viele mal mehr mal weniger zugehörig fühlten.
Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa. Wenn man der kirchlichen Tradition folgen darf, schon etwas älter und damit ein geradezu klassischer Risikopatient, zusammen mit Maria, blutjung, seinem anvertrauten Weibe. Mit dem nötigen Abstand zu Josef (150 cm), wie die kirchliche, vornehmlich die katholische Tradition vehement und mit immer neuer Überzeugung verkündete. Also, Josef war mit Maria unterwegs, soviel war und ist klar, aber da sei definitiv nichts zwischen den beiden gelaufen, auch wenn Maria trotzdem oder gerade deswegen schwanger war, aber das ist eine Geschichte vor Covid 19. Und genau genommen haben sich da außer Matthäus, der Evangelist, und Lukas, der Evangelist, auch die neutestamentlichen Autoren weniger ums Detail bemüht. Der Apostel Paulus etwa, der sonst gerade auch bei den evangelischen Christen für allerlei dogmatische Programmatik herhalten muss, äußert sich da sehr sparsam und geradezu uninteressiert: Eine junge Frau bekommt ein Kind (Galater 4,4), das wars. Aber sei´s drum. Maria also, blutjung schwanger und Josef, alt, sagen wir es etwas netter: in gesetztem Alter und jedenfalls mit züchtigem Abstand, waren also unterwegs nach Bethlehem, zu ihren Geburtsort. Um auch dort einmal mehr Abstand zu halten, soviel war klar, denn Reisen in Risikogebiete, das verstand sich von selbst, das ging nur unter strengen Auflagen. Ganz zu schweigen von späteren Verpflichtungen zu Schnelltest und Quarantäne, falls da irgendetwas positiv anschlagen sollte. Die beiden hatten alles, was geboten war, mit dabei, den Mundschutz sowieso, für alle Fälle aber auch FFP 2 und FFP 3 Masken nebst Desinfektionssprays und einigen Arzneimitteln, sollte es zu ungeplanter Atemnot oder gar Atem-Stillstand kommen.
Und es kam die Zeit, dass Maria gebären sollte, aber es war da kein Raum in der Herberge. Man ist geneigt zu sagen, ein Beherbergungsverbot machte es unmöglich irgendwo unterzukommen. Aber so war es nun doch nicht. Es lag nicht an den Einschränkungen und Hygienevorschriften, die es der Gastronomie allenthalben schwer machte, in der gewohnten Weise ihr Geld zu verdienen. Die Lokalitäten und Hotels waren schlichtweg voll, zu voll, viele Menschen waren heilfroh, ein Dach überm Kopf zu haben und trotz aller sonstigen Vorschriften ein wenig gesellige Wärme zu verspüren. Und dieser besondere Abend im Winter erschien ihnen wie die große, wenn auch mühsam abgetrotzte Erlaubnis, wenigstens für ein bis zwei Tage dem inzwischen trist gewordenen Alltag als Soloheld auf dem heimischen Sofa zu entkommen. Dafür waren sie auch bereit, etwaige Strafzahlungen in Kauf zu nehmen, notfalls auch 250 € pro Nase. Aber angesichts der breiten Gesamtbewegung und der schieren Menge schien es so, als wäre man an diesem Abend vor ordnungspolitischen Maßnahmen oder gar polizeilichen Eingriffen einigermaßen sicher. Die Zimmer waren also schlichtweg ausgebucht und so musste sich unser jung-altes Pärchen eine andere luftigere Bleibe suchen, zwischen Ochs und Esel, Heu und Stroh. Das war zweifelsohne gesünder. Das Ansteckungsrisiko war hier ja so gut wie ausgeschlossen. Von den Tieren ging ja keinerlei Gefahr aus, und der Durchzug im Stall sorgte für so viel Frischluft, dass eine Aerosol- oder Virenübertragung im Prinzip nicht stattfinden konnte. Angesichts der bescheidenen, vielleicht sollte man besser sagen: ärmlichen und erbärmlichen Verhältnisse waren auch keine anderen Störungen zu erwarten. Ein Jubellied auf das Neugeborene war weder von dem alternden Vater noch von der erschöpften Mutter zu befürchten, auch andere Beileidskundgebungen würden komplett ausfallen, hatte doch jeder schon genug an seinem eigenen Päckchen oder Elend zu tragen. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, versteht sich, war also eine ruhige Niederkunft zu gewärtigen. Wenn nicht - wie so oft in diesen Zeiten - irgendein digitaler Shitstorm alles durcheinanderbringen würde. Oder andere unbehauste und heimatlose Gesellen, die wegen der Kälte, der Sehnsucht nach Wärme und Heimat kein Auge zukriegten, noch für die eine oder andere Überraschung gut wären. Und genau von solchen etwas heruntergekommen Figuren muss an dieser Stelle nun tatsächlich und wie auf Bestellung geredet werden.
Es waren Hirten auf den Feldern von Bethlehem, die hüteten des nachts ihre Herde. Sie hatten zwar auch schon von Corona gehört, aber da sie ständig draußen waren, nur den Himmel als Dach überm Kopf hatten, und sie auch sonst wenig bis gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, juckte sie die allgemeine Aufregung um Aha-Regeln und Infektionsgeschehen wenig. Dafür plagte sie etliches Sorgen um das täglich Brot und dem Auskommen zum Leben. Davon allerdings wussten sie reichlich zu erzählen. Denn obwohl sie bei leidlicher Gesundheit waren, hatte es sie wirtschaftlich voll erwischt. Die Rezession hatte ihre Auftragslage drastisch verschlechtert, eine mittelfristige Perspektive hatten sie schon länger aufgegeben. Rettungsschirm hin oder her, sie gehörten eben nicht zu der bevorzugten oder allzu systemrelevanten Berufsgruppen. Und während sie also so vor sich hin sinnierten, das Leid, die Sorgen und die Mängel des kleinen Mannes und der mittellosen Frau beklagten, erschien ein Engel, ein Bote aus den himmlischen Sphären mit einer wundersamen Botschaft auf den Lippen:
„Fürchtet euch nicht!“, sagte er. Angst ist kein Konzept, bei dem man glücklich werden kann. Sorgen ernähren einen nicht, sondern bringen einen nur früher ins Grab. Das alles aber könnt ihr getrost hinter euch lassen, denn es gibt Grund zur Freude, denn: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Diese Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. „Fürchtet euch nicht!“, hatte der Engel gesagt. Wusste er eigentlich, wovon er da sprach, das war doch das einzig Sichere in diesen Tagen, die Furcht, die immer mehr Raum und Zeit einnahm, die die Beziehungen und allem Leben dieses ungute Vorzeichen verschaffte. Aber darauf war Verlass: „Wenn wir nicht so und so tun, dann befürchte ich noch Schlimmeres“, “…dann verlieren wir die Kontrolle“, „… dann lassen sich die Zahlen nicht mehr in den Griff kriegen“, „…dann lässt sich im Grunde gar nicht mehr gescheit und schon gar nicht normal leben“. Die Hirten, eigentlich alle, auch die Hochbetagten, waren auf einmal hellwach und hörten die Worte des himmlischen Boten. Und der war noch nicht fertig:
„Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Gott ist nicht mehr auf Abstand, ließ der Engel verlauten, weder 150cm noch 200 cm. Er ist und kommt euch nah in dem Kind in der Krippe. Will Wohnung nehmen bei und in euch, hautnah, so dicht es irgend geht, will er in Kontakt zu euch kommen. Und das habt zum Zeichen: Keiner von euch muss mehr einsam und allein leben und ohne Hoffnung sterben. Mit dem Kind in der Krippe hat diese selbst verordnete oder erzwungene Isolation ein Ende. Und auch die Furcht vor was auch immer kann getrost ein Ende finden. Zieht los und seht selbst, was da geschehen ist. Schon wollte der eine oder andere Hirte sein berühmtes „Aber“ in Stellung bringen, allein dazu war keine Gelegenheit und Zeit. Denn in Null-Komma-Nichts hatte sich zu dem einen Engel ein ganzer Chor gesellt, und die sangen - Aerosolgefahr hin oder her - einen gewaltigen Choral zur Ehre Gottes. Und das brachte vorübergehend alles zum Verstummen. Selbst die sonst nie um einen Gedanken verlegenen Bedenkenträger, selbst die immer noch etwas von Vernunft, selbst wahrgenommener und für andere stellvertretend übernommene Verantwortung redeten, selbst die zur Besonnenheit und immer neuen Geduld mahnten, kamen einen Moment aus dem Tritt. Und hörten ergriffen auf jene Worte, die im Leben und im Sterben Halt verhießen und denen man sich anvertrauen konnte ohne, mit, trotz der Angst, die in diesen Tagen ja nie ganz weg zu diskutieren war. Und wie ein zugleich österliches Erdbeben und pfingstliches Brausen durchfuhr es alle, die da zusammengekommen waren, und führte und geleitete sie auf wundersam leichte und beschwingte Weise hin zu dem Stall, wo alles sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen sollte.
Und als sie hinkamen, sahen sie das Kind in der Krippe. Und weil sie es inzwischen gewohnt waren, Abstand zu halten, traten sie einzeln ein in den Stall. Sie nahmen sich Zeit. Keiner drängelte. Keiner meinte an diesem Abend: „Wer zuerst kommt, malt zuerst“. Es war vielmehr so, dass eine große, stabile Ruhe alle ergriffen hatte, so, als gehörte ihnen dieser Abend, nur ihnen allein. Und da kam es dann auf die paar Minuten Warten auch nicht mehr an. Die Hirten also nahmen sich alle Zeit der Welt. Sie waren komplett entschleunigt und im wahrsten Sinne des Wortes „auf Null“ gebracht. Und in dieser geradezu meditativen Grundstimmung wechselten sie sich ab, um das Kind zu betrachten. Und das war auch für das heilige Paar, für den betagten älteren Josef und für die wunderschöne jungfräuliche Maria ungemein ergreifend und ermutigend. Die Hirten traten einzeln ein. Und sie sahen in diesem Kind in der Krippe die Liebe Gottes, den Ursprung und das Ziel allen Lebens. Und mehr als mit dem Verstand erreichte es ihr Herz, so dass sie, jeder auf seine Weise, nach dem Besuch im Stall und wie die Engel auf den Feldern, Aerosol hin oder her, anfingen, Gott zu preisen und zu danken. Für diese Wohltat. Für diese übergroße Wohltat. Für diese Rettung aus aller Angst und Not. Für die Befreiung von aller Furcht. Für diesen Trost im Leben und im Sterben. Für dieses Vertrauen zum Dasein, das ihnen neu geschenkt worden war. Und sie beschlossen, diese Erfahrung mit anderen zu teilen. Mit allen Menschen, die das Leben neu als Geschenk ihres Schöpfers be- und ergreifen wollten. Und sie nahmen sich vor, nicht müde zu werden, und davon zu erzählen: Wie Gott in ihr Leben kam und es gut machte. So gut, dass sie mit allem anderen getrost weiterleben konnten.
Maria aber, seltsam angerührt von diesem Geschehen, bewegte alles in ihrem Herzen. Weil man nur mit dem Herzen gut sieht. Weil man mit den Augen des Herzens alle Chancen hat zu gesunden, heil zu werden und heil zu bleiben. „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.“ Paul Gerhard. „Den aller Welt Kreis nie beschloss der liegt in Marien Schoss, er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein.“ So Martin Luther. „Die ihr arm seid und elende, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände. Hier sind alle guten Gaben und das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben.“ Nochmal Paul Gerhard. Und Jochen Klepper fasst es so zusammen: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld, doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld, bekränzt von seinem Licht hält euch kein Dunkel mehr. Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ Wenn das nicht Evangelium, gute Nachricht, frohe Botschaft genug ist, dachte Maria, und ergänzte für sich: aber es ist ja genug frohe Botschaft. Für mich und für alle, die es hören und in ihrem Herzen bewegen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn. Amen.
3. Advent, 13.12.2020, Lk.1,68-79, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils“ – jubelnd bricht dieser Lobgesang aus dem Mund des Zacharias heraus. Während das Lied der Maria, das Magnificat, ein sehr klares und verständliches Loblied ist, so ist das Lied, das Zacharias anstimmt, eher schwer verständlich, mit vielen Wendungen und Anspielungen auf die Geschichte Israels und der biblischen Tradition gespickt. Es ist halt das Loblied eines Theologen und Priesters, und da sind die Sätze eben manchmal sehr lang und sehr verschachtelt. Aber immerhin, Zacharias singt und lobt.
Und wenn man sich hineinarbeitet in seinen verschachtelten Lobgesang, dann lässt sich überraschend Neues feststellen, passend zur Erzählung, mit der Lukas sein Evangelium beginnt. Da geht es um gleich zwei Geburten, die angesagt werden, die Geburt von Johannes dem Täufer und die Geburt von Jesus. Über ihre Mütter sind beide miteinander verwandt. Beide werden von dem Engel Gabriel angesagt, beide Kinder sind Gotteskinder, sofern der Engel ihren Namen nennt, sie von Gott her ihre Lebensberufung haben: Johannes ~ Gott ist gnädig; Jesus ~ Gott ist Rettung und Hilfe.
Aber während der Besuch des Engels bei Maria überraschend unproblematisch abläuft, so verhält es sich bei Zacharias deutlich anders. Zacharias ist ein Priester am Tempel in Jerusalem. Er ist verheiratet mit Elisabeth und von beiden heißt es, dass sie gerecht und untadelig in ihrem Lebenswandel vor Gott waren. Allerdings war ihre Ehe kinderlos und beide mittlerweile im fortgeschrittenen Alter. Mit diesen wenigen Angaben schlägt Lukas einen großen Bogen an den Anfang der Heilsgeschichte. Denn genau dasselbe wird im 1.Buch Mose von Abraham und Sara erzählt: dass sie gerecht und untadelig in ihrem Lebenswandel waren (Gen.17,1) und keine Nachkommen hatten.
Für die Menschen in der Antike war es immer klar, dass Kinderlosigkeit an der Unfruchtbarkeit der Frau lag; und so erzählt es auch Lukas von Elisabeth. Aber so ganz hat er daran wohl selbst nicht geglaubt, denn es ist Zacharias, der von dem Engel besucht und ins Gebet genommen wird. Als Zacharias wieder einmal seinen priesterlichen Dienst im Tempel in Jerusalem versah, wurde er durch das Los bestimmt, im Allerheiligsten das Rauchopfer darzubringen, im Gebet also vor Gott zu treten und Fürbitte für das Volk zu tun, das währenddessen auf dem Platz vor dem Tempel wartete, um nach dem Rauchopfer den Segen Gottes vom Priester zugesprochen zu bekommen. All das war Zacharias bekannt, die Gebete, das Räuchern, die Gesten, die theologischen Begründungen und Vorstellungen von der Gegenwart Gottes, darüber hatte er alles gelesen und viel nachgedacht, alles war ihm vertraut. So meinte er zumindest.
Aber dann kam auf einmal das große Erschrecken. Da stand auf einmal der Engel da, stiegen nicht länger seine Worte am Altar einseitig hinauf zu Gott, sondern sprach Gott durch den Engel zu ihm, waren Gott und Glaube nicht mehr Lehre und Bekenntnis, sondern Erfahrung und Erlebnis – und das erschütterte ihn genauso wie viele andere, die ähnlich von Gott berührt worden sind, durch die Jahrtausende. Zum Beispiel Blaise Pascal, der französische Philosoph und Theologe. Nach seinem Tod fand ein Bediensteter zufällig einen schmalen Pergamentstreifen, den Pascal sich in das Futter seines Rockes eingenäht hatte. Darauf hatte er eine mystische Erfahrung festgehalten, die ihn wohl nicht mehr losgelassen hatte. Er schreibt:
„Jahr der Gnade 1654 Montag, den 23. November,
Tag des heiligen Klemens,
Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium.
Vorabend des Tages des heiligen Chrysostomos,
Märtyrer, und anderer.
Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr
eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer Gott Abrahams, Gott Isaaks,
Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.
Gewissheit, Gewissheit,
Empfinden: Freude, Friede.
Der Gott Jesu Christi.“
Berührt werden von Gott, eine Erfahrung mit Gott machen, mit seiner Heiligkeit, seiner Gegenwart – Mose am brennenden Dornbusch, Elia in der Höhle am Berg Horeb, die Propheten Jesaja und Jeremia, Zacharias im Tempel, Maria in Nazareth – zuerst ist immer Erschrecken, weshalb den von Gott Angesprochenen und Angerührten als erstes zugerufen wird „Fürchte dich nicht!“
Keine dieser Begegnungen lässt die Betroffenen so zurück, wie sie vorher waren. Eine Begegnung mit Gott hat immer erneuernde, schöpferische, verwandelnde Folgen für die Menschen. Darum erzählt die Bibel Geschichten, in denen Menschen nach solch einer Gottesbegegnung aufbrechen, Altes hinter sich lassen und sich neuen Zielen zuwenden – wie Abraham und Mose, wie die Propheten, die aus ihrer alten beruflichen Existenz aussteigen und als Sprachrohr Gottes weiterleben; oder Geschichten, in denen die Geburt eines Kindes angesagt wird, Inbegriff des Neuen, das in die Welt hineingeboren werden soll – Isaak für Abraham und Sara, Simson, der Nasiräer und Richter in der Frühzeit Israels und nun Johannes für Zacharias und Elisabeth und Jesus für Maria und Josef. Mit den Kindern soll Neues kommen; mit ihnen setzt sich nicht einfach das Alte fort, sie treten nicht die Nachfolge ihrer Erzeuger an, sie sind im tiefsten Sinne nicht die Kinder ihrer Eltern, sondern Kinder des Vaters im Himmel. Deshalb erhalten sie von ihm auch ihre Namen; neue Namen, die zeigen, dass Gott neue Wege mit seinen Menschenkindern gehen will.
Und so hört Zacharias, dass sein Sohn Johannes heißen soll. Und tatsächlich wird an diesem Namen gleich erkennbar, dass Neues in die Welt kommt, gerade auch in die Welt, für die Zacharias steht: in die Welt der jüdischen Religion. Zacharias steht vor uns als einer, der als Priester korrekt und zuverlässig vor Gott seine Pflichten zu erfüllen bemüht war, der alle Gebote befolgte – aber der darin selbst keine Erfüllung fand, der das Leben an sich vorbeiziehen sah, es nicht weitergeben konnte. Und da verheißt der Engel das Kind und das soll Johannes heißen: Gott ist gnädig. Da geht es um ein ganz neues Verständnis Gottes: Gott ist nicht der Herr im Himmel, dem gegenüber der Mensch sich seine Existenzberechtigung verdienen muss mit religiösen Übungen und Ritualen und mit der strikten Befolgung von Geboten; sondern er wendet sich von sich aus den Menschen zu, umfängt sie in ihren Nöten und befreit sie aus ihren Ängsten – aus lauter Güte und Liebe, aus lauter Barmherzigkeit. Das allerdings kann Zacharias nicht so einfach glauben. Zu fest ist er eingeschlossen in seine Glaubensvorstellungen von Gott, in seine Theologie und Religion. Zu lange ist er Priester am Tempel, hängt seine Existenz doch auch an den traditionellen Glaubensformen und -inhalten.
Liebe Gemeinde, ich kann ihn gut verstehen, den Zacharias; und gleichzeitig weiß ich auch, dass sich das Neue, das Leben nicht aufhalten lässt, dass das Kind geboren werden wird und muss, damit es gut weitergehen kann. In der Erzählung des Lukas verhängt Gabriel über Zacharias das Verstummen bis zur Geburt des Kindes mit der Begründung, weil Zacharias an der Erfüllung der Verheißung zweifelt. Doch im Tiefsten geht es nicht um eine „Bestrafung für den Unglauben“, sondern darum, dass Zacharias Zeit geschenkt wird, sich in das Neue hineinzufinden – wie jede Frau die Zeit der Schwangerschaft ja auch braucht, um sich und ihr Leben neu aufzustellen. Salopp gesagt: Zacharias, dieser professionelle Prediger, soll nun einmal den Mund halten und in sich gehen, schweigen und hören, wahrnehmen, wie das Leben sich entfaltet und entwickelt, worauf es ankommt im Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie Gott es sich mit uns und mit ihm gedacht hat. Die neuen Einsichten müssen wachsen können; der Abschied vom vertrauten Denken ist nicht leicht, ist oft schmerzhaft und braucht Zeit, seine Zeit.
Aber, und das ist das Tröstliche an der Erzählung des Lukas: es sind nicht nur die jungen Menschen, die für das Neue offen sind, Gott schreibt seine Geschichte auch mit den Menschen im letzten Lebensdrittel weiter, für das neue Leben und für neue Lebenseinsichten, für neue Glaubenseinsichten ist es nie zu spät – jedenfalls nicht von Gott her. Es geht nicht bergab mit uns, sondern einfach weiter unter dem offenen Himmel. Advent – da kommt noch etwas zu uns, auf uns zu, da gibt es noch neue Herausforderungen von Gott her. Zacharias verstummt, geht in sich, schweigt, denkt nach, denkt Neues, nimmt Abschied von seinem alten Gottesbild, wo man Gott dient mit der Erfüllung von Geboten und der Einhaltung von Ritualen. Und nach 9 Monaten ist es dann auch für ihn soweit: als sein Sohn geboren wird, da bestätigt er: das Kind soll Johannes heißen, Gott ist gnädig. Seine Freunde und Priesterkollegen sind darüber total irritiert: So heißt doch keiner in der Familie, so sieht doch keiner von uns die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Aber Zacharias bleibt dabei, und er kann wieder sprechen: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils.“
Das neue Lied gerät noch etwas holprig, da sind noch viele alte Vorstellungen drin verwoben – da ist noch die Rede von Feinden, da ist Gott noch der Gott für uns und gegen die anderen, aber es ist auch schwer, eine so lange religiöse Tradition hinter sich zu lassen, 2000 Jahre Glaubensgeschichte sind schwer zu verwandeln. Aber den entscheidenden Schritt, den ist Zacharias gegangen: das Heil kommt nicht aus der Erfüllung der Gebote, geht nicht vom Menschen aus, sondern Gott besucht uns, Gott kommt zu uns – und er kommt voller Barmherzigkeit und Güte, schafft den Neuanfang durch Vergebung. Gott kommt nicht erst dann, wenn wir hier alles in Ordnung gebracht haben, sondern sein Licht geht auf über denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes. Gott kommt in unsere oft so schreckliche und notvolle Welt, so wie sie ist, um mit uns einen Weg in die Zukunft zu finden, uns zu ermutigen und zu stärken, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten.
Zacharias jubelt und freut sich. Gott hat auch mit ihm noch etwas Neues vor. Da kommt noch etwas, für das es sich zu leben lohnt. „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils“.
Amen.
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