Pfingstsonntag, 28.05.2023, Stadtkirche, 1.Korinther 2, 12 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 28.V.2023
1.Korinther 2, 12 - 16
Liebe Gemeinde!
Paulus reimt sich auf Pech: … Immer daneben. Nie ganz dabei.
… Er lebte wohl schon in Jerusalem als der Messias da auftrat, ausrastete, still wurde, Passa feierte und vor der Mauer am Kreuz überraschend schnell starb. In jenen Stunden damals hat Saulus aus Tarsus mit seinen Mitschülern den Sabbat vorbereitet und gefeiert und nach dem Vorabend und dem Tag der Ruhe am dritten Tag wieder die Schrift und ihre mündliche Auslegung zu studieren und zu diskutieren begonnen.
Er konnte nicht ahnen, dass gerade in diesen Stunden, einen oder anderthalb Kilometer entfernt das Reich des Todes durchbrochen worden und der vorweggenommene Sieg Gottes über den letzten Feind geschehen war, der ewige Sabbat, der kommt, sich also bestätigte.
Und in den Wochen danach. zwischen Passa und Schavout, dem Wochenfest war Saulus zwar auch nah dran, aber vom Wunder des Auferstandenen, Der in diesen Tagen bei den Seinen war, sie in Jerusalem, Emmaus, Galiläa und auf dem Ölberg überraschte, überwältigte, versammelte, berührte, beflügelte, segnete und zurückließ, war er wiederum nicht bewegt.
Und darum hat er auch das Feuerwerk verpasst, das am Wochenfest, dem Tag der Pfingsten, im Obergemach der galiläischen Jesus-Jünger zündete und sich dann in einer unerhörten Explosion von Sprachfarben und Geistsprühen und funkelnden Einsichten und brennenden Herzen und flammendem Glauben und erleuchteten Seelen auf den Plätzen der heiligen Stadt entlud.
Immer war Paulus nah dran und doch nicht persönlich beteiligt!
Passion verpasst, Ostern versäumt, Pfingsten nicht mitgekriegt: Das ist der Mensch, dem wir die Weltmission verdanken, der Gründervater der Kirchen aller Länder und Zeitzonen. … Der Mensch, der bei den Zeichen und Wundern der Christusgeschichte fehlte.
… Unsere Feste wurden uns also erschlossen durch einen, der sie nicht mitfeierte. … Die Kirche wurde begonnen von einem außerhalb der Kirche Stehenden. … Christus in aller Welt ist als Erstes bezeugt worden von einem zutiefst Christusfremden.
Man kann darüber lachen.
… Oder die Absicht und den Sinn ermessen.
Wenn die Botschaft, die wir das Evangelium nennen, nur und ausschließlich eine Angelegenheit von Augenzeugen wäre - so viele Augenzeugen uns bei den Aposteln und Evangelisten auch begegnen -, dann wäre sie schlicht und ergreifend und in jedem Sinn und mit allen Folgen eben rein historisch. … Gewiss kämpfen auch heute noch viele fromme Köpfe dafür - ich gerne auch -, die Zuverlässigkeit und Echtheit dessen, was das Neue Testament berichtet, gegen die Unterstellung derer zu verteidigen, die darin nur Lüge oder Phantasie am Werk sehen. Aber wenn alles am geschichtlichen Urteil läge, wenn der Glaube an Jesus Christus wahrer oder wackliger würde, je mehr der Wissenschaft ihr Geschäft der Mutmaßung über Wahrscheinlichkeit, der Rekonstruktion von Faktischem, der Einordnung in die Evidenz gelingt, desto unsinniger würde der Glaube: Wenn alle, denen die großen archäologischen Entdeckungen bekannt sind, einen sichereren Glauben haben dürften, als die, die ohne Kenntnis der theoretischen und praktischen Durchbrüche und Abbrüche der westlichen historischen Kritik blieben, dann hätte die Wissenschaft eine so alberne Form des Buchstaben- oder Tatsachenglaubens erzeugt, dass die Schlange sich in den Schwanz bisse. Wissenschaft würde zur Magd des Glaubens … oder der Glaube zum Mündel der Wissenschaft. Beide sind aber - zum Glück - frei.
… Nicht zuletzt dank des Paulus: Der nicht dabei war. Nicht sah und hörte, nicht fasste und griff, nicht aß und trank, nicht spürte und erlebte, was den anderen Apostel vergönnt war. Und doch und so gerade der Erste wie wir wurde:
Denn auch wir glauben ja nicht, weil wir dabei gewesen wären. Wir glauben nicht einmal wegen dessen, was Maria dem Lukas erzählt oder mit Johannes geteilt haben wird - so sehr ich Maria auch liebe, an Lukas hänge, Johannes verehre! -, und auch nicht dessentwegen, was ein Matthäus oder Petrus oder dessen Schüler Markus an unmittelbar oder mittelbar Erlebtem überlieferten, sondern das, was uns an Glauben widerfährt, ist von eigener und einziger Direktheit im Heute.
Es wurzelt nicht im „Es war einmal“ der Märchen und auch nicht im wissenschaftsgläubigen „Wie es eigentlich gewesen“ und es kann sich nicht einmal vergewissern und festhalten an dem, was wir als Kinder gelernt oder gestern noch für überzeugend gehalten haben.
Glaube ist nämlich Manna, … ist tägliches Brot. Vorräte nützen nichts. Es braucht den Regen vom Himmel und die Bereitschaft zum Sammeln heute. … Und damit auch die wiederkehrende Erfahrung des Nicht-Festhalten-Könnens, … des Hungerns, … des Leer-Seins und also der neuen, … ständigen, … jetzigen Angewiesenheit auf Gott selbst.
Glauben heißt, Gott nötig zu haben und von diesem unendlichen Bedürfnis - wohlgemerkt also nicht von einer vermeintlich endgültigen Erfüllung dieses Bedürfnisses! - zu leben.
Und genau da unterscheiden sich die Geister. Der Weltgeist ist der Geist der Bedürfnisbefriedigung. Alles, was in der Natur und in der Geschichte dieser Welt geschieht, dient letztlich diesem einen Zweck: Verlangen, Hunger, Wünsche zu stillen. Das ist der Beweggrund sämtlicher Instinkte genauso wie das Motiv der künstlichen Anstachelung, Erzeugung und Sättigung von Sehnsüchten nach Produkten und Erlebnissen. Die volle Mutterbrust und der geniale Werbungs- und Warenkreislauf der Wirtschaft sind in ihrer Mechanik von der gleichen schlichten Logik erfüllt: Wollen und Bekommen. Denn das gesäugte Kind in seiner Unschuld tappt in die gleiche Falle wie der befriedigte Mensch nach dem Kaufrausch, nach dem Erwerbszwang seiner Besitzwut: Beide bilden sich immer wieder ein, sie seien am Ziel ihrer Jagd.
Der Glaube aber – der doch mit dem Ursprung und Ziel aller Dinge, mit Gott in Berührung, in Verbindung kommt! – … ausgerechnet der Glaube wird sich niemals weismachen, dass er am Ziel sei. Denn Glaube bedeutet, dem unendlichen Gott, der ewigen, grenzen-, schranken- und maßlosen Wirklichkeit Gottes, der anfangs- und grundlosen Liebe Gottes, der alles Verstehen und alle Vernunft übersteigenden Herrlichkeit Gottes, der unerforschlichen und unüberwindlichen Weisheit Gottes, ja, der universalen, schöpferischen, jenseitigen, allseitigen, alleinzigen und alleinigen Gottheit Gottes zu begegnen … und darum zu erfahren, dass jeder Gedanke, man wisse und habe es jetzt, ein Aberglaube sein muss … und dass alle Neugier und Offenheit, alle Demut und zugleich alle vollkommene Unersättlichkeit des reinen, freudigen Staunens das gewisseste Bekenntnis und das schönste Lob Dessen sind, Der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt (vgl. Eph.3,20).
Darum gilt das Dabei- oder Nicht-dabei-gewesen-Sein gar nichts. Gott zu vertrauen, ergibt sich nicht aus Gewesenem; Gott zu vertrauen, Ihm sich zu überlassen, zu Ihm zu gehören, das ist Gegenwart, … reine, pure, pulsierende, atmende, jetzige Gegenwart!
… Gewiss: Gott ist der Ewige … vor aller Zeit, unwandelbar lebendig für immer.
Und seit der Himmelfahrt wissen wir, dass Jesus die Zukunft ist, .., unsere Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt, die sich vorbereitet, bis er wiederkehrt und wir ihn sehen werden und alle Zungen bekennen werden, dass er der Herr ist (vgl. Phil.2,11).
… Aber der Moment gerade jetzt, diese Sekunde, in der wir dem Ewigen gehören als die Gemeinde des Kommenden, … dieser reine Augenblick der Gnade, dieses Hier und Heute unsres Heils, dieser Atemzug, in dem wir in Kehle, Lungen, Herz und Sinn und Leib und Seele spüren, dass es Pfingsten ist, dass wir nicht alleine hier sind, sondern dass Gott in uns und bei uns und um uns und über uns ist … das ist der Heilige Geist!
Sein Wesen ist Gegenwart.
Sein Geschenk ist die Gegenwart.
Seine Wirkung ist Gegenwärtig-Sein.
Sein Wunder ist das Gegenwärtig-Machen.
Und Seine Verheißung ist genau diese, Seine unvergängliche Gegenwart ins uns und unsere gegenwärtige, unzerstörbare Eingliederung in die Ewigkeit. ——
Diese Kraft der Gottesgegenwart, diese Gabe der Gegenwart Gottes ist es, die Paulus, den Zu-Spät-Gekommenen, den Nie-Dabei-Gewesenen, den an Pfingsten Fehlenden so unabhängig, so selbstbewusst weil Gott-vertraut, so frei von Minderwertigkeit, weil so erfüllt von des Geistes Unmittelbarkeit macht.
Er - kein Zeuge! - redet mit Worten, die der Geist lehrt.
Er - der persönlich, physisch, sinnlich konsequent und lückenlos abwesend war - wagt doch zu sagen: „Wir haben Christi Sinn“!
– Das aber ist entweder eine unerträgliche Hybris, ein Hochmut, wie er für alle möglichen esoterischen Medien und Hell- oder Geisterseher, für selbstbesoffene Pressesprecher und Großmäuler und Lügenpropheten und Propagandapopulisten typisch wäre – „Ich bin die Stimme des Echten! Ich habe die alternativen Fakten! Ich bin die künstliche und damit haushoch, ja himmelhoch! überlegene Intelligenz!“ –, … und dann wäre alles christliche Sprechen, Verkündigen, Zeugnisgeben, Predigen, Mitteilen, Missionieren eine überdrehte, angemaßte, total subjektive und willkürliche Form des Wahrheitsmissbrauchs ……… oder … Gibt es überhaupt ein Oder?
… Kann jemand, der nicht in unserem Sinn faktisch, stichhaltig, objektiv, nachprüfbar, empirisch, historisch Fachmensch und Kundiger ist, eine Meinung, eine Erkenntnis, eine Wahrheit kommunizieren? …
Das ist die Pfingstfrage!
Sie zeigt uns wie heiß, … wie brandgefährlich, … wie knisternd spannend - am Rande des geradezu höllischen Läuterungsfeuers! - es ist, dass wir seit dem Wochenfest-Tag von Jerusalem, als die Botschaft zum allerersten Mal übersetzt und übertragen wurde in Herzen und Sprachen und Leben und Länder, die alle völlig voneinander verschieden waren, weitergeben und weiterglauben, was das Evangelium ist.
… Wie können wir es glauben?
… Wie kannst Du mir glauben, wenn ich sage: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“?
Wie können Eltern mir glauben, wenn ich in diesem Namen ihr Kind als Gottes Kind in den Leib Christi aufnehme und mit den Paten gemeinsam seine Zukunft auf die Eingießung des Geistes Gottes im Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (vgl. Tit.3,3) baue?
Wie kannst Du Dir selber glauben, wenn Du sagst: „Ich glaube“?
Wie kann es noch Christen geben nach zweimal tausend Jahren?
Wie kann das alles leben und glühen, wie kann es atmen und leuchten, wie kann es fruchtbar und frisch (vgl. Ps.92,15), wie kann es unerschöpft und köstlich und saftig und ein lebenserquickender Neuanfang sein, wenn dieser uralte Glaube in uns sprudelt und zündet, wenn er fließt und aufflammt, wenn er entsteht und wächst, obwohl wir alle nicht dabei gewesen sind? …….
Weil nichts Gewesenes am Glauben ist! Nichts Abgeschlossenes! Nichts, das fertig wäre und vorbei! …
Natürlich! … Der natürliche Mensch, der Mensch mit menschlicher Weisheit, der Mensch, der von A bis Z buchstabiert, der von roh bis gar kocht, der von Zeugung bis Sterben zu existieren meint, der Mensch des starren Systems, der früher von später unterscheidet, der „vergangen“ mit „noch nicht erschienen“ vergleicht und überzeugt ist, dass nur das, was er selber fertigbringt und rund macht oder in seine räumlichen und zeitlichen Dimensionen einsortiert kriegt, überhaupt Gestalt und Wesen habe, … dieser Mensch will Gott auch von Anfang bis Ende beurteilt, ausgemessen, untersucht und einsortiert haben. Das nennt er „bewiesen“.
Aber wir feiern heute ein Fest, das allen Atheisten das Herz höherschlagen lässt: Wir feiern, dass Gott nichts Gewesenes und nichts Bewiesenes und nichts Gemessenes und nichts Gemachtes und nichts Gelungenes und nichts Vorzeigbares ist.
Denn tatsächlich: Gott war nie!
Er IST einfach „nur“ Gegenwart!
– Wir sollen Ihn nachweisen oder vorweisen! Aber Er ist nicht außen, sondern in einem jeden von uns und zwar nicht angereichert wie Gift, abgesetzt wie Kalk, verdichtet wie Fett, die man ausschwemmen, abschaben, rausschneiden könnte, sondern als der Atem und der Funke, die unser Leben sind und nicht fest zu machen, nicht fest zu halten, … sondern jetzt!, momentan!, nun!, da! … der allesentscheidende Teil dessen, was wir sind und was alles ist!
– Man möchte Ihn klar erfragen und herauskristallisieren, doch nichts ließe sich so präparieren, dass Sich Gott dabei dabei herausstellte oder übrigbliebe: Er, Der doch schlicht der All-Gegenwärtige ist.
Diese unfassbare - buchstäblich unumfassbare, uneingrenzbare, unumgängliche – Wahrheit, dass Gott nirgends fehlt und nirgends aufhört, dass Er nicht ausgegrenzt werden kann oder vergeht, sondern dass Er hier ist, bei uns ist, in uns ist, weil Er überall ist und alles in Ihm: Das ist das ungeheuerliche Wunder Seines Geistes!
Dieses Wunder kann kein Mensch beurteilen, feststellen, nachvollziehen … außer denen, die dieses Wunder selber sind, nämlich – wie Paulus es mit so ungeheuerlicher Selbstverständlichkeit von den Getauften, den Glaubenden, den Staunenden sagt – „geistliche Menschen“!!!
Geistliche Menschen, … Menschen nach Pfingsten, … Menschen überall und endlos viele und immer neue und niemals Fertige, denen im Heiligen Geist gegeben wird, was schon Paulus erfuhr: Dass man nicht zu spät kommen kann und darum auch nicht zu kurz, … weil wir selbst und gegenwärtig von Dem erfüllt werden, woran wir glauben!
Gott ist in uns und wir sind in Ihm!
In Abwandlung des allzu sehr auf Weihnachten festgelegten Verses[i] aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius muss uns heute darum lauten:
Wär’ Christus auch an jedem andern Ort
und nicht in Dir,
- so wäre er längst fort.
Wird er vom Geist jedoch in dir gebor’n
so lebst Du jetzt
und ewig unverlor’n.
Diese Empfängnis des Geistes und durch den Geist, Den wir aus Gott empfangen haben, die ist das Pfingstgeheimnis, nein die Pfingstoffenbarung, die macht, dass wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist:
Er selbst.
Alles.
Amen.
… Komm’ ……. (EG 126)
[i] Im „Ersten Buch der Geistreichen Sinn- und Schluß-Reimen“ heißt die Nr. 61 unter der Überschrift „Jn dir muß GOtt gebohren werden“: „Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn / Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn“. Das Thema der geistlichen Vergegenwärtigung wird in den Nummern 62f dann auch auf Kreuz und Auferstehung übertragen: Nr. 62 „Das aͤussre hilfft dich nicht.“: „Das Kreutz zu Golgatha kann dich nicht von dem boͤsen / Wo es nicht auch in dir wird auffgericht / erloͤsen.“ & Nr.63 „Steh selbst von Todten auff“ : „Jch sag / es hilfft dich nicht / daß Christus aufferstanden / Wo du noch ligen bleibst in Suͤnd und todesbanden.“ (vgl. Angelus Silesius [Johannes Scheffler], Cherubinischer Wandersmann, Krit. Ausgabe, hgg. v. Louise Gnädinger, Stuttgart 1985, S.36).
Exaudi, 21.05.2023, Stadtkirche, 1.Samuel 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi - 21.V.2023
1.Samuel 3, 1 -10
Liebe Gemeinde!
Wir stehen gerade mitten in den zehn unheimlichsten Tagen, die unser Kirchenjahr außerhalb der Passionszeit kennt: … Die Erde ist seit Donnerstag christusverlassen; … der Himmel bleibt vor Pfingsten geistverschlossen. ….
Zehn Tage ohne unmittelbar heilsgeschichtlichen Gedächtnis-Inhalt also. Zeit der Latenz, zusammengesetzt aus der Zahl der sieben Entwicklungs-Tage der Schöpfung und der drei geheimnisvollen Tage der Erlösung von Karfreitag bis Ostern. Zehn Tage, in denen alles oder nichts geschehen kann …….
Vielleicht können wir diese sonderbare Zeit der sich stauenden Zukunft, … vielleicht müssen wir diese Zeit des Zukunftsstaus sogar ganz unmittelbar auf den gegenwärtigen Moment der Weltgeschichte übertragen: Die Entwicklung der Schöpfung oder die Verfinsterung des Schöpfertodes - das Mysterium Gottes, das in beidem, in Macht und Ohnmacht sich ahnen lässt -, halten sich gerade noch die Waage. Die nächsten Schritte können zur Rettung des Ursprünglichen ebenso wie zu seinem irdisch nurmehr unaufhaltsamen Untergang führen.
… Das klingt reichlich pathetisch.
… Aber vor nicht langer Zeit sind Menschen in gewöhnlichen kleinen Tälern unserer näheren Heimat ertrunken so wie jetzt in Italien. In der Schweiz brechen die Berge auseinander, in den Bergen schmelzen die Gletscher, in der Ebene vertrocknen trotzdem seit ein paar Jahren die Ernten und in den Wäldern von den würzigen Pinien und Korkeichen bis zu den Krüppelkiefern und Birken der Tundra wüten von Frühjahr bis Herbst Feuer und atmen die tauenden Böden des Nordens Gas aus.
Wenn wir noch zehn Jahre haben sollten, dann sind es jene Jahre, in denen entweder die Verlassenheit von allen guten Geistern oder eine geschichtswendende Geistausgießung endgültig geschehen und bestätigt werden.
Da trifft es sich gut, dass wir an diesem Sonntag dazwischen - zwischen Abschied und Anfang - tatsächlich eine Ruh- und Weckgeschichte hören, … jedoch keine Traum- oder Albtraumgeschichte.
Noch besser aber passt die Überschrift über dieser Geschichte: Es ist eine Überschrift, von der ich seit einiger Zeit denke, dass sie - von den meisten Menschen unerkannt - als Titel über unsern Lebzeiten steht. Und wenn wir es einmal wirklich wahrnehmen, wie unsere Tage überschrieben sind, dann überkommen uns vielleicht Furcht und Zittern, oder - wer weiß? - vielleicht auch Entschlussfreudigkeit und seelisch Klarheit. Von den Tagen Elis jedenfalls galt: „Zu der Zeit war der HERRN Wort selten und es gab kaum noch Offenbarung“.
Bei Martin Buber und Franz Rosenzweig lautet diese Zeitansage: „In jenen Tagen war Anrede von IHM kostbar geworden, keine Schauung brach durch“. … Und dann mit einer so alarmierenden Spitzenstellung des Temporaladverbs, dass es mir den Rücken runterläuft: „Noch nicht erloschen war die Leuchte Gottes“.
Das also ist der Name dieser Zeit: Zeit des Noch-nicht-Erloschenen.
Und in ihr ruhen sie.
… Zumindest der alte Mann. Eli. Man kann und muss ihm nicht böse sein: Elis Augen haben viel vom Überfluss der Welt gesehen, haben auch treu über der Bundeslade gewacht, in der im Heiligtum von Silo das lenkende Wort Gottes verwahrt liegt; Elis Augen sind auch angestrengt, weil er immer wieder eins von ihnen zugedrückt hat, wenn seine Söhne in der Anspruchs- und Selbstbedienungsmentalität der Generation, die nichts anfangen musste, weil sie alles übernehmen konnte, sich am priesterlichen Dienst bereicherten und obendrein noch sexuelle Ausbeutung übten: Klerikaler Machtmissbrauch der ersten Stunde (vgl. 1.Sam.2,12ff; bes.22) . Eli, der Ordentliche, … Eli, der brave Patriarch mit der Vetternwirtschaft, … Eli, der ganz gewöhnliche Egoist und Pragmatist, der die guten, die halbherzigen und die skandalösen Züge seines Wesens nach lebenslanger Gewohnheit nun nicht mehr ändern wird. …Eli macht Nickerchen.
Jedenfalls liegt er still. Vielleicht im Schlummer. Vielleicht in der Schlaflosigkeit des Alters. Oder beim Versuch, den Kummer und die Gewissensbisse, die ihn beschleichen mögen, durch gleichmäßig ruhigen Atem zu betäuben. … Eli, der das Leben mehr recht als schlecht schon fast bewältigt hat und jetzt ein bisschen Yoga, ein bisschen Selbstmitleid und ganz viel Blindheit gebrauchen kann, um sich nicht mehr allzu sehr den Kopf zu zerbrechen über den vielen Ärger. …Und im Heiligtum liegt sowieso ja der Junge.
Es ist verlockend platt und es liegt erschreckend nah, das Bild des hingestreckten alten Priesters aus der Zeit vor Israels Königtum mit Bildern von hier und heute zu überblenden.
Eli hat Züge, die ich im Spiegel sehe und in der U-Bahn und in der Kirche und im schwerfälligen Betrieb des Betriebes, den wir unsere Wirtschaft, unsere Politik und Verwaltung und Kultur nennen. Überall haben sich solche wie ich und die noch Älteren breit gemacht: Rechtschaffen zumeist und auch rechtschaffen stolz und rechtschaffen müde oder mürrisch. Was die eigenen Aufgaben und das eigene Lebenswerk betrifft, baut sich das Selbstbewusstsein als starke Mauer gegen allzu viel Nachdenklichkeit auf:
„War schon alles recht. Kann niemand was sagen. Und dass man hier und da den eigenen oder wenigstens den Vorteil seiner Kinder auf selbstverständliche Weise geschützt hat, … tun das nicht alle? Und dass man jetzt noch seine Ruhe haben will und was noch vom Leben zu haben sein mag, ist ein Recht des Alters und der Natur!
… Gut, dass die ziemlich eingestaubte Bundeslade, die ziemlich unbeachteten Worte und Forderungen Gottes, … diese wirklich weit heruntergebrannte, noch nicht völlig verloschene Leuchte nicht mehr unser Problem sind! … Niemand richtet sich nach Gott? Niemand sucht Seinen Willen und hält Sein Gebot? Die „Schauungen“ schaffen trotz ihrer visionären Deutlichkeit keinen Durchbruch mehr durch das Polster der Naivität und Ignoranz? Die Menschen leben geist- und gottlos offenkundig viel lieber als gebunden an Scheu vor dem Himmel und Ehrfurcht vor einander? – Ach, da sollen sich nun andere Gedanken machen! Soll doch der Junge, der da bei der Lade schläft, sich in Zukunft drum kümmern, dass sie Lampe brennt, das Wort vernommen und der Wille Gottes getan wird.“ ——
Das ist eine Karikatur … zweifellos. Und wie alle Karikaturen vergröbert sie die Wirklichkeit, um ihr auf einfache Weise das Überwirkliche, das schmerzhaft Wirkliche abzugewinnen. Boshaft ist das vielleicht und grob fahrlässig in der Verallgemeinerung der Generationenrollen: Hie der unsympathisch selbstsüchtige Alte, der nach seinem fast gelebten Leben auf alle bleibenden Lebensfragen pfeift, … da der junge Mensch, dem nichts bleibt, als die Versäumnisse und Schuldigkeiten der Vorgänger abzutragen.
Wir kennen diese Karikatur und kennen auch ihre Wirklichkeit und Überwirklichkeit.
Wir wissen nicht nur von den aufdringlich pathetischen Weltschmerzen der Jugend, die sich zukunftslos fühlt und von uns Gestrigen um ihr Morgen betrogen. … Sie haben übrigens Recht, … grausam Recht sogar!
Wir wissen und erleben auch, dass immer mehr begabte und berufene junge Köpfe und Herzen aufgeben: Sie fahren zur Immatrikulation an die Universität und kommen heim ohne sich eingeschrieben zu haben, einfach weil die Schar der Gleichaltrigen mit oder ohne Hoffnung und Ehrgeiz ihnen vor Augen führte: Wir haben alle nichts mehr zu hoffen; es ist in der Welt zu spät geworden für einen neuen Anfang und einen besseren Weg.
Wir wissen darum wahrhaftig auch vom massenhaften Zynismus, den wir fast alle mitmachen, weil er uns in Fleisch und Blut zu sitzen scheint und uns einfach nichts an unserm Leben ändern lässt, obwohl das für genau unser eigenes Fleisch und Blut - in der Gestalt der Kinder und Kindeskinder - nicht bloß Ohrfeige und Hohn bedeutet, sondern Hunger und Tod.
Wir wissen es wirklich gut: Es drängt, und die allermeisten machen sich’s weiter bequem wie der Greis, der schlecht hört, kaum sieht und keine Störung an sich heranlässt.
Diese Karikaturen also kennen wir … und sind wir … und haben wir satt!
Doch die Wirklichkeit des Eli – selbst wenn wir ihn noch so karikierend zeichnen als alten weißen Mann, der sich nicht kümmern mag um geistlichen und weltlichen Dreck und weltliche und geistliche Sünde, die er denen nach ihm hinterlässt … die Wirklichkeit des Eli ist an einer Stelle so weit von uns und allen unseren Wirklichkeiten entfernt, dass es genau hier unendlich ernst wird.
Er wird gerüttelt von dem Jungen aus dem Tempel und murmelt was von erster Bürgerpflicht, von Ruhe: „Geh schlafen, Samuel!“.
… Und wie in Gethsemane ein zweiter Versuch des Tiefbeunruhigten an der Lagerstatt der Teilnahmslosigkeit. – „Geh schlafen, Samuel!“ …
Und dann das dritte Mal. … Und genau da ist der Unterschied zu uns!
In der Ruhestörung und Ratlosigkeit des jungen Samuel zuckt durch das müde Herz und Hirn des alten Eli plötzlich die Möglichkeit Gottes! … Sollte Gott wohl zu dem Knaben sprechen? Sollte Gott also vielleicht hinter der Unruhe des jungen Menschen stehen? Sollte Gott sich im Schweigen der verlöschenden Zeit ohne Empfänglichkeit für die Offenbarung auf diesem Weg durch den Mund der jungen Kinder und Säuglinge (vgl. Ps.8,3) Gehör schaffen wollen? …….
Eli muss schließlich mit Gott rechnen!
… Und nun lautet die Frage an uns: Tun wir das auch noch? …….
… Wenn das auch bei uns so wäre, … wenn das auch bei uns wieder so würde, dann wäre die Zeit, in der das Wort so wenig gehört und die Wahrheit so selten befolgt wird, die Zeit, in der das Licht so schwach nur noch leuchtet, tatsächlich eine Zeit zwischen Verlassen-Sein und Erfüllt-Werden wie sie in diesen zehn Tagen für uns Christen unverkennbar herrscht und in diesen zehn Jahren in der Welt entscheidend sein wird.
… Rechnen wir mit Gott?! Geht es uns auf, dass in den Sorgen, im Klamauk, in der nervtötenden wie der besorgniserregenden Panik, im aufgescheuchten Suchen, im sendungsbewussten Forschen und Fordern der jungen Menschen Gott Seinen Anspruch auf Welt, Zeit und Zukunft geltend macht?!
Sind wir also bereit, uns als Christen, die dem Vergessen der Offenbarung, dem Verleugnen des Gebotes Gottes und dem Verdunkeln Seiner Herrlichkeit nicht länger duldsam zusehen oder dabei wegsehen können, uns wachrütteln zu lassen von denen, die Ihn vernehmen?
Das ist nicht die Frage irgendeiner politischen Protest- oder Parteibewegung; es ist nicht die Frage eines gewöhnlichen Generationenkonfliktes oder eines bestimmten weltanschaulichen Lagers. Es ist die Frage, die zu jeder Zeit zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Veränderungs- und Erneuerungs-Mission Seines Heiligen Geistes an alle, die im Bund mit Gott und in der Nachfolge Jesu stehen, gerichtet wird:
- Seid Ihr bereit für Seine Kraft zur Ausrichtung der Umkehrbotschaft und für den Anbruch Seines Reiches?
- Seid Ihr bereit, die Welt nicht beim Alten zu lassen, sondern sie in die Zukunft des Kommenden führen zu lassen durch Seinen Geist, Der Kinder und Greise erfüllen will?
- Seid Ihr bereit, nicht mehr zu schlafen, sondern wach zu werden dafür, dass Seine kostbare Anrede wieder gilt und die Schauungen, die Er schickt, die perspektivlose Finsternis auf Erden endlich strahlend durchbrechen?
- Seid Ihr bereit, dass - wie es der Pfingstprophet Joel verheißt - nicht in irrationaler Dunkelheit, sondern im hellen Licht des Geistes eure Söhne und Töchter weissagen, eure Alten Träume haben und eure Jünglinge Gesichte sehen werden (vgl. Joel3,1) und dass keiner dann dem andern befiehlt „Träum weiter!“ oder „Schlaf endlich ein!“, sondern sie gemeinsam der Erfüllung des Verheißenen, der Verwirklichung ihrer Visionen dienen wollen?!
- Seid Ihr bereit, dass es in dieser dunklen, abnehmenden, drängenden Zeit Pfingsten wird und dass Erweckung kommt und Umkehr geschieht und nicht die Gewohnheit des alten Menschen, sondern das Wunder des von Gott erretteten und erneuerten Menschen die Welt prägt?
- Seid Ihr bereit, dass Gott ruft, auch zu hören und Ihm dann willig zu folgen, damit Ihr mit der gesamten Schöpfung frei werdet – so, wie wir’s eben sangen (vgl. EG 392)?!
- Seid Ihr bereit, ein Samuel zu werden, eine Maria von Nazareth, die dem rufenden Gottesgeist antworten (1.Sam.3,10 / Lk.1,38): „Rede, HERR, denn Dein Knecht hört! Ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast“?! ——
…………
Wenn wir dazu bereit sind, dann wird diese leere Zeit, diese Stillstandszeit, in der sich Geistausgießung und Erweckung oder das Verschlafen des letzten Rufes und dann das Ende ankündigen können, eine Zeit voller Segen und Sinn!
Wenn wir nur wie Eli damit rechnen, dass Gott die ruft, die nach uns kommen!
Wenn wir nur wie Eli die lebendige Berufung der nächsten Generation, ihre Berufung zum Leben erkennen und uns mit ihnen zum Hören und zum Heilen, zum Helfen und zum Hoffen bereithalten, dann werden sie keinesfalls die letzte Generation sein, sondern eine samuelische und marianische Generation der Wegbereitung für wirkliche Zukunft und neues Leben.
Und dann gilt, was in der Fortsetzung der Gottesrede an den hörenden Knaben Samuel im Zusammenhang einer Drohung gesagt wird, und was zum alles entscheidenden Inhalt wird, wenn wir es jetzt - vor Pfingsten - im Verheißungszusammenhang für die bedrohte Welt hören dürfen.
Gott spricht: „Ich will es anfangen und vollenden“ (1.Sam.3,12)!
Ja, Du Belebender und Vollendender, der Du - wie Samuels Mutter betete - zu den Toten hinabführt und wieder herauf (vgl. 1.Sam.2,6):
Du sendest aus Deinen Odem, so werden sie geschaffen,
und Du machst neu die Gestalt der Erde.
Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen
und entzünde in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe![i]
Amen.
[i] Die alte, gesamtkirchliche Pfingst-Antiphon hier in der Fassung des Bayrischen EG 693.6.
Rogate, 14.05.2023, Stadtkirche, 1.Timotheus 2, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 14.V.2023
1.Timotheus 2, 1-6
Liebe Gemeinde!
Was Jesus gemeint hat, als er uns Salz nannte (vgl. Matth.5,13), wird immer deutlicher: Es soll nicht zu viele Christen geben. Eine Welt aus lauter Christen wäre sonst zwangsläufig versalzen! Die Streuung, nicht die Häufung macht die Wirkung aus. Und wenn’s auch nur eine Handvoll wäre: Ist sie gut und stark, dann durchdringt und verändert sie alles, was durchs Salz vorm Verderben und Vergehen bewahrt wird.
Darum – obwohl ich geschworen hatte, so oft wie möglich laut auszurufen, wie furchtbar eine Welt nach dem Verschwinden des Christentums sein würde! – muss ich heute sagen: Es kommt nicht auf die Christentums-Masse oder Christentums-Dichte an, sondern auf die Klarheit des Christentums. Christen, die wissen, was sie wollen und sollen, ändern alles.
Und darum gilt: Je seltener sie waren, je seltener sie werden, desto mehr liebe ich die Christen!
… Da sitzen sie am Anfang in irgendwelchen Löchern, unterhalb der römischen Kanalisation, geduckt zwischen den Grabfächern der Katakomben, eingebuchtet in Hausarrest oder bei peinlichen Verhören oder in der Verbannung. Der Mitarbeiter des Paulus, Clemens, der im Philipperbrief direkt vor dem berühmten „Freuet euch in dem Herrn allewege“ (Phil,4,4) genannt wird und der später als Bischof von Rom dritter Nachfolger des Petrus wurde[i], hat seine letzten Jahre der Überlieferung nach in einem Bergwerk auf der Krim verbracht[ii]. Dort und überall sonst, wo diese lächerlichen kleinen Radikalinskis der Liebe eines fremden Gottes und eines Gekreuzigten auftauchten, haben solche Witzfiguren der Geschichte sich eingebildet, ihre jüdischen und doch-nicht-jüdischen Beschwörungen und Gesänge lenkten das Reich!? Sie meinten tatsächlich, ihre versöhnlichen Gedanken und ihre unverbesserliche Hoffnungsdummheit spielten eine Rolle dabei, wie die Welt läuft?!
… So ein mit Zwangsarbeit und Hungerrationen gefolterter Apostelschüler und Gemeindehirte am Ende der Welt, am rauhen Fels des Schwarzen Meeres wie dieser Clemens von Rom wird an den Völkerapostel Paulus zurückgedacht und sich eingebildet haben, wenn er jetzt den Kaiser Trajan vor seinen Gott bringe, so wie Paulus und auch Petrus seinerzeit ihren Richter und Henker, den Kaiser Nero, dann werde das etwas an der Gewalt dieser Imperatoren und am Verlauf der Ereignisse für Heiden, Juden und Christen in der Antike beeinflussen!?
… Völlig machtlos, völlig entwürdigt, völlig übersehen und ohne jede Bedeutung haben diese restlos passiven Opfer der Geschichte sich dennoch eingebildet, sie nähmen aktiv daran teil: Dabei hing in Wirklichkeit doch alles von der Verdauung der Kaiser, den Intrigen ihres Senats, vom fiskalischen Eifer der Prokuratoren, von den militärischen Erfolgen des Heeres und von der Schwäche oder Korruption aller Barbaren ab. …
… Was ein altgewordener Paulusschüler Timotheus in Ephesus oder ein Grubensklave Clemens bei Sewastopol in ihrer Freizeit und ihren eucharistischen Feiern zwischen Schmerz und Sterben taten, machte da wahrhaftig nichts aus. …….
Nur dass diese verrückten, hartnäckig an der Weltgeschichte mitstrickenden Häftlinge und Judengenossen aller Länder und Lumpenproletarier im priesterlichen Dienst und Heiligen der Schlachthöfe allen Ernstes daran festhielten, sie - ausgerechnet sie: die Nebenfiguren einer religiösen Eintagsbewegung!?- seien so etwas wie der Thronrat des Himmels, das Kollegium des lieben oder des donnernden Gottes vom Zion, dem auf Golgatha seine Seifenblase doch eindeutig zerstochen worden war.
… Sie aber glaubten’s!
Sie spürten’s!
Sie wussten’s!
Da auf Golgatha und in seinem Schatten im Gartengrab war die Weltgeschichte – die Geschichte Judas und Roms, die Geschichte ganz Asiens, Afrikas und Europas, die Geschichte auch jener weiten und weiteren Erdteile, die niemand von ihnen jenseits der bekannten Meere auch nur ahnte – entschieden worden.
Kreuz und Auferweckung lautete die Entscheidung:
Wenn und was auch immer alles untergehen und sterben muss … Gott will, dass alle Menschen gerettet werden!
Dieser atemberaubende Satz, der alles sagt, was das Christentum zu sagen hat, findet sich in dieser schnörkellosen Beiläufigkeit tatsächlich im klarsten Klartext hier, im 1.Brief des das ganze römische Imperium durchwandernden Paulus, der bald ein Märtyrer der römischen Justiz werden wird, an die Nachwelt in Gestalt des jungen Timotheus.
… Ausgerechnet die Anfänge der Märtyrerkirche werden also zur Voraussetzung der universalen Botschaft der Christen!
… Ausgerechnet das, was die Apostel und ihre Nachfolger an Leiden durch das Weltreich erfahren mussten, machte sie zum Sprachrohr der Versöhnung der Menschheit!
… Weil sie vergingen, wurde in ihnen die Hoffnung für alle geweckt!
Das ist das Salz-Geheimnis unseres Glaubens: Gerade in seiner Auflösung setzt er sein grenzenloses Potential an Rettung frei! ——
Nun gibt das uns in aller Seelenruhe allmählich vor uns hin schwindenden Christen heute keinen Anlass, uns ohne Weiteres als die Fortsetzung der weltbejahenden und welterhaltenden, blutig Verfolgten von damals zu betrachten. Aber umgekehrt – auch wenn unsre schlimmsten Feinde der eigene Kleinmut, die selbstbetriebene Unkenntlichmachung und die ölige Idee von der maßgeschneidert subjektiven Zivilreligion für alle sind – … umgekehrt also haben wir nicht das Recht, auch nur ein Fünkchen weniger für die gesamte Menschheit zu hoffen, für die Geschichte zu bangen und zu beten und uns als Fürsprecher und Anwälte für alle berufen zu fühlen als die alte Kirche einst.
Unser Glaube nämlich – ein Glaube, der von der ersten Stunde des Hirtenfelds und Engelsliedes an den Menschen allen ein Wohlgefallen zusagt – … unser Glaube ist Einbindung ins ganz Große!
Unser Glaube atmet das „Siehe, es ist sehr gut!“ aus, das überm gesamten geschaffenen Kosmos strahlt; unser Glaube atmet den Schmerz ein, den die Absonderung der Menschen von Ihm Gott in Eden und überall zufügt; unser Glaube hat den langen Atem der ewigen Geduld und Vergebungsbereitschaft des mit Israel verbündeten Gottes, Der die Väter begleitet, die Könige geleitet, die Propheten bereitet und die Strafe des Exils geteilt hat; unser Glaube stößt die Seufzer und die Lockrufe Gottes aus, Der Sich einfach mit keinem Verlorenen zufrieden geben kann, sondern wirkt und wartet und wartet und wirkt, bis schließlich und endlich alle Seine Söhne und Töchter heimkehren zu Ihm.
Diese Einbindung in die göttliche Liebe und Sorge, dieses Einbezogen-Werden in die göttlichen Hoffnungs- und Erwartungshorizonte für die Welt ist die politische, die öffentliche, gesellschaftliche und soziale Mission der Kirche.
… So weit, so einvernehmlich in weiten Kreisen des Protestantismus, der sich den Weltgestaltungs- und Einmischungsauftrag, der sich seine ethische Verpflichtung aufs Gemeinwohl und seine Partizipation an der öffentlichen Verantwortung in partisanenhaftem Eifer auf die Fahnen geschrieben hat.
Doch verblasst ist dabei, dass die ursprüngliche und ureigene Gestalt der parteiischen Mitwirkung der Kirche an der Verwandlung und Erlösung der Welt nach Gottes Gebot und Verheißung durch … das Gebet geschehen soll!
… Durch das Gebet, das gerade kein Instrument der menschlichen und darum begrenzten und ausschnitthaften Weisheit ist, sondern ein Einreihen und Einstimmen, ja, ein Unterordnen und Aufgehen in der Weisheit und im Willen Gottes!
Wo statt des Gebetes die Meinung der Christen zum Mittel und Maßstab erhoben wird - wir erleben es andauernd -, da herrscht zwangsläufig das, was man den „Partikularismus“, das Regime der Teilchen, die Politik der Gruppen, die Selbstbehauptung von einzelnen Untergliederungen des großen Ganzen nennen muss.
Unsere Einsichten und Überzeugungen weichen selbstverständlich ja nun einmal voneinander ab: Ehrlichen Herzens hoffen und betreiben die einen Dieses, die anderen Jenes für das höhere Gute. … Und bösen, trotzigen Herzens stoßen sich die Bestrebungen der Menschheit erst recht hart im Raum. …….
Wenn wir es also allein auf unsere Pläne und Ziele gründen, wird das Projekt dieser Welt immer aus Kooperation und Kompromiss, Kompromiss und Konflikt, Konflikt und Krieg, Krieg und Kompromiss, Kompromiss und Kooperation und Konflikt bestehen. …
Wenn aber nun einmal ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, dann bedeutet diese erste und letzte Einheit, dass trotz aller notwendigen und wirklichen Unterschiede die Menschheit tatsächlich in einem Umfassenden wurzelt und von dem Einenden umfasst werden wird.
Diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit, von der die verfolgten Christen im Angesicht ihrer Quäler durchdrungen waren und die die gespaltene Kirche auch heute noch trotz ihrer Teilung bezeugen muss und die der gegenwärtigen Feier des Pluralismus nicht entgegensteht, sondern den Raum der Versöhnung eröffnet, … diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit ereignet sich vorweg in der Gestalt des Gebetes, … des Gebetes, wie es Christus und seine Apostel lehren und üben.
Es ist Gebet für die Feinde … das ungeheuerliche, große „VATER, VERGIB IHNEN!“ (vgl. Lk.23,34)
Es ist Gebet für die, die auf der Gegenseite stehen und vertreten, was wir selber verneinen, und behaupten, was wir unsererseits bestreiten, und hoffen, was wir fürchten, und hassen, was wir lieben und wollen, was wir verhindern müssen, und verlangen, was wir verabscheuen.
Dieses Gebet der Christen, die nicht ihre Vorstellungen und Wünsche für sich formulieren, sondern die buchstäblich „außer sich“ beten, deren Bitten und Hoffnung buchstäblich das „Jenseits“ betreffen - das, was nicht vom eigenen Horizont abgegrenzt wird -, … dieses Gebet der Christen ist tatsächlich die vollständige Teilnahme an Gottes grenzenlosem und allumfassendem, an Gottes überweltlichem und versöhnendem Handeln: Weil es sich nicht beschränken, nicht vereinnahmen oder festlegen lässt: Christen sollen nicht um ihre Sache, nicht nach ihrem Gutdünken, nicht gemäß dem eigenen Standpunkt beten.
Ihr Gebet wird darum letztlich nichts anderes sein wollen, als alle und alles, überall und immer nur vor Gott zu bringen und Seinem Willen, Seiner Gerechtigkeit, Seiner Barmherzigkeit anheimzustellen. Es wird immer zuerst und am weitesten und offensten lauten: „GEHEILIGT WERDE DEIN NAME! DEIN REICH KOMME! DEIN WILLE GESCHEHE!“
Das ist der Grund und Ursprung des uns so devot, so befremdlich staatsfromm anmutenden Gebets für die Obrigkeit, zu dem Paulus, der baldige Blutzeuge Timotheus und die nachrückende Generation auffordert: … Nicht, weil das Christentum sich als Stütze der Gewalten, als Erfüllungsgehilfe aller Mächtigen, als Speichellecker der Fürsten, der Zaren, der Juntas und der Diktatoren oder heute als Schleppenträger des Zeitgeistes anbietet. … Das alles hat es viel zu oft schon getan und tut es in seiner widerlichsten, seelenmörderischsten Form noch immer in Gestalt des perversen russischen Patriarchen und Klerus.
… Aber das ist der billige Fusel aller Religion, ja überhaupt aller Weltanschauung: Sich zu berauschen am süßen Gesöff von Macht, von Protektion, Erfolg, Sieg …
Das Salz-Geheimnis dagegen hat gerade die umgekehrte Wirkung: Scharf und ernüchternd ist es, wenn wir begreifen, dass wir nicht beten, um uns zu verbünden mit denen, die uns groß machen, sondern dass wir Bitten, Gebet, Fürbitte, …. ja, sogar Danksagung einsetzen und hingeben auch für die, die alles auflösen, was uns am Herzen liegt.
Darum wissen wir – gerade im Bund mit dem Gott, Der will, dass allen Menschen geholfen werde – wirklich nicht, was wir persönlich bitten sollen (vgl. Rö.8,26).
Das Salz-Geheimnis liegt ja im Gebet des Paulus und des Timotheus für Nero.
Es findet sich Gebet des Clemens in der Verbannung für Trajan, der ihn vernichten ließ.
Es durchzieht das Gebet der Märtyrer und der kleinen, armen, ohnmächtigen Leute, die zu Zeiten der Tyrannen oder der Gnadenlosen oder der völlig Desinteressierten oder der ungebremst Sadistischen nicht aufhören konnten, sich an Gott zu wenden und Ihm alles anzuver-trauen … nicht nach ihrem Dafürhalten und Haben-Wollen, sondern im Vertrauen darauf, dass Gott weiter weiß und sieht und reicht und schlichtet und richtet und rettet, als unsere Vorstellungen je gehen könnten, und dass darum alle Welt- ob Freund, ob Feind! - vor Ihn gebracht werden muss.
Wenn - so wie auf Golgatha oder beim Martyrium des Stephanus (vgl. Apg.7,60) - die Opfer also für die Täter beten, … und wenn wir uns vergegenwärtigen, wie unendlich viele Vergessene und Vernachlässigte gebetet haben und beten „VERGIB UNS UNSERE SCHULD, WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN“, … und wenn wir die Ratlosigkeit und auch die Wortlosigkeit empfinden, die unser Beten heute verhüllen (…sollen wir beten, dass eine gigantische Entscheidungsschlacht den Krieg gegen die Ukraine beendet? … sollen wir beten, dass diese oder jene Politik und Partei sich hier oder dort durchsetzt? … sollen wir den Sturz Erdoǧans und Netanjahus erflehen? … und welchen konkreten Ausgang wollen wir - abgesehen von Waffenstillstand - für das Metzeln im Jemen und Sudan wünschen? … und wem gilt unsere Fürbitte für die Verantwortlichen in China? … und wie sieht unser Gebet für Taiwan aus? … und welche Dreistigkeit oder Genauigkeit, welche Vorgaben oder fixe Ideen enthalten unsere Gebete für unsere Kinder, unsere Pläne, unsere Anliegen?) … wenn wir also die Beunruhigung und das Zerrissene spüren, die in der Welt aufbrechen und die uns zum Beten bringen, dann merken wir tatsächlich, dass ein ruhiges und stilles Leben nur möglich sein kann, wenn nicht wir alles vorentscheiden, festlegen, beeinflussen und mit unserem Senf garnieren, sondern es schlicht Gott anheimstellen: Alle Menschen, die Könige, alle Obrigkeit, alle Ordnung und Unordnung, alles Widrige und Erschreckende, alles Ungelöste und Unauflösbare.
Wir können es alles vor Gott bringen. Oft nur so, wie eine Pfarrerin am Ende ihres Lebens es mir vergangene Woche sagte: Ich habe keine Worte mehr und ich weiß kaum noch Namen. Aber mir begegnen die Gesichter und das ist mein Gebet.
Das ist unser Gebet: Die Welt, so wie sie da liegt oder da tobt, so wie sie sich auftürmt, wie sie zu verschwinden droht, wie sie sich ausbreitet, vor Gott bringen.
Für diese ganze Welt hat Christus sich selbst zur Erlösung gegeben.
Und an dieser Erlösung der Welt, an dieser Herrschaft Gottes über sie und für sie nehmen wir teil, indem wir ohne Anmaßung, ohne Täuschung - als die, die nicht wissen, was sie beten sollen - auf sie alle weisen und sagen:
„Sie sind die Deinen, Vater! Lass deinen Willen an ihnen, an allen geschehen. Und lass uns alle endlich diese Ruhe, diese Stille erfahren, die im Leben aus Dir, mit Dir und bei Dir besteht!“
Amen.
[i] Theodor Fliedner rühmt in seinem „Kurzen evangelischen Märtyrer-Buch für alle Tage des Jahres“ (2.Theil, Kaiserswerth am Rhein, o.J. [wohl: 1864 – vgl. Vorwort zu Theil 1], S. 1159 -1161) die „Glaubensfrische und Liebesinnigkeit“ des „gotterleuchteten“ frühchristlichen Theologen und Briefeschreibers, dessen Epistel an die Korinther aus den 90er Jahren des 1.Jahrhunderts n. Chr. zu den ältesten Quellen der Dogmatik und Ämterstruktur der Kirche gehört. In seiner typischerweise etwas hölzernen Diktion sagt Fliedner von diesem Korinther-Brief des Clemens Romanus, er „athmet Himmlischgesinntheit“ (aaO, S.1161).
[ii] Die Überlieferung von Clemens‘ Martytrium auf der Krim ist nicht zeitgenössisch, aber dennoch alt.
Konfirmation, 07.05.2023 (Kantate), Mutterhauskirche Kaiserswerth, 1.Samuel 16,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Mutterhauskirche 7.V.2023
1.Samuel 16,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Mit weniger als zwanzig Stunden Verspätung seid Ihr jetzt dran.
… Gestern hätte ich nicht darüber sprechen wollen, weil es mich zu sehr abgelenkt hätte; aber heute, wenn wir zurückblicken auf einen Tag, der schon vergangen ist, und vorausblicken in Euer Leben, das wir noch nicht kennen können, könnten wir ja Verbindungen suchen. …….
Gestern ist da einer zusammen mit seiner Frau gekrönt worden in der Westminster Abbey, und heute sitzen fünfzehn Menschen hier in der Mutterhauskirche, und es scheint äußerlich fast keine Gemeinsamkeit zwischen dem feierlichen, ein bisschen steifen, ein wenig auch lächerlichen, auf jeden Fall aber vollendet traditionsreichen Spektakel dort und unserem nüchternen, unglamourösen Jugendgottesdienst hier zu geben: Ihr seid zwar pünktlich hier eingetroffen, aber niemand von Euch fuhr eine achtspännige Kutsche und auf der Straße hat man Euch weder beklatscht noch ausgebuht. Ihr seid zwar wirklich anständig gekleidet, aber ich erkenne nirgends weißen Hermelin-Pelz und die Diademe fehlen. Wir haben lebendige und fröhlich-schmissige Musik, aber kein Wörtchen davon ist in Gälisch oder sonst einer keltischen Sprache. … Ihr sitzt auf keinem Steinbrocken unterm Stuhlboden, … Ihr habt keine Schwerter und Szepter zu jonglieren, … Ihr möchtet höchstens an den Stufen des Altars nicht stolpern, müsst Euch aber um rutschende Kronen keine allzu großen Sorgen machen, … und wenn Ihr nachher fertig seid, wird es - vermutlich - keine farbenfrohe Darbietung der Luftwaffe zu Euren Ehren über Einbrungen oder Kalkum geben. …
Das scheinen mir die auffallendsten Unterschiede.
Doch wenn wir dies Drum und Dran mal weglassen, – das, was in London kameratauglich war und hier jetzt nicht passiert, weil die BBC halt so mit der gestrigen Einsegnung beschäftigt war –, dann wird es allmählich schon weniger grundverschieden, was sich hier und da er-eignet hat, ereignen wird. Wenn einer nichts sehen könnte und die vielen sehenswerten äußeren Details ihn also schlicht nicht beschäftigten, weil er so jemand ist, der sich einfach immer nur stur auf das Wesentliche konzentriert, dann fällt es schon schwerer, trennscharf zu unterscheiden. Dort im Glanz und hier im Licht des familiären und vertrauten Gemeindelebens stehen Menschen vor Gott, weil sie in das Kommende nicht ohne Ihn und Sein Segens-Versprechen gehen wollen.
Es sind Menschen hier wie dort. Ob man Konfirmand oder König ist, das läuft auf genau das selbe hinaus. So hat der kleine Junge, der am Eingang bei der gestrigen Krönung die ersten Worte des Gottesdienstes sprach, ja wahrhaftig deutlich gemacht: „Als Kinder des Reiches Gottes heißen wir Euch willkommen im Namen des Königs der Könige“[i], war die Begrüßung für den alten Knaben aus dem Hause Windsor und es könnte auch die Begrüßung für Euch sein.
Durch sie wird klar, wie blind Gott auf Seine Weise ist. … Natürlich nimmt Er Euch und uns und alles wahr. Aber es ist eben völlig unmöglich, Ihn zu blenden. Ihm etwas vorzugaukeln, Ihn - wie es heute heißt – „influencen“ zu wollen, ist sinnlos. Auf das, was wir vorspielen und darstellen, achtet Gott genauso viel wie der Blinde auf den Bildschirm. Und das ist die eigentliche Verbindung zwischen dem jetzigen und dem gestrigen Londoner Segensgottesdienst.
Wenn die Krönung eines Königs – so wie es in Zukunft vielleicht zu befürchten ist, weshalb wir für das gestrige Ereignis wirklich als Zeitzeugen dankbar sein können! –…wenn die Krönung eines Königs einst nicht mehr in einem Gottesdienst, sondern bloß auf einer Bühne oder Leinwand oder in einer Arena stattfinden sollte, dann müsste man den ganzen Zinnober dabei ernstnehmen, weil dahinter mehr nicht wäre. So etwas gibt es als Konfirmationsersatz schon ziemlich lange. Es heißt „Jugendweihe“[ii] und spielt sich in Dorfgemeinschaftshäusern, Stadthallen, Aulen oder Kneipen ab. Da sind junge Leute wie ihr; sie sind schick (oder was sie dafür halten), nervös, gelangweilt, hungrig oder ziemlich k.o., weil es am Vorabend lang war. Dann gibt’s geschwollene Reden und Tamtam von Erwachsenwerden und Träume-Verfolgen und Verantwortung usw., und danach Cash und raus. Alles, so wie es Euch auch hier vielleicht vorkommen mag, wenn Ihr oder ich oder wir jeweils heute gerade einen doofen Tag haben. … Und das war’s. … Ach nein: Fotos noch von den Klamotten und Frisuren, die später als peinlich gelten werden. … Und das war’s!
… Was hier dagegen anders ist? … Der Blinde hier, Der die Frisuren und die Figuren und die Show und die Scham überhaupt nicht sieht. Wenn Der dabei ist – so wie gestern in Westminster und gestern auch hier in der Mutterhauskirche und gestern auch bei den Beerdigungen in der Ukraine und gestern auch bei den mit der Todesstrafe bedrohten, geheimen christlichen Bibelstunden in Nordkorea und im Iran und gestern auch bei den Sabbatgottesdiensten im wackligen Land Israel – wenn der große Blinde dabei ist, Der alles sieht, nur nicht unsere Außen- und Angeberseiten, dann ist alles anders! Dann ist nämlich alles entweder schön und feierlich oder Schnickschnack und TicToc - und man kann das eine oder das andere gernhaben -, aber wichtig ist dann in Wahrheit nur noch das Dabeisein dieses Einen, Der eine Krönung nicht von einer Konfirmation unterscheiden kann!
Das liegt an Seiner eigenen Königsgeschichte. Die erste Krönung die Er, Gott selber angestoßen hat, vollzog sich auf einem Bauerngehöft im Dörfchen Bethlehem. Dort wurde unter lauter gangstermäßig aufgepumpten Brüdern, die alle das Zeug zum Clanhäuptling gehabt hätten, ausgerechnet der Kleinste von ihnen ausgewählt. Ihn wollte Gott zum König machen, obwohl er höchstens eine halbe Portion war. …Weshalb? Auf diese von den verdatterten Anwesenden kommende Frage, die alle den tollsten Hecht im Karpfenteich bei dieser Jugendweihe und Siegerehrung von Bethlehem ausgezeichnet sehen wollten, antwortete der Prophet Samuel mit dem Hinweis auf Gottes Sehschwäche (1.Samuel 16,7) … oder Gottes Sehstärke?
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der HERR aber sieht das Herz an!“
Und von dieser verblüffenden Salbung Davids, der in den Augen der Menschen nicht das war, was der Schulhof einen „Ehrenmann“ nennt, dafür aber ein Mensch nach Gottes Herzen … von dieser verblüffend unspektakulären Salbung auf dem Hinterhof leitet sich das Ritual der Westminster Abbey mit dem alten Charles genauso ab, wie das, was wir hier tun.
Aus dem Stamm des kleinen David kamen nach ihm ja alle Könige in Gottes Volk. Auch der, dessen Namen Ihr seit der Taufe tragt und den Ihr eben weiter tragen zu wollen versprochen habt: Jesus, in Bethlehem genauso im Bauerndunst geboren wie sein Vorfahr David darin gesalbt wurde. In diesem Jesus aber ist Gott selber erschienen, und zwar so, dass man Ihn mit dem normalen Blick nicht erkennen würde.
… Man kann in einem Säugling im Trog und in einem Mann, der am Kreuz stirbt, schließlich ans sich nichts anderes erkennen als Armut und Leid.
Aber der Glaube sieht in dieser Armut und diesem Leid - weil er tiefer in Gott hineinsehen darf - genau das Umgekehrte: Den Reichtum der Liebe Gottes, Der Schweres und Schlimmstes mit uns teilte, um auch Sein Schönstes mit uns zu teilen, … Sein Leben!
Wenn Ihr das innerlich ahnt, wenn Ihr das anfangt zu erfassen – dass nicht die leicht erkennbaren ersten, äußeren Eindrücke zählen, sondern das, was sich verbirgt und nur dem Vertrauen zeigt – , dann seid Ihr Christen!
Und dann ist das, was Euch gleich gesagt und getan wird, tatsächlich die selbe Krönung und Salbung und Segnung wie die, bei der gestern die ganze Welt zugeguckt hat.
Auch da war nämlich nicht der Pomp und Spuk das Herz der Sache, sondern die Botschaft, dass ein ganz anderer König jetzt in den Geschichten und Verhältnissen und Aufgaben und Hoffnung der beiden Menschen, die man sah, wichtig werden will.
Jesus, der Christus - der Gesalbte, der Euch zu Christen und Christinnen macht.
Der Euch Seinen Geist und Seine Liebe mitteilt, damit Ihr sie weitergebt: Nicht nur an andere, die auffallen oder gefallen, sondern an alle, die sie innerlich nötig haben.
Lernt und übt Ihr also, was auch Euch guttut: Nicht vor die Menschen und die Welt zu gucken, wie reine Zuschauer, sondern dahinter.
Ihr werdet da nämlich die Anwesenheit Gottes in allen Dingen, in allen Menschen, in aller Wahrheit und in Eurem Leben finden! Und dann werdet Ihr merken, dass alles viel hoffnungsvoller und lohnender ist, als der oberflächliche Blick es meint.
Alles an dieser Welt ist verheißungsvoll. Alles an Eurem Leben ist sinnvoll.
… Vielleicht nicht von hier und heute aus mit bloßem Auge betrachtet.
Aber wenn Ihr dahinterkommt, dass Gott in allem auf Euch wartet, dass Er da sein wird und dass Ihr bei Ihm Euch selbst mit allem, was in Euch ist, verstanden und aufgehoben wissen sollt, dann wird Euer Weg als Christen und Christinnen voller Segen sein!
Und gerade das, was man nicht einfach sehen kann, wird dann aus dem Glauben, aus dem Vertrauen hervorgehen: Schweres, das überstanden und Böses, das machtlos wird, … Hilfe, die Euch begegnet und Wunder, die Ihr erfahrt, … Größeres, als Ihr Euch vorgenommen habt und Kleineres, das besser war als die riesigen Wünsche.
Bei der Krönung gestern fand der unsichtbare Augenblick der eigentlichen Salbung mit dem Öl aus der Grabeskirche in Jerusalem hinter einem Schirm statt, der das schützte, was Blicke ohnehin nicht erfassen können.
Aber auf diesem bestickten Schirm stand der Satz einer unglaublich fröhlichen, eigenwilligen Christin des mittelalterlichen England, … der Satz der Julian of Norwich[iii]:
„All shall be well and alle manner of thing shall be well.
Alles wird gut werden und alle Arten von Ereignissen werden gut werden!“
Und hinter diesem Satz findet sich Euer ganzes Leben als Christen.
Bei Eurer Konfirmation ist also wahrhaftig ganz viel dahinter!
Und nun seht es … nicht mit Augen, sondern mit mehr: Mit Eurem Glauben!
Amen.
[i] „Your Majesty, as children of the kingdom of God we welcome you in the name of the King of kings” lautet dieses neu in die Liturgie eingefügte Element auf S.20 in: The Coronation Service https://www.royal.uk/sites/default/files/documents/2023-05/The%20Coronation%20Order%20of%20Service.pdf
[ii] Die als lieblos und verletzend empfundene kritische Behandlung der Jugendweihe hat bei Gottesdienstbesuchern Widerspruch hervorgerufen. Solcher Widerspruch ist sinnvoll, wie umgekehrt eine klare und scharfe Kritik an der bewusst antikirchlich konzipierten Form der Jugendweihe, die zur Bestreitung und Ersetzung der etablierten Kasualie dienen sollte, m.E. nötig und legitim ist und bleibt. Dass in einer immer aggressiver werdenden öffentlichen Zurückdrängung von Christentum und Kirche die Kontroverse – früher: „Apologetik“ – eine zentrale Funktion unserer Diskurse ist, dürfte einleuchten. Wo die Entwicklungen gesellschaftlicher und privater Rituale u.ä. ihren programmatischen Transzendenzverlust betreiben, wird unser Widerspruch als Kirche nach meiner Hoffnung ebenso programmatisch sein.
[iii] Zum sog. „Anointing Screen“ vgl. die ausführliche Darstellung: https://www.royal.uk/news-and-activity/2023-04-29/the-anointing-screen. Zu Julians (ca. 1342 – 1416) entsprechender Überzeugung, dass Gott alles gute machen werde, vgl. ihre XIII. Offenbarung, in der dieses Leitmotiv begegnet, in: The Showings of Julian of Norwich: Authoritative Text. Contexts: Criticism, ed. Denise N. Baker, (A Norton Critical Edition) New York/ London, 2005, S.39 – 56; vgl. Besonders: “I may make alle thyng wele. And I can make alle thyng wele. And I shalle make alle thyng wele. And I wylle make alle thyng wele. And thou shalt se thy selfe that alle maner of thyng shall be wele” (S.43).
Konfirmationen, 06.05.2023, Mutterhauskirche Kaiserswerth, 1.Samuel 16,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Mutterhauskirche 6.V.2023
1.Samuel 16,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Manche Sätze hören schnell auf.
Der hier zum Beispiel: „Ihr seid echt.“
… Und da war schon der Punkt.
Wenn der Satz länger und wahr hätte werden sollen, dann wäre man vermutlich gar nicht mehr zu einem Punkt gekommen, sondern bei der Beschreibung, was an Euch in diesem Jahr insgesamt 62 Menschenkindern, die zu Gott gehören wollen, alles wirklich und charakteristisch und ausgeprägt und bemerkenswert ist, hätte ich Endlos-Ketten bauen müssen: Von „echt abenteuerlich“ bis zu „echt zackig“.
Und weil jeder Einzelne von Euch sehr, sehr viel mehr als bloß eine typische Eigenschaft hat und Ihr es fertig kriegt, sogar total gegensätzliche Züge in ein und dem selben Menschen zu vereinbaren – von „echt anstrengend“ bis „echt zauberhaft“ oder von „echt anarchisch“ bis zu „echt zielstrebig“ –, hätte ich wirklich das ganze Alphabet der Menschlichkeit durchbuchstabieren können, nur um aufzuzählen, was Ihr alles seid und was Ihr alles wollt und könnt und lernt und sollt und werdet.
Aber nicht bloß, um Zeit und Buchstaben zu sparen, fiel der Satz so kurz aus, … ohne Drum und Dran, … ohne Näherbestimmung und Feintuning. Sondern weil in diesem abrupt ins Ziel führenden Satz – „Ihr seid echt!“ – die drei wichtigsten Größen zusammenstehen, die es diesseits von Gott geben kann:
1. Als Erstes Ihr selbst nämlich, mit denen das kleine sprachliche Ur-Atom („Ihr seid echt“) anfängt. Ihr seid Typen und Charaktere, … individuelle Unikate und ganze Menschen. Kurzum: Jeder von Euch ist eine Person. Da trifft sich’s gut, dass Ihr echten Personen Euch gerade zu einem persönlichen Gott bekannt habt! Gott ist auch keine Wiederholung und kein Allgemeinbegriff. sondern Er ist genauso eine Person wie Ihr, Der will und macht und liebt und spricht und sich treu sein muss wie jede Person. Gott ist so persönlich, dass Er Mensch geworden ist. Jesus.
2. Und zweitens findet sich in dem Sätzchen „Ihr seid echt“ etwas, über das wir sehr wenig nachdenken, obwohl die Denker darüber sehr viel grübeln: Die Existenzweise, die wir „das Sein“ Zu sein heißt jedenfalls, dass wir da sind und nicht nicht da sind. Was ja auch ginge. Wir kommen also vor in Zeit und Raum, aber auch im eigenen und fremden Denken und Fühlen kommen wir vor und sind nicht einfach wegzudenken, wegzuwischen, wegzudiskutieren. In uns steckt und zeigt sich Wirklichkeit und nicht bloß theoretisch Mögliches. Das ist zwar ein bisschen deep, aber es heißt zumindest, dass wir teilnehmen an dem, was ist. Und auch das rückt uns in Verbindung mit Gott, von dem wir glauben, dass Er zwar alles Mögliche kann, uns aber in der Wirklichkeit begegnet: Indem Sein Heiliger Geist die Welt mit Leben erfüllt und sogar noch mehr Leben schenkt, als es Zeit geben wird. … Oh boy …..!
3. Drittens schließlich hält der kleine Satz ein Werturteil fest: „Ihr seid echt!“, d.h. Ihr seid nicht verkehrt, Ihr seid nicht falsch, nicht fake, sondern - wartet’s ab! - Ihr seid „wahr“! Und das ist nicht nur schön zu wissen – dass Ihr nicht wie Kopien oder Betrug wirkt –, sondern das ist jetzt auch tatsächlich wichtig, dass Ihr wahre Menschen und also Menschen der Wahrheit seid. Denn uns allen ist ja leider klar - obwohl es so verwirrend ist -, dass wir mehr Lügen, mehr Tricks und Täuschungen erleben, als uns lieb sein kann. Wenn aber Ihr wenigstens schon mal wirklich und wahrhaftig, wenn Ihr ehrlich und echt seid, dann hilft das Gott und der Welt tatsächlich weiter. Denn Gott selber ist die Wahrheit, und mit Ihm können nur echte Menschen wie Ihr sich verbinden. Keine Menschen, die unecht sind, … eingebildet, nachgemacht … oder künstlich.
Und das ist nun wirklich ein Stichwort dieser verrückten Zeit, in der Ihr jung und - Gott sei Dank! - alles in allem ja oft auch so fröhlich, unbeschwert und lebenshungrig seid.
In dieser Zeit also ist vieles wirklich schlimm – ohne dass wir davon heute ausgerechnet reden müssen. Und gleichzeitig ist in dieser Zeit so vieles unwirklich … und das ist auch schlimm!
Aber Ihr scheint mir genau das – die ganze Albernheit und den ganzen Albtraum der auf echt gemachten, aber eigentlich völlig unwahren Dinge, die man hören, sehen, mitteilen, weitersagen und auch erleben kann – als den großen Blödsinn erkennen zu wollen, der dahintersteckt.
Ich sage das deshalb, weil mir aufgefallen ist, dass unter den beliebtesten Bibelversen, die Ihr Euch ausgesucht habt, einer der am häufigsten Gewählte ist. …Und es ist nicht der Vers, der von dem redet, was einem Menschen durch den Glauben alles möglich wird (Mk.9,23), und auch nicht derjenige, der von den Schutzengeln spricht (Ps.91,11), unter deren Geleit Ihr in Eure Zukunft gehen sollt: Obwohl diese beiden und alle Eure anderen Konfirmationssprüche mich wirklich haben nachdenken und für Euch beten lassen.
Insgesamt am häufigsten habt Ihr Euch dieses Jahr aber den Vers ausgesucht, mit dem Samuel der Prophet begründete, weshalb Gott als zukünftigen König und Gesalbten für das Volk Israel keinen Kraftprotz und keinen Schönling und keinen nerdigen Alleswisser, sondern einen kleinen Bauernburschen auserwählt hatte, der überhaupt nichts Besonderes darstellte. Nachdem er diesen jungen Schafhirten David gesalbt und damit berufen hatte, erklärte Samuel:
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an“ (1.Sam.16,7).
Mit diesem Satz ist festzuhalten: Das, was wirklich an Euch und an anderen wichtig ist, das, was einen Menschen und ein Leben vor dem Unsinn des Immer-nur-so-Tun-als-ob bewahrt, das kann und muss man weder sehen noch zeigen. Der ganze Kram, den wir vorführen und mit dem wir uns darstellen, mag nötig oder auch bloß Schwachsinn sein. Auf alle Fälle betrifft er in unserem Leben aber nicht das, worauf Verlass ist und was wir Menschen brauchen.
Das alles erkennt und weiß wirklich niemand so gut wie Gott. Seine Erkenntnis nimmt Euch nämlich so wahr, wie Ihr eben seid: Was wunderbar an Euch ist und was Schutz braucht, sieht Gott. Er stärkt Euch im Guten, und niemals lässt Er Eure Fehler Seine Liebe zu Euch überwiegen.
Und wenn es irgendwo und irgendwann nötig sein wird, dann erneuert Gott Euch auch … nicht äußerlich sichtbar, was bei Euch noch lang nicht nötig sein kann (wobei Ihr heute ja beinah wie restauriert und funkelnagelneu lackiert ausseht) und was bei fast jedem, der’s versucht, lächerlich sinnlos ist. Nein, Gott erneuert an Euch das, was nur Er sieht: Eure Gedanken, Eure Energie, Eure Neugierde, Eure Fragen, Eure Hoffnung, Euren Glauben.
Er tut das, indem Er selber - Gott selber! - in Euch wirkt und in Euch wohnt.
Ihr habt ja unser wöchentliches Gebet zum Anfang des Unterrichts noch im Ohr: „Erfülle unsere Herzen mit Deinem Heiligen Geist!“ Dieses Erfülltwerden mit Freude an der Welt, mit Zuversicht fürs eigene Leben, mit Zuneigung zu den Menschen und mit dem Bewusst-sein, - völlig egal, was andere sehen und sagen - von Gott bejaht zu sein, das ist die Grundlage des Lebens als Christen, des Christ-Bleibens und auch der Erneuerung, wenn der Glaube und das Vertrauen einmal in die Krise kommen.
… Dass es solche Krisen - verschärfte, verrückte und verflixte Krisen - gibt, das muss man Euch Jugendlichen von heute nicht sagen! Aber dass ich Euch sagen darf und kann, dass die Krisen vergehen, während Gott bleibt und dass darum nicht das, was wir erkennen können, sondern das, was von Gott kommt und zu Ihm führt, das Allesentscheidende ist, das ist ein riesiges Glück! … Und heute wird es nicht nur gesagt, sondern auch getan:
Dass Gott Euch Seinen Segen schenkt, das geschieht ja nun gleich im Anschluss nach der Predigt. Gott schenkt Euch Seinen Segen, der alles, was schädlich ist, fernhält, der alles, was künstlich ist, überflüssig macht und der Euch heute und erneut und erneut und erneut die Kraft geben wird, zu glauben und zu bekennen, dass es wahr ist:
Gott meint wirklich Euch!
Ihr gehört wirklich Ihm!
Das ist keine Einbildung, keine Täuschung, nichts Vorgemachtes.
Sondern es ist das A und das O. Vom „echten Anfang“ bis zum „echten Ziel“ des Lebens und der Welt. Und natürlich dann auch darüber hinaus.
Denn dass Ihr in der Zeit der künstlichen Intelligenzen und der künstlichen Bilder und der künstlichen Lügen und der künstlichen Wahrheiten ganz einfach die beiden kurzen Sätze zusammenhaltet und für sie einsteht – „Ihr seid echt“ und „Gott ist echt!“ – das ist das, was zählt und Euch tragen wird.
Und wenn nun Ihr echten Menschen und der echte Gott zusammenfindet und -haltet, weil Ihr Euch zu Ihm bekennt und Er Euch segnet, dann wird aus den beiden kurzen Sätzen noch ein dritter:
Wenn Ihr echten Menschen und der echte Gott zusammengehört, dann gilt das ewig.
… Echt!
Amen.
Jubilate, 30.04.2023, Stadtkirche, Johannes 16,16 - 23a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate – 30.IV.2023
Johannes 16, 16 - 23a
Liebe Gemeinde!
Wenn das ein Text für „Jubilate!“ – den großen Sonntag des Oster-Jauchzens ist –, dann will man sich einen Text für den gar nicht bekannten Sonntag „Plorate!“ / „Heult doch!“ wohl lieber nicht vorstellen …….
Andererseits ist allein die Nüchternheit schon wieder wunderbar, mit der unsere Tradition das an sich so entlastende Jubeln nicht aus der Wirklichkeit der Welt heraushält, sondern auch den auferstehungsfröhlichen Gemeinden Fragen, Missverständnisse, Geduld und Anspannung zumutet: Jubelt, ihr Lieben, … jubelt, lasst hören, wie glücklich die Taten Gottes machen und wie sie Kräfte der Hoffnung freisetzen, aber vergesst nicht, dass es immer noch ein besonderer Tag - und kein Alltag! - ist, wenn der Glaube einmal nur nach Herzenslust tiriliert, und dass es daneben und mittendarin noch ganz viel Seufzen und Maulen, ganz viele Tränen und Lügen, ganz markerschütternde Urschreie und das ganz nervtötende Geratter der Ernte- und der Kriegsmaschinen gibt, die die Bäckereien und die Krematorien der Erde im Gebrauch halten. Jubelt, ja!, aber nicht so, als wolltet ihr die Weltgeräusche übertönen! Noch geht es auch um die Lasten und die Laster des irdischen Lebens. Noch sind auch an „Jubilate“ die Untertöne des Leidens und der Trauer nicht verstummt.
Und darum ist es seit Langem regelmäßiger Brauch, dass schon in der Osterzeit wieder die Abschiedsreden Jesu, seine leise und intime Meditation der Trennungen und Trübsal und des Trostes aufgeschlagen werden.
Ostern bringt uns nämlich nicht die Täuschung, dass es das Schwere und die Schmerzen gar nicht mehr gäbe, … sondern Ostern bringt uns den Trost, dass sie überwunden werden – so wahr Jesus lebt! ———
Doch für den Augenblick verlassen wir den Jerusalemer Saal des Letzten Abendmahles, wo Jesus sich losreißt von denen, die ihn fest in ihrem Horizont verankert glaubten und sich nicht vorstellen konnten, sein Weg werde anders, … erstaunlicher, … paradoxer, … erschütternder weitergehen als so ein menschlicher Erfolgsgedanke nun einmal aussieht. Für einen Augenblick – für jene „kleine Weile“, von der Jesus hier wiederholt redet und die uns in diesem Jahr schon einmal, am fröhlichen Passionssonntag „Lætare“ begegnete – … für einen Augenblick also verlassen wir die Abschiedsszene und gehen …. ja, wohin?
– Wir gehen in ein weites Feld, das wir nur selten erforschen. Dabei ist dieses unbekannte - in Wahrheit aber völlig vertraute Gebiet - der größte Teil und Raum des Lebens Jesu: Es sind die Zeiten und die Kleinigkeiten, von denen die Evangelien schweigen.
Bei bekannten und hörbaren englischen Liedermachern und Kirchenmusikern ist in den letzten Jahren ein vermehrtes Gespür für das, was sie „the unsung Jesus“ nennen[i], erwacht … ein Gefühl dafür, dass alles das an seinem Menschenalltag, was wir nicht erfahren und worüber wir folglich auch nicht nachdenken oder singen, uns Jesus gerade nahebringen würde, ihn in unserer Wirklichkeit, der er entschwindet, wieder gegenwärtig werden ließe.
… Und bei aller Zurückhaltung gegen allzu lebhafte Phantasie und allzu freihändige Legendenbildung ist doch nicht zu übersehen, dass unser Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes diese übersehenen, unspektakulären, gewöhnlichen und bescheidenen Seiten des realen Jesus, des konkreten Jesus, des stinknormalen Jesus in der Provinz und im Trott des Mitmachens, Durchkommens und Überlebens der Menschheit auch als Momente der Wahrheit umschließt. Dass Jesus an den selbstverständlichen und doch so existentiellen Vollzügen eines leiblichen Geschöpfes teilhatte, … dass er wuchs, sich entwickelte, sich ernähren und erholen musste, … dass er sich ausprobieren und auskurieren musste wie wir, … dass er Humor und sein Frühstück mit Menschen teilte, … dass er fror, staunte, überreagierte, sich langweilte, sich wiederholte, sich zuweilen versteckte und dann wieder gar nicht abzulenken war, wenn etwas seine Neugier fesselte … alles das muss man sich schon denken können, wenn man nicht plappern, sondern glauben und anbeten will, was das heißt (Joh1.14): „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns!“
Doch ich will jetzt gar nicht einfach drauf los solche Sittengemälde entwerfen und über alles Mögliche spekulieren, sondern mit dem Verdruss der verständnislosen Jünger bei Jesu rätselhaften Abschiedsreden im Ohr nur ein dort überraschend anklingendes Thema erwägen: Wann und wie erlebte der, von dessen Zeugung wir Einzigartiges, von dessen Geburt wir dagegen nur Gewöhnliches erfahren, dieses Urdatum des Lebens, diesen tatsächlich eigentlich nur mit dem Tod zu vergleichenden Grenzdurchbruch?
Es wird in der beengten Armut seiner ägyptischen Flüchtlingslager-Kindheit gewesen sein, wo niemand etwas verbergen und nichts von einem Menschen allein erfahren werden kann. Was unseren klinisch entfremdeten Zeiten - und man muss in vielen Fällen sagen: zum Glück der Betroffenen! - völlig unvorstellbar wäre, war in der Vergangenheit die selbstverständlichste, allgegenwärtigste Konfrontation der Öffentlichkeit mit dem Privatesten, der Kleinen mit dem Großen, der Menschheit mit den Mächten, denen sie sich verdankt und ausgeliefert bleibt: Liebe, Geburt, Lust, Gewalt, Lebendigsein und Sterbenmüssen trugen sich meist vor aller Augen, mindestens aber vor aller Ohren zu.
Es bedarf also keiner in irgendeiner Weise aufdringlichen, anrüchigen Phantasie, um sich zu vergewissern, dass der kleine Junge, der in Bethlehem gerade eben so einem Massaker entkommen war, schon in seiner unbewussten Kindheit erfuhr, wie das Leben beginnt: Durch die Kraft und den Schmerz einer gebärenden Frau, durch die haarsträubende und zugleich heilige Leidensbereitschaft, durch die das eine Leben einem anderen den Weg eröffnet.
In Nazareth wird es nicht anders gewesen sein, als er heranwuchs und dann so lange sein einfaches Handwerk übte: Die Wehmütter, wie sie von Haus zu Haus eilten; der lebensnotwendige Zusammenhalt unter älteren und jüngeren Nachbarinnen und Verwandten; das noch in der Zimmermannswerkstatt unüberhörbar sich emporschraubende Stöhnen und Jammern einer Niederkunft irgendwo im Ort … und dann entweder das alle Welt immer aufs Neue elektrisierende Geschrei eines Neugeborenen oder die schrille Totenklage, die so häufig nach den Torturen einer Geburt anzustimmen war.
Jesus wird mit alle dem ganz natürlich vertraut gewesen sein.
Wenn wir aber das kirchliche Bekenntnis durchdenken, das in ihm nicht nur den Menschen, dem nichts Menschliches fremd sein konnte, sondern den inkarnierten Logos verehrt, … das eingemenschte Schöpfungswort, … die Weisheit Gottes, von der die Lesung sprach (Sprüche Salomos 8, 22-36), die sich freiwillig unter die Menschen eingereiht hat, um ihnen Willen und Wirklichkeit Gottes unmittelbar nahe zu bringen, … wenn wir in Jesus, der als Mann in Nazareth zumindest indirekt bezeugen konnte, was eine Geburt bedeutet, auch Den erkennen, Der die Menschen als Mann und Frau erschuf und sie segnete, dass sie fruchtbar würden und sich vermehrten, dann erkennen wir vielleicht allmählich einen tiefen Zusammenhang: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes macht auch an dieser Stelle Ernst!
… Die spätestens seit dem Verlust der Unschuld schwere Last des Lebenschenkens (vgl. 1.Mose 3,16) sollte kein nur den Frauen auferlegtes und auch kein rein menschliches Schicksal bleiben, sondern die unlösbare Verbindung zwischen dem Herrlichsten - dem Leben! - und dem Härtesten - dem Leiden! - hat Jesus wie alles Unsrige zu seiner Sache gemacht.
Sein Leiden, das uns das Leben eröffnet, ist also sein Eintauchen in die weltweite Erfahrung der werdenden Mütter. Die Stadien seiner Passion sind buchstäblich seine Wehen. Und in der überwältigenden Grenzerfahrung des Todes bereitet sich jene ungeheure Sprengung der Grenzen vor, die in der Auferweckung das vorläufige Wunder jeder menschlichen Geburt endgültig vollendet. —
Das ist ohne Zweifel eine ungewohnte Sicht auf beides: Das innerweltlich so landläufige Geschehen des Geborenwerdens ebenso wie das einzigartige, Zeit und Raum übersteigende Wunder der Auferweckung. Und doch ist es der Grund, weshalb es ein Jubilate-Ansatz ist, das Weinen und Klagen und die Traurigkeit nicht zu übertönen, nicht auszublenden. ——
Damit aber sind wir wieder zurück im Obergemach, wo sie das Abendmahl hielten und wo Jesu Todeswehen anfingen: Was kommt, wissen und verstehen die Jünger nicht.
Was kommt, wissen und verstehen auch wir heute nicht.
… Was auf uns zukommt. Was auf die Welt zukommt. …
Bis vor wenigen Jahren lief es wie geschmiert … außer, dass es schon lange giftig und gefährlich und lebensbedrohlich war, wie unser Dasein lief, … aber wir konnten, nein: wir wollten es übersehen.
Und nun ist es nicht mehr zu übersehen.
Nun hört man überall Abschiedsreden. Die Welt, die wir kannten, … die Sicherheit, die wir zu haben meinten, … die Schmetterlinge und Vögel, … die Jahreszeiten und alle Wahrscheinlichkeiten, auf die man setzen konnte, … die Rechte und die Zukunft, die wir beanspruchten: Sie alle sind dahin. Die Unschuld ist verloren, weil wir es wieder einmal nur für uns machen wollten: Nicht der Schöpfer, nicht der andere Teil der Menschheit, nicht die Kreatur sollte uns aufhalten. Wir selbst wollten die Gewissheit des Guten wie des Bösen besitzen. ….. Nur dass nicht alles gut war, was wir dafür hielten, und dass wir unser Bewusstsein für das Böse - unser Gewissen - völlig unterdrückt haben.
Und so fangen tatsächlich die Wehen an: Die ganze Schöpfung stöhnt in ängstlichem Harren (vgl. Rö.8,19). Eine Zeit ist gekommen, die manchen viel zu unaufhaltsam auszugehen scheint, so dass sie sich zu den letzten Menschen erklären und die morgigen Menschen damit auch nur enterben, … eine Zeit, die andern gar nicht verkürzt genug sein kann, weil sie das aufgestaute Riesen-Potential an Katastrophen so sorgenvoll betrachten. Eine Zeit, die so oder so einem kleinen Augenblick verglichen werden muss – eine letzte Chance?, eine total unmittelbare Gefahr? – … ein kleiner Augenblick jedenfalls, der seltsam surreal, seltsam gebannt, seltsam unbewegt über uns schwebt und in uns stockt.
Wir wissen nicht, was das bedeutet: … Vergeht bald alles in unwiderruflichem Abschied? … Oder kehrt nicht endlich alles wieder zurück in seine uns noch so unverrückbar anmutenden, aber inzwischen erschütterten Fugen und Formen?
In welchem Augenblick der Weltgeschichte stehen wir denn? Was bringt die Stunde, die kommt? …….
Wenn wir Jesus vertrauen, dann hören wir heute eine erste Antwort auf diese Frage: Eure Beunruhigung, eure Verunsicherung, eure Traurigkeit ist richtiger und notwendiger, als die an den Fragen und Sorgen und Schmerzen unbeteiligte Fröhlichkeit, die es auch in der Welt gibt.
Wenn ihr die Gefahr, in der alles schwebt, spürt, … wenn ihr jetzt traurig seid, weil das, was sich auflöst und was noch kritischer werden wird, euch umtreibt, … dann habt ihr es heute gewiss schwerer als die, die sich immer noch gedankenlos freuen, als läge kein Abschied in der Luft, als feiere „Jubilate“ einfach nur den Leichtsinn.
Doch wir hören auch noch eine zweite Antwort auf die unsichere und unruhige Frage unseres Herzens, was der Augenblick bedeute. Die zweite Antwort ist die Antwort, die nur Der uns geben kann, Der sich freiwillig und also auch schutzlos, dabei aber doch in der Vollmacht des Schöpfers und also nicht hoffnungslos in alle, wirklich alle Gefahren des Menschseins begab.
Diese Antwort ist es, die die beklemmenden Schmerzen von heute – die nicht unsere ganz persönlichen sein müssen, sondern die Schmerzen der gesamten Menschheit und Kreatur einschließen … – in einen völlig neuen Horizont rückt.
„In welcher Lage sind wir? Was wird von diesem Augenblick bleiben, … was würde der nächste Augenblick bringen, wenn er je käme?“
Jesus antwortet darauf: „Nach der Geburt sehen wir uns wieder.“ ——
Dieses unvorstellbare Versprechen eines Wiedersehens nach der Geburt im Angesicht der Not und Trübsal des gegenwärtigen großen Abschieds ist ein einzigartiges Geschenk Jesu, des menschgewordenen Gotteswortes in der Schöpfung wie in der Kreuzigung, … in der Natur wie in der Passion: Das Geschenk, dass Leiden sich in Leben verwandelt!
Es lag immer schon am Ziel jeder Schwangerschaft, auch wenn es nicht immer erreicht wurde.
Nun aber, durch den Tod und die Auferweckung Jesu Christi ist es zum Ziel aller Erfahrungen, zum Ziel sämtlicher Traurigkeiten und Schmerzen, zum Ziel jedes Lebens gemacht worden: „Wir sehen uns wieder nach der Geburt!“
Denn es ist seit der Menschwerdung Gottes, die in Seiner eigenen Leidensgeschichte zur Neugeburt der Menschheit führen sollte, alles, was Zeit und Leid und auf jeder andere Weise Geschichte ist, als Geburtsvorgang offenbar geworden.
Der Apostel Paulus sagt darum ganz ausdrücklich von den Leiden dieser Zeit, dass die ganze Schöpfung bis zu dem kommenden Augenblick seufzt und in den Wehen liegt (vgl.Rö.8,19+22).
Die Wirklichkeit, die wir erfahren, die Zeit, die uns bleibt, das Elend, dem wir so viele und so vieles ausgeliefert sehen, ist also - wenn wir uns an Jesu Antworten halten - kein Grund zur Verzweiflung, sondern zum Durchhalten: Die Welt, die Menschheit drängt in allen diesen Nöten einem österlichen Geburtsmoment entgegen, von dem Jesus noch vor seiner Passion so einfach und zum Jubeln schön gesagt hat:
„Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“
Es ist das Werden, es ist das Auferstehen, es ist das neue Leben, das die Dinge jetzt so eng und drangvoll macht.
Wie bei jeder Geburt wissen wir nicht, wie lange, wie dramatisch, wie gefährlich es noch werden mag. Aber bei dieser Geburt der neuen Kreatur ist das eine Versprechen, das Versprechen Christi gewiss: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und Eure Freude soll niemand von euch nehmen.“
– Und darum: „Jubilate!“
Amen.
[i] Der bedeutende Liedermacher aus dem Worship-Bereich, Graham Kendrick, hat den Begriff programmatisch geprägt (vgl.: https://www.google.com/search?q=the+unsung+jesus&rlz=1C1GCEA_enDE866DE866&oq=the+unsung+jesus&aqs=chrome..69i57j69i60.5190j0j15&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:f6e350a2,vid:hksKWyQ-Jhg), aber er begegnet ebenso bei John Bell, der inspirierende zeitgenössische liturgische und Liedkompositionen schafft (vgl. dazu: https://network.crcna.org/topic/worship/general-worship/unsung-jesus).
Miserikordias Domini, 23.04.2023, 1. Petrus 5, 1 - 4, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserkordias Domini - 23.IV.2023
1.Petrus 5, 1 - 4
Liebe Gemeinde!
Eigentlich bin ich hin- und hergerissen von solchen Abschnitten der neutestamentlichen Episteln, in denen Fragen der Gemeindeordnung und Ämterstruktur, in denen Fragen der Verfassung und Leitung der Kirche in apostolischer und nachapostolischer Zeit behandelt werden. …
Sind derartige Erörterungen der eigenen Gestalt nicht bloß Beispiele für das, was uns kollektiv verdirbt: Die dauerhafte Selbstbeschäftigung? Überall - vom Einzelnen bis zu den großen staatlichen Gemeinschaften - scheint der wichtigste Gegenstand ja immer nur im Hervorheben der eigenen Bedürfnisse und eigenen Bedeutung und im Verbreiten des eigenen Bildes zu bestehen! Außer „mir“ - allenfalls „uns“ - gibt es nichts entfernt vergleichbar Wichtiges.
Ob Minderheit oder Weltmacht: Immer fixiert man sich auf … sich.
Wenn dann auch noch die Kirche Nabelschau betreibt, wenn sie meditiert und theologisiert, was sie selber darstellt, … ist dann nicht ihre ekelerregende Überflüssigkeit bewiesen: Ein System, das um sich selber kreist; ein Konstrukt, dem es um Selbsterhalt geht; eine geschlossene Gesellschaft, die sich selbst in Verliebtheit und Verteidigung mehr als genügt? …….
Dass diese perverse Gestalt der Autonomie – „Mein Daseinsgrund und mein Gesetz bin ich allein“ – auch in kirchlicher Fassung existiert, skandalöse Schlagzeilen macht und eine anti-kirchliche Reaktion hervorgerufen hat, die die katholische wie evangelische Landschaft in eine gigantische Gletscherschmelze verwandelt, lässt sich nicht leugnen.
… Doch gerade die schonungslose Infragestellung des Daseins der Kirche zwingt sie nun einmal, nach sich selber zu fragen: Wenn die Austrittswelle, … wenn die weitgehend schmerzlose Auflösung der Verbundenheit mit dem Glauben und der Verwurzelung in ihm, … wenn die vielen, zu Recht zornigen Brüche mit einer unbelehrbar missbräuchlich scheinenden katholischen Hierarchie, … wenn die beflissene Anpassung der evangelischen Kirche an den a-religiösen, zeitgeistigen Mainstream, den sie wie hypnotisiert fördert und der sie jetzt schon davonspült, … wenn sich diese Entwicklungen weiterhin fortsetzen sollten, dann wird es in allzu naher Zukunft nichts mehr geben, wonach man fragen müsste, wenn man von der „Kirche“ hört.
… Diese „Zeitenwende“ aber, dieser Wandel in Klima- und Kulturgeschichte der Menschheit, wäre ein Abbruch, den man sich nicht vorstellen mag. Und darum ist es – bei allem Vorbehalt gegen die Selbstbespiegelung, bei allem Befremden, das Fragen nach dem Amtsverständnis und der Funktion kirchlicher Autorität bei uns auslösen – nötig und heilsam, dass der heutige Hirtensonntag uns diese Gegenstände nicht erspart!
Solange es eine Kirche geben wird und soll, solange wird man in ihr nicht nur auf spontane Erleuchtungen, charismatische Verkündigung und unmittelbare innere Bewegungen zu achten haben, sondern auch auf den gegebenen und bleibenden Dienst, durch den die Gegenwart des Auferweckten und die Gaben des Geistes äußerlich gefasst und gesammelt werden, um nicht einfach zu verwehen und sich zu verlieren.
Fassung und Sammlung sind also die Funktion, die die Kirche erfüllen muss: Zusammenhalt und Verbindung.
Dass das die Aufgabe des Kelches ist und nicht sein Inhalt, … dass es die Rolle des Rahmens oder der Bühne samt Vorhang ist und nicht das Bild oder das Stück selber, … das ist deutlich.
Die Kirche ist nicht das Licht, sondern sein Docht; sie ist nicht das Feuer, sondern der Kamin; sie ist nicht die Helligkeit, sondern die Öffnung in der Wand, durch das diese dringt.
Docht und Herd und Fenster an sich sind sinnlos, wenn nicht an ihnen, in ihnen und durch sie ein Anderes seine Wirkung entfaltet. … Und doch sind sie unverzichtbar, wenn es nicht dunkel und kalt und der Mensch kein Geschöpf der Finsternis sein soll.
Nun hat Jesus uns allerdings gewarnt (Joh.9,4): „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“
Darum sage ich wieder, was ich letzte Woche schon sagte und vielleicht vor allem anderen immer weiter sagen werde, so lange wir noch die Kirche haben: „Eine Welt und ein Leben, die nicht durch den Glauben an Jesus Christus erleuchtet wären, … eine Gesellschaft, einen Alltag, in denen Seine Liebe nicht gegenwärtig und Sein Reich nicht unsere Hoffnung wäre, … das kann und das will ich mir nicht vorstellen! Es wäre zum Fürchten. Es wäre die Hölle.“
Ich sage das nicht aus Schwarzseherei.
… Im Gegenteil. … Wegen der Hellsichtigkeit, wegen des Glanzes, die da strömen, wo Jesus Christus unter uns wahr- und ernstgenommen und angebetet wird und durch unsern Dienst auch Andere das rettende, verwandelnde und lebenspendende Licht erfahren können, das in Ihm strahlt.
Dieses Auffangen und Weiterleiten des Lichtes, dieses Fassen und Sammeln, Zusammenhalten und Verbinden ist das Wesen der Kirche. Es sind Funktionen des Hütens, des Behütens und Beschirmens: Von Strahlen, die verbunden stärker wirken als zerstreut, … von Lebewesen, die gemeinsam sicherer sind als versprengt, … von Menschen, die gesammelt mehr teilen können als in ihrer Vereinzelung.
Die Kirche sammelt und hütet das Licht und die Lebenden. Darin hat sie ihr Amt, darin gründen ihre Ämter. ——
Hatten wir zunächst also den Verdacht, dass Selbstreflektion oder Meditation der Ämter der christlichen Gemeinschaft reine Selbstbespiegelung darstellt, müssen wir hier nun das Gegenteil erkennen: Wenn der Zweck der Glaubensgemeinschaft, die Jesus gegründet hat, ist, das Licht zu anderen zu lenken, dann dient alle sachgemäße Reflektion, alles sinnvolle Spiegeln in der Kirche nur diesem Weiterleiten, dieser Lichtführung zu denen, die sich in den eigenen Schatten vergraben oder die die Dunkelheit von Schuld und Unrecht blind gemacht hat.
Wo sie nicht so leitet, verliert die Kirche ihren Auftrag.
Wo sie in sich verharrt und um sich selber kreist, ist sie ein Mond geworden, den keine Sonne mehr erleuchten wird, weil er sich aus der vorgegebenen Bahn um den großen anderen Körper - die Erde, die Menschheit - herum gelöst hat und also nicht mehr zum Abglanz des wahren Lichtes für alle dienen kann.
Leiterin und Lenkerin für das Licht von Gott und die Lichtsuchenden der Erde muss sie sein. … Darüber hinaus, rein an sich ist sie nichts. Bedeutungslos. Überflüssig. Man soll die Kirche vergessen und verlassen, wenn sie nicht mehr Menschen zu Gott versammelt und umgekehrt das, was von Gott kommt, nicht mehr zu den Menschen fließen lässt. ——
Wenn jemand also ein Amt in der Kirche hat, wenn Du in ihr Kräfte, Zeit und Gaben einsetzt, dann gibt es eine ganz schlichte Theologie der mit den Aposteln begonnenen Dienstordnung: Wer sich dabei dient, dient nicht! Was an unserm Tun aber anderen gilt, das gilt!
Das klingt natürlich doppelt ungewohnt in unseren Ohren: Man soll das finden, was einem selber guttut, heißt es all-, überall. Und deshalb darf’s nicht darum gehen, den Maßstab seiner Zufriedenheit bei anderen zu suchen, sondern ganz allein und ausschließlich bei sich.
Darum muss aber die in der Kirche gültige Verdrehung unserer geläufigen Vorstellungen von Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung auch als ebenso klare Warnung verstanden werden, wie sie eine schlichte Theologie begründet. Die Warnung lautet: Wer bei sich selbst anfangen will, wird mit der Kirche nichts wirklich anfangen können. Wer sich selbst sucht, kann sich hier nicht finden.
… Er möge drum nicht traurig sein. Die womöglich spannende Reise in eine Welt, die sich ganz um dich als ihren Mittelpunkt herum kristallisiert, bieten viele an. Die womöglich ziellose Fahrt in das verheißene Land, das Du selber bist, wird heute fast an jeder Straßenecke beworben. Dagegen aber ist die fraglich gewordene und in Frage gestellte Kirche ein Zeichen des Widerspruchs.
Und so sind es die Aufgaben und Rollen in ihr, ihre Funktionen und Ämter auch.
Es geht in ihnen tatsächlich um eine selbstlose, uneigennützige Blickverlagerung. Man nennt solches Sehen nach anderen Menschen, solches Achten auf ihre Lage, ihre Wege und ihre Sicherheit in der Kirche schon immer ein „Hinschauen“, ein „Nachgucken“, ob die anderen genug Licht haben, ob sie Segen erfahren, ob ihr Tisch gedeckt ist und ihr Becher voll eingeschenkt, ob ihnen Gutes und Barmherzigkeit begegnen und sie das Zu-hause kennen, in dem sie bleiben dürfen[i], … ob also die Gnade Gottes sie erfüllt.
… Nachgucken, Hinschauen: Auf Griechisch heißt das „episkopein“[ii]. Tatsächlich steckt der „Episkopat“ darin … das Bischofsamt. Aber in diesem Wort für das Achtgeben, das Petrus in seiner Ämterlehre neben dem uns vertrauteren Begriff der „Presbyter“ benutzt – der Ehrenname der „Ältesten“, die Lebenserfahrung und Herzensweisheit haben –, … in diesem Titel für die, die Rücksicht und Klugheit für Viele üben, hört das griechische Ohr ein ganz besonderes Wortfeld: „Skopein“ heißt nämlich „Sorgen“ in allen seinen Facetten: Für-Sorge und Ver-Sorgen, Vor-Sorgen und Nach-Sorgen, Sorgfalt, Sorgpflicht und Sorgsamkeit - das Können, Sollen und Mögen der Sorgenden - schwingen alle darin mit.
… Und wir heute haben dafür ein Wort, in dem die ganze Sehnsucht und Misere unserer Gesellschaft, die sich vor Erfolgssucht und Selbstsucht - was austauschbare Worte sind - nicht ausreichend umeinander kümmern mag: Wir nennen das, was Kern, Sinn und Spitze aller kirchlichen Ämter ausmacht: „Pflege“, … neuerdings auch weltsprachlich: „care“.
Alle, die Menschen pflegen – kleine Menschen und junge Menschen, Menschen mit Leiden oder Gebrechen, Menschen, denen Kräfte oder Freiheit geschwunden sind, Menschen, die abhängig leben müssen und Menschen, die schließlich sämtlich einmal sterben – … alle also, die sich um Menschen sorgen und auf sie achten, die ihnen beistehen, die sie stützen, … alle, die die Körper und die Seelen anderer Menschen ernstnehmen und auch auf schweren und trüben Wegen behüten und begleiten, stehen im Hüteamt, im Hirtenamt, im Sorgeamt … im Wächter- und im Achtungsamt der Kirche, … im „Episkopat“, dem Bischofsamt!
Das ist keine evangelische Schnodderigkeit, die die Ämterlehre des Neuen Testaments antiautoritär und mit der Floskel vom allgemeinen Priestertum einfach für unverbindlich erklärt.
Im Gegenteil: Es ist ganz und gar verbindlich - biblisch und altkirchlich und weltkirchlich verbindlich -, dass die Glieder der Kirche sich niemanden so anvertrauen und unterordnen wie denen, die jenes Hirtenamt teilen, tragen und leben, das im Zeugnis der Leiden Christi seinen Grund und seine Begründung hat.
Christus ist der Nackte und Hungrige geworden, der nach uns bettelt.
Christus ist der Verlassene und Verfolgte geworden, der uns braucht.
Christus ist der Verletzte und Verwundete, dessen Qual wir lindern müssen.
Er ist der Kranke und der Sterbende, in dessen geduldiger und treuer Pflege wir Gott den Dienst aller Dienste erweisen.
Christus ist das arme Kind und Er ist der lästige Mensch, Er ist der Verlierer dieser Weltordnung und das Opfer der sogenannten Zivilisation geworden.
Darum ermahnt uns der erste Jünger als der Zeuge der Leiden Christi, dass alle, die genug echte Menschen- und Lebenserfahrung haben, um „Presbyter“ genannt zu werden, die Gemeinde als Vorbilder weiden sollen … wobei „Vorbild“ schlicht bedeutet: Wie einen Entwurf, wie eine Einübung, wie ein kleines Modell des zum Leiden bereiten Jesus Christus. Aus freiem Willen also und von Herzensgrund. … Im Bewusstsein, dass die, die hilflos sind und bei denen Hilfe vielleicht sogar sinnlos erscheinen mag, genau die sind, in deren Schar sich der leidende Christus eingereiht hat.
Wer Gott in Christus dienen will, der kann es nur in denen tun, denen sonst nicht gedient wird.
Im ganz Kleinen. Und mit ganzem Ernst. ——
Dann aber ist es schon wieder ganz richtig und in Ordnung, dass die Kirche von unserer Welt in Frage gestellt wird.
Wenn die höchsten Ämter und die höchste Autorität in der Kirche, wenn ihr Bischofs-, also ihr Sorge-Auftrag nicht nur im Dienst der Seelsorge, nicht nur im Ausrichten des Evangeliums und dem erbauenden, tröstenden, heilenden Einsatz der Sakramente bestehen, sondern genauso im buchstäblich christustypisch Wirken von Kindergärtnerinnen und Krankenpflegern, von Obdachlosenfürsorgern und Streiterinnen für Menschenrechte, von Entwicklungshilfe und Palliativmedizin, … dann ist es wirklich nur naheliegend, dass diese Kirche befremdet.
Eine Welt, in der die Selbstsorge mehr wiegt als die Fürsorge, … eine Welt, die sich mehr für das Beenden schwierigen Lebens einsetzt als dafür, es mit jenen zu teilen und auszuhalten, die es erleiden, … eine Welt, die sich nicht kümmert um die Kümmerer, … die die verachtet, die auf andere achten, … die Geduld und Hingabe an der Seite von Menschen zur billigen Nebensache verkommen lässt, ... eine Welt, die den Wert der helfenden Hände geringschätzt und viel mehr die bewundert, die gut festhalten, was sie in Händen haben, … eine solche Welt wie unsere muss anti-kirchlich sein.
Der Christus-Typus, der in allen Ämtern der Kirche Maßstab und Auftrag ist, ist ja das Gegenbild der großen Selbstbehauptung, die diese Welt formt und feiert! ——
Dass wir in der Kirche am Christus-Typus, an der Sorge für andere Menschen in schrecklicher Weise auch scheitern und schuldig werden, ist unbestritten. …
Aber es ist dennoch das hellste Licht und die herrlichste Krone, die es für das menschliche Geschlecht geben kann, dass es in seiner Mitte immer schon und immer noch und immer weiter solche gibt, die in Menschlichkeit und Christusnachfolge sammeln, verbinden und zusammenhalten, was anderen not- und guttut!
… Warum sie das tun?
Weil sie sich selbst nicht suchen müssen. Weil sie wissen, dass sie gar nicht verloren gehen können. Weil sie ja unter der Hut des großen Erzhirten stehen, der zwar hilflos wie die Hilflosesten wurde und mit allen Leidenden alles litt und leidet, … und Der doch gerade dadurch zum Gründer der Gemeinschaft wurde, die allen hilft um Seinetwillen … und die vollendet sein wird, wenn allen geholfen ist.
Dann erscheint Er in Herrlichkeit.
Der, Der Seine Kirche für Andere sorgen lässt, weil Er für sie gesorgt hat, … Er, der gute Hirte, der mit dem Vater eins ist (vgl. Joh10,11+30).
Amen.
[i] Am „Sonntag des Guten Hirten“ (Miserikordias Domini) ist Psalm 23 ein wirkliches Leitmotiv der Liturgie, wie er es rezeptionsästhetisch ja auch im innerbiblischen Gebrauch des Bildes schon ist, das immer wiederkehrt und variiert wird … nicht zuletzt in Jesu Hirtenrede in Johannes 10, dem Evangelium dieses Sonntags.
[ii] Über die Verwendung und ämtertheologische Festigung des Lexems ἐπι-σκοπεῖν wäre eine interessante Untersuchung anzustellen. Mindestens so ergiebig wären Überlegungen zum Begriff des τυπός (Typos= „Vorbild“), der eine so wichtige hermeneutische Kategorie in der biblischen Literatur darstellt. Beide Vokabeln lassen ahnen, wie viel mehr in der Ämter-Theologie zur Debatte steht als reine organisatorische oder Verwaltungsfragen der Kirche. Ihre Ämter sind – eschatologisch begrenzte – Erscheinungen ihrer Mission und Dessen, Der sie sendet und durch sie wirkt.
Ostersonntag, 09.04.2023, Stadtkirche, 1. Korinther 15, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 9.IV.2023
1.Korinther 15, 1- 11
Liebe Gemeinde!
Wenn nicht das Weinen irgendwann heute Nacht sinnlos geworden wäre, würde ich jetzt statt Ostereiern - die mir sowieso noch nie jemand richtig erklären konnte! - schön schwere, leicht birnenförmige, oben frühlingshaft sprießende und vor allem saftige Osterzwiebeln verteilen.
Denn wenn es nicht solch ein Unfug wäre, uns alle an einem österlichen Morgen gleich in Tränen aufgelöst und schniefend zu erleben, dann würde es sich heut wirklich dringend nahelegen, eine solche Zwiebel einmal Schicht um Schicht zu entmanteln.
… Auch auf die Gefahr hin, dass mancher die Nase rümpft über diesen derben Geruch, der einer offenen Garküche für Tagediebe und Seeleute in der Nähe des korinthischen Hafenvorortes Kenchreä (vgl.Apg.18,18) zu entstammen scheint, wo Paulus bei der Diakonisse Phoebe ein- und ausging (vgl.Rö.16,1): Phoebe von Kenchreä, die da die Vielen bemuttert haben wird, die von den Christen hörten, dass man bei ihnen in den Gottesdiensten tägliches Brot und Brot vom Himmel und Wein der Freude kostenlos bekommt.
Zwiebelschälen wie bei Phoebe also, die die Armen speist und ihre Gaben mit Gebeten und dem Evangelium würzt. Paulus wird es vielleicht gesehen haben, wenn die Diakonisse Phoebe von der Mitternachtsmission für die Hafenhuren und die entlaufenen Sklaven und die andern vaterlandslosen Gesellen und zwielichtigen Gestalten ihre Eintöpfe machte, und vielleicht hat er selbst kräftig zugelangt in ihrer Kirchenkaschemme in Kenchreä, ehe er wieder ins eigentliche Korinth hochlief, wo die Betuchten und Duftenden unter den Christus-Neugierigen der Metropole den komischen Apostel erwarteten, der für ihren Geschmack vielleicht ein bisschen zu sehr nach orientalischem Zwiebelatem roch.
Jedenfalls hat Paulus mit den Korinthern heute eine Zwiebel zu schälen, … die ja eine ganz besondere Gemeinde sind, … so „vielschichtig“.
Aber was ist nun des Paulus Problem? - Zwei Dinge.
Das Erste wie bei uns: Wo wir doch auch so vielschichtig sind. Wir sind ja nicht einfach nur eine Schale und ein Kern, sondern jeder von uns besteht aus ganz unterschiedlichen Rinden und Sphären und Hüllen. Wir legen uns Rollen zu und Meinungen umgeben unser Inneres; um uns wachsen im Laufe des Lebens Lagen und Ringe der Erfahrung - manche hauchzart, manche wie Leder -, die uns schützen und die wir bestimmt nicht vor jedermann entblättern. Unsere eigenen Erkenntnisse und Vorurteile, unsere Zweifel ummanteln den Seelenkern immer dichter, und wir lassen uns da nur unter größtem Widerstand schälen.
… Das ist bei beinah allen Menschen so. … Und also zunächst nicht weiter schlimm.
… Wenn nicht das Zweite dazu kommt, das für Paulus bei seinen Korinthern das größere Problem war: Der Hochmut derer nämlich, die meinen, das, was sie sich da an Polstern oder Schutzhäuten oder sonstigen undurchdringlichen Schichten auf ihrem Gemüt, ihrem Geist, ihrem Verstandesorgan – sei’s Hirn, sei’s Herz - haben wachsen lassen, das versetze sie in den Stand der Sicherheit, der Gewissheit, der unanfechtbaren Erkenntnis.
… Natürlich nichts gegen die Klugen! Nichts gegen die Weisen (vgl. allerdings 1.Kor.1,18ff)! Nichts gegen die, die ihre gutsitzenden, festgewachsenen Haltungen und Überzeugungen haben!
… Aber wenn es Ostern auf dieser Erde werden konnte, … wenn die festesten Ringe des Saturn und der Hölle sich lösen ließen, wenn die undurchdringliche Schicht, die das hauchfeine Sterblichsein vom großen Totsein da drunter trennte, … wenn das Grab aufplatzen und einen ganz eingewickelten, festverschnürten Leichnam wieder loslassen konnte, dann könnte doch auch bei uns - an sich lebendigen - Menschen sich in den erstarrten und verkrusteten Umschließungen unserer Menschlichkeit etwas häuten, etwas lösen?!
Da war Paulus allerdings bei den Korinthern an die falschen Adressaten geraten.
Sie waren nicht gewillt, sich ihre schönen engen Denkmuster und Verständniskategorien, die sich den eigenen Lebensgewohnheiten ja auch so organisch anschmiegten, aufbrechen zu lassen. Von diesen zähen Vorurteilen aber hatten sie im Blick auf das Evangelium des Paulus ebenfalls zwei, die ihnen besonders im Weg standen. Das eine war die gebildete Voraussetzung des gesamten späteren Griechentums: „Hauptsache der Geist! … Der Rest ist Beiwerk.“
Und die andere Überzeugung, die bei den Korinthern - diesen temperamentvollen, polyglotten Großstädtern - saß wie eine zweite Epidermis: Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt.
Aus beiden Grundsätzen folgte für die Korinther aber ungefähr genau das, was auch bei uns die festeste Schicht um unser Weltbild ist: Sterben ist leiblich. Und wir haben noch nie einen gesehen, der von den Toten auferstand.
…. „Dr. Hegel, übernehmen Sie!“
„… Na schön.
- These: Tod betrifft erkennbar den Körper.
- Antithese: Es ist nicht bekannt, dass es dazu eine uns glaubwürdig scheinende Ausnahme gäbe.
- Synthese: Aber unser Geist, der kann doch was! Also ist Auferstehung eine Sache in unserm Kopf, … und dann können wir ja wohl sagen: Bei uns läuft’s!“
Das war die korinthische Sondertheologie: …Ob unten am Hafen, in der Suppenküche bei Phoebe, wo die knurrenden Mägen und der schmatzende Lebenshunger der Armen hinströmten, das ist nicht so sicher, … aber oben in der Stadt, bei denen, die besonders gern den ätherisch-ästhetischen Apostel Apollos hörten, der - huch! - so gebildet sprach, weil er ja aus Alexandrien stammte - der Sorbonne + Silicon Valley der Antike (vgl. Apg.18,24;19,1; 1.Kor.1,12;3,5;4,6) -, da steht es fest: „Auferstehung ist geistig und so vollzieht sie sich mental an uns schon jetzt!“ (©Apollon) …..
Das ist ein Stöckchen, über das so ein Apostel erst einmal springen muss.
…Nun war Paulus viel zu klug – auch wenn er nicht aus der alexandrinisch-hellenistischen Kaderschmiede stammte, sondern ganz traditionell in Jerusalem studiert hatte –, um in dieser Sache Plattitüden zu verbreiten.
Das ganze, völlig unerschöpfliche 15.Kapitel des 1.Korintherbriefes – und einen längeren Diskurs hat Paulus nur der Frage nach der Hoffnung des christuskritischen Teils von Israel gewidmet (vgl. Rö.9-11)! – entfaltet seine feinsinnige und unzweifelhafte und gerade deshalb viele unserer Fragen offenlassende Gewissheit, dass die Auferweckung aus dem Tod die Mitte und die Substanz und die Dynamik und das unbegrenzbare Potential des Evangeliums ist!
Einen Nachweis der Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit des Auferweckungsglaubens führt er darin aber genauso wenig wie er sich etwa in Erklärungen versucht, wie das Unbegreifliche begriffen werden könne.
Auferweckung ist DIE Wundertat Gottes schlechthin, und weder der, der sie verstanden haben will, noch jener, der sie sich als innere Erfahrung zuschreibt, wird Gott jemals dadurch gerecht, dass er beansprucht, dieses unvergleichliche Tun Gottes überprüft, für physikalisch und /oder intellektuell solide befunden zu haben und es darum auch persönlich bei sich zulassen zu können.
Wie Paulus stattdessen ansetzt, hat mit den Schalen und den Schälungen zu tun.
Man könnte es auch die Methode nennen: „Wie wäre es, wenn wir einmal nicht dem Geheimnis der Gnade Gottes auf den Grund gehen wollten, sondern fragen, was wohl in uns der Punkt ist, der nicht weiter entfaltet werden kann, … der Punkt, an dem es gut ist?!“ —
Den Weg zu diesem Punkt, an dem alles bei uns ansetzt und mit dem dann alles einst eben auch seine Bewandtnis haben wird, geht Paulus zwiefach am Beginn des großen Auferstehungskapitels. … Schicht für Schicht.
Und wir gehen beide Durchgänge jetzt auch kurz nach, … in umgekehrter Reihenfolge.
…Paulus scheut sich nämlich nicht, auch die eigene Entblätterung vorzuführen (vgl.1.Kor.15, 8-10).
Das dürfte die Korinther besonders interessiert haben, denn von diesem Apostel gab es ja zahlreiche, pikante, provozierende Gerüchte. Ihn „vielschichtig“ zu nennen, wäre geradezu untertrieben: So viel wussten die Korinther, die das allerdings faszinierend gefunden haben dürften, weil es ihrem eigenen Selbstbild des Extraordinären immerhin schmeichelte.
Und so deckt Paulus also auf:
- Ja, ich, der weltreisende Pionier des Evangeliums bin ein Nachzügler.
- Ja, ich, der globale Apostel verdiene diesen Titel - den Titel eines Amtes, in das Jesus die Zwölfe berief, zu denen ich nicht zählte - streng genommen gar nicht.
- Ja, ich, der unermüdliche Gemeindegründer habe als ein Gemeindezerstörer angefangen, … es ist alles wahr!
- Ja, ich, der erfinderische, zähe, volldampf-fahrende Einzelgänger, der gegen unermessliche Widerstände die Mission unter den Heiden ganz allein betrieben hat, bin innerlich eigentlich so hilflos und unfähig wie ein lebensunfähiger Embryo.
… Aber egal, welche Seite aller dieser Widersprüche, egal welche Schicht meiner Leistung und meiner Selbstkorrekturen ihr da abzieht, egal, was auch immer man an meinen vielen unregelmäßigen Entscheidungen und meinen eingefleischten Eigenarten noch runterpellt, bis ich ganz blank bin: Glaubt mir, wenn ihr bis auf die innerste Zelle gestoßen seid … ihr findet dort keinen stringenten Leitfaden, kein selbstverständlich nachzuvollziehendes Muster, … ihr findet da schlicht … Gnade! … Nicht mich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist, kann man da in der Mitte aufdecken. … Durch diese Gnade Gottes bin ich, was ich bin! ——
Und wenn ihr nun neben dem Boten auch die Botschaft einmal bis in ihr Inneres freizulegen versucht (vgl. 1.Kor.15, 5-7), dann werdet ihr Schale um Schale, Lage um Lage ebenfalls wieder durchdringen, tiefer, tiefer durch die akkumulierten Zeugen, die Überzeugten und ihre lebendigen Überzeugungen:
- Die Erfahrung aller Apostel umschließt das Evangelium wie eine durchsichtige Membran - auch die lebendige Ostererfahrung des dem Paulus so reichlich unsympathischen Jakobus –
- dann die kräftige Schicht der Begegnung von fünfhundert Gläubigen auf einmal in der Urgemeinde von Jerusalem mit dem Auferweckten;
- darunter die einzelnen Gewebelagen, durch die die galiläische Jüngerschar nach dem Riss des Todes aller wieder mit ihrem lebendigen Meister zusammenwachsen durften;
- und schließlich die empfindliche, wie aus reinster Seide gewobene Haut, die auf der rohen Wunde des Kephas - des Petrus, der ihn verleugnet hatte - mit der Auferweckung der Herrn auch seine Heilung wurde;
- … zuletzt aber treffen wir im Allerinnersten - wie wir wissen und eben hörten (vgl. Lk.24, 1-12), auch wenn Paulus es offenbar nicht zu berühren wagt - auf die allerfeinste Schicht: Die Keimzelle des unaussprechlichen Osterglücks der Frauen, die als Erste erfuhren, dass der Lebendige nicht bei den Toten gesucht werden kann, weil er auferstanden ist (vgl.Lk.24,5f). ———
Das ist die Zwiebel, die wir heute alle schälen können, Lage um Lage, Schicht um Schicht.
Obwohl das Weinen irgendwann in dieser Nacht überflüssig geworden ist, können einem dabei die Augen wahrhaftig tränen! … Und übergehen, wenn wir so bis in das Herz des Ganzen vorgedrungen sind.
Was aber finden wir dann dort? … Nun, nicht die Erklärung, die den Korinthern den für sie - wie für uns ja auch so oft! - unvorstellbaren Vorgang der Auferweckung Jesu von den Toten nach ihren Voraussetzungen plausibel machte.
… Das Wie eines Wunders - wenn es denn mehr als ein geistiger Vorgang sein sollte -, ist ja aber auch tatsächlich niemals des Pudels Kern. Die bloße Näherbestimmung - „Wie?“ - würde den Glauben ihrerseits auch überhaupt nicht tragen. Sie würde nur das Wissen bedienen, das dann doch sagt: „Aber für uns Korinther ist es ein intellektueller Vorgang, ein Symbol, eine philosophische Kategorie, die unser Weltbild erweitert … mögen die Hafenchristen, die Plebs der Phoebe in Kenchreä es auch noch so primitiv-naiv materialistisch auffassen.“
Nicht das erklärte „Wie“ liegt also im Herzen der Osterbotschaft.
Sondern das, was auch im Zentrum der ganz persönlichen Betrachtung des Paulus über den Paulus sich fand – und sich bei jedem andern Menschen ebenfalls finden würde, wenn er sich ehrlich, nüchtern und unvoreingenommen auf Herz und Nieren prüft. Trotz aller meiner Bemühungen und Leistungen und auch trotz meiner Riesenirrtümer und Verkehrtheit, muss ich doch bekennen: Nicht ich habe mich aufgeweckt. Nicht ich habe geschafft, dass ich lebe und wieder leben und immer noch leben darf. Gottes Gnade ist es, die das für mich getan hat!
Und das ist auch der innerste Lebenskern und das trostreiche Herz der Osterbotschaft: Gott hat das getan … für mich und für Dich! Dass wir leben und weiterleben dürfen und dass wir leben werden!
CHRISTUS IST FÜR UNSRE SÜNDEN GESTORBEN, BEGRABEN UND AUFERWECKT WORDEN NACH DER SCHRIFT.
In diesem einen Satz ist die Gnade aller Zeiten:
Es war - nach der Schrift - VON ANFANG AN G N A D E .
Es ist es IN DER GEGENWÄRTIGEN, GESCHICHTLICHEN ZEIT der Welt geschehen aus reiner G N A D E .
Und es ist für unsere Sünden geschehen – damit wir also IN ZUKUNFT UND AUCH IN EWIGKEIT durch diese G N A D E leben dürfen.
Das ist die Mitte.
So predigen wir. So habt ihr geglaubt.
Das ist das Zentrum.
Dadurch werden wir selig, wenn wir’s so festhalten wie es uns verkündigt ist, … es sei denn, dass wir’s umsonst geglaubt hätten.
Wenn wir nach der Erklärung des Wunders aller Wunder fragen, wenn wir der Gnade also partout auf den Grund kommen wollen, dann stoßen wir an diesem Grund auf … das Wunder Gnade!
Wo alle Schichten weg sind, … alle engeren und weiteren Begleitumstände abgeschält, da ist sie das reine Innenleben unseres Glaubens.
Und ganz genauso … nein, wohl noch viel mehr auch seine Kraft im Sterben und über den Tod hinaus.
Heute vor 78 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer für diesen Glauben hingerichtet.
Für ihn war das der Anfang des Lebens[i].
Er hat noch viel knapper und verdichteter als wir bisher in einem Predigtentwurf zu 1.Korinther 15 das alles, was das Tiefste und Entscheidende ist, im beinah atemlosen Telegrammstil so festgehalten:
„Christus der Auferstandene allein der Beweis, weil in ihm Gott an uns handelt, weil alles an Christus für uns ist und für uns geschieht. Seine Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, Auferstehung – für uns! Ist Christus mit Leib und Seele auferstanden, so hat Gott das für uns getan, Tod für uns zerbrochen, unser Leib und Seele der Auferstehung teilhaftig. Lebt Christus, so leben die Toten. Denn Christus für uns lebendig und tot. Auferstehung Christi kein Problem.“[ii]
Amen.
[i] Vgl. zu Bonhoeffers letzten überlieferten Worten „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer – Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 1967, S. 1037.
[ii] Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, hgg.v. O.Dudzus, J.Henkys u.a., (DBW Bd. XIV, Gütersloh, 1996 – S.356): stenographische Mitschrift eines Predigtentwurfs nach vorangehender Besprechung zu 1.Korinther 15,12-19 im 1.Kurs in Zingst und Finkenwalde von April bis Oktober 1935.
Karfreitag, 07.04.2023, 2.Kor.5,17-20, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Karfreitag – Ostern: diese Feiertage sind auf unserem Kalender deutlich hintereinander gesetzt. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass jeder Tag für sich betrachtet und bedacht wird. Karfreitag – da geht es eben traurig zu, keine Blumen auf dem Altar, sogar die Glocken schweigen. Wie könnte es auch anders sein, erinnern wir uns doch an den Kreuzestod Jesu. Ostern – da feiern wir das Leben, singen fröhliche Lieder; denn der Tod hatte Jesus nicht halten können.
Aber eigentlich ist diese Aufreihung der Feiertag nur eine Notlösung. Geboren aus dem Drang, die Schrift erfüllt zu sehen. Im Tiefsten geht es immer um ein Fest. Karfreitag, das leuchtet sofort ein, gibt ohne Ostern überhaupt keinen Anlass, etwas zu feiern. Aber Ostern ohne die Erinnerung an Leid und Tod wäre nur ein beliebiges Frühlingsfest. Karfreitag und Ostern – sie gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. In den Erzählungen der Evangelien können wir davon einiges finden, wenn es bei Matthäus heißt, dass sich im Augenblick des Todes Jesu die Gräber vieler Heiliger öffneten und der Vorhang im Tempel mitten entzweiriss. Osterzeichen am Karfreitag. Und umgekehrt auch: bei Johannes spielen die Wundmale eine ganz wichtige Rolle bei der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern. Karfreitagszeichen am Ostertag.
Karfreitag und Ostern, der Aufstand des Lebens gegen den Tod, neues Leben im Angesicht des Todes. Weil beides untrennbar zusammengehört, hat es Sinn, den Karfreitag, nein, nicht zu feiern, aber ihn auszuhalten und sich mit dem, was da in der Bibel erzählt wird, auseinanderzusetzen. Was also ist an jenem Freitag vor fast 2000 Jahren geschehen?
Da fanden vor den Toren Jerusalems auf einem dafür schon berüchtigten Platz – der Schädelstätte / Golgatha – drei Hinrichtungen statt. Zwei der Verurteilten waren wohl bewaffnete Widerstandskämpfer, die die römische Besatzungsmacht mit Terroranschlägen herausgefordert hatten. Konnte man bei diesen beiden noch die Hinrichtung als berechtigte Strafe betrachten, so sah das bei dem dritten Delinquenten ganz anders aus. Jesus von Nazareth hatte sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen, was diesen grausamen Foltertod am Kreuz hätte nach sich ziehen können. Er war Opfer eines Justizmordes.
Verstört und entsetzt waren seine Anhänger. Wie passte das schreckliche Ende zu seinem Leben, zu seiner Botschaft von der Liebe und Güte Gottes, auf die er sich doch auch verlassen hatte? War das Kreuz nicht nur sein persönliches Ende, sondern auch die Verneinung alles dessen, wofür er mit einem Leben gestanden hatte? Doch Gottes Geist, Erfahrungen und Begegnungen unterschiedlichster Art in der folgenden Zeit ließen die Gewissheit in ihnen wachsen: die Botschaft Jesu war nicht tot zu kriegen, sie war Botschaft des Lebens; und auch er selbst war nicht von Gott verflucht, sondern er blieb Gottes Kind, Gottes Sohn auch über den leiblichen Tod hinaus, von Gott aufgehoben in neues Leben. Die Botschaft von Ostern öffnete ihnen die Zukunft.
Gleichzeitig ließ sie die „Warum-Frage“ nicht los, die ja auch heute die Menschen angesichts von Leid und Tod umtreibt: warum musste Jesus leiden und am Kreuz sterben? Im Neuen Testament finden sich die unterschiedlichsten Antworten, die die Jünger und Jüngerinnen Jesu auf diese für sie so bedrängende Frage gefunden haben. Antworten, die dem schrecklichen Tod einen Sinn geben sollen. Eine Antwort lautet: am Kreuz ist der Sohn Gottes für unsere Sünden gestorben.
Eine andere: mit seinem Blut hat Jesus das Lösegeld bezahlt und uns von der Herrschaft des Todes freigekauft. Wieder eine andere: Jesus ist freiwillig in den Tod gegangen, um die Wahrheit seiner Botschaft mit seinem Blut zu bezeugen und zu besiegeln. Und eine weitere: Gott wollte, dass Jesus stirbt, um uns so zu erlösen. Antworten, die wir Menschen heute kaum noch nachvollziehen können, die uns verstören.
Die für mich wichtigste Entdeckung der Jüngerinnen und Jünger Jesu im Zusammenhang mit seinem Tod am Kreuz ist diese: Gott ist dagewesen; er hat sein Schreien gehört, er ist seinen Tod mitgestorben, hat ihn durchgetragen in neues Leben. Während für den Apostel Paulus Jesus durch die Auferstehung zum Sohn Gottes, zum Christus, wurde und als solcher erkannt werden konnte, lässt der Evangelist Markus den römischen Hauptmann beim Anblick des gekreuzigten toten Jesus bekennen: „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Gott – präsent im leidenden und sterbenden Jesus. Diesen Gedanken haben die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu dann weitergedacht, angetrieben vom Geist Jesu, vom Geist Gottes. Gott ist präsent, wo immer Menschen leiden. Gott hat nicht nur Mitleid, ihm tun Leidende nicht einfach leid, sondern da besteht eine tiefe Verbundenheit, eine Sympathie, ein Mitleiden Gottes in den Leidenden, der nicht das Leiden, den Tod will, sondern das Leben. Nicht der gewaltsame Tod am Kreuz begründet das Heil, sondern Gottes Leben schaffendes Handeln.
Darauf verweist uns der Predigttext. Er steht im 2.Korintherbrief im 5.Kapitel. Ich lese die Verse 17 bis 20.
„Wenn jemand zu Christus gehört, gehört er schon zur neuen Schöpfung. Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt. Er hat uns sogar den Dienst übertragen, die Versöhnung zu verkünden. Ja, in Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen. Er hat den Menschen ihre Verfehlungen nicht angerechnet. Und uns hat er sein Wort anvertraut, das Versöhnung schenkt. So bitten wir im Auftrag von Christus: Lasst euch mit Gott versöhnen!“
Versöhnung – das ist die Antwort Gottes, seine Reaktion auf die Gewaltverfallenheit der Menschen. Gott möchte eine neue Welt, neue Menschen, einen neuen Anfang mit uns. „In Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen.“
Und diesen neuen Anfang kann auch der Tod nicht auslöschen. Das ist am Christus Jesus offenbar geworden. Zwischen Gott und Mensch ist alles in Ordnung, weil Gott den Menschen in seine Arme geschlossen hat. Weil er nicht anders kann, weil das sein Wesen ist. Doch damit ist das Werk der Versöhnung nicht erledigt. Der Mensch muss diese Tat Gottes auch annehmen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Versöhnt sein mit Gott, das heißt gerade auch versöhnt sein mit sich selbst. Sich selbst ansehen können, wie Gott einen sieht – mit allen Schattenseiten, mit all dem, was uns selbst mit uns über Kreuz sein lässt, auch mit allem Versagen, aller Schuld. Versöhnung heißt, hinsehen, annehmen und sich von Gott annehmen lassen, damit er uns neues Leben, neue Möglichkeiten eröffnet, in Zukunft anders mit uns selbst und dann auch mit unseren Mitmenschen umgehen zu können. Was die Christen in den letzten Jahrhunderten allerdings sträflich übersehen haben, ist, dass Versöhnung nicht eine Sache zwischen Gott und Mensch allein ist. Die Hinwendung Gottes, seine Liebe und Güte gilt der ganzen Schöpfung, dem ganzen Kosmos. Und er will Leben für alle und alles.
Um mit Gott und der ganzen Schöpfung in den Osterjubel einstimmen zu können, ist es nötig, dass wir all das Leid, das wir Menschen durch unser Tun und Lassen, durch unsere Bosheit oder unser Wegsehen, durch unsere Gier oder unsere Angst zu verlieren, in den Blick nehmen, all das Leiden, das wir anderen zufügen, unseren Mitmenschen, unseren Mitgeschöpfen, unserer Mutter Erde. Es werden täglich neue Kreuze errichtet – wir Menschen verursachen Leid und Tod, vergreifen uns an Gottes Schöpfung.
Der Maler Roland Peter Litzenburger hat dieses Leiden in seinen Bildern ausgedrückt. Es sind Bilder von der Kreuzigung des Lebens, der Fauna und der Flora – gemalt vor einem halben Jahrhundert.
Und Michael Jackson hat über das Leiden der Erde einen Song geschrieben – einen echten Klagepsalm, nicht nur nach dem Text, den sie im Original und mit einer Übersetzung am Eingang erhalten haben, sondern auch in der musikalischen Ausgestaltung – ein aufrüttelnder Klageschrei im Bewusstsein, in all das Leid verstrickt zu sein. „What about us!“ Was ist mit uns, was ist mit uns Menschen, mit jedem einzelnen, jeder einzelnen los?“ Der „Earth Song“ – für mich passt er einfach zu diesem Karfreitag.
„What about us?“ Was ist mit uns los? Ja, wir sind falsch abgebogen. Erklärungen gibt es viele, aber sie bringen uns alle nicht weiter. Es läuft auf Tod hinaus, wenn wir so weitermachen wie bisher. Was lässt uns innehalten und einen anderen, einen heilvollen Weg finden – für uns und die ganze Schöpfung?
Es ist das Bewusstwerden, dass diese Erde nicht einfach ein Ding ist, eine Sache, ein Planet in der Unendlichkeit des Universums, ja das nichts, was ist, für sich alleine ist, sondern dass in allem Gott gegenwärtig ist – im Guten wie im Bösen, in der Schönheit des Regenbogens wie im mit Müll bedeckten Strand am Ufer des Meeres.
Und wie im Christus Jesus damals auf Golgatha, so leidet Gott heute mit und in allen seinen Geschöpfen. Er leidet nicht nur an dem, was wir der Erde und ihren Geschöpfen Böses antun, er leidet auch an unserem Nichtstun, unserer Gleichgültigkeit. Und er bittet die Menschen: „Lasst euch versöhnen mit euren Mitgeschöpfen, mit der Erde. Behandelt sie wie Geschwister, denn meine Liebe und Güte gilt ihnen wie euch. Kommt ihnen, kommt mir zu Hilfe. Steht auf, ein neues Leben wartet auf euch, auf die ganze Erde. Alles und alle haben Anteil daran. Alles Geschaffene hat Anteil an meiner Herrlichkeit.“
Das Kreuz kann so ein Zeichen der Versöhnung sein: Gott ist zu uns herabgekommen, auf uns zugegangen; und wir suchen als mit Gott und uns selbst Versöhnte den Weg zu unseren Mitmenschen, zu unseren Mitgeschöpfen. Versöhnung braucht Mut und Wahrheit und - mit Blick auf die Schöpfung und ihre Leiden - die Bereitschaft vor allen Dingen der im Wohlstand lebenden Menschen, viele Selbstverständlichkeiten und liebgewordene Gewohnheiten daraufhin zu befragen, ob sich die Erde all das leisten kann, wenn alle Geschöpfe auf ihr noch eine lebenswerte Zukunft haben sollen. Versöhnung braucht die Bereitschaft, es sich genügen zu lassen, nicht Herr über, sondern Teil der Schöpfung zu sein.
Versöhnte Menschen – das braucht die Welt im Kleinen wie im Großen. Denn sie schaffen Bahn für Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden – in ihrer Nachbarschaft, in ihren Gesellschaften, in ihren Lebensräumen. Mit Gott versöhnte Menschen geben Gottes Frieden weiter mitten in einer von Leid und Ungerechtigkeit, von Gewalt und Tod gezeichneten Welt. Der Blick auf all die Kreuze menschlicher Grausamkeit, Gier und Gleichgültigkeit lässt sie nicht verzweifeln, denn: „Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt.“ Und so sind wir schon heute eingeladen, als diejenigen, die in Christus Teil haben an der neuen Schöpfung, das Leben, Auferstehung zu feiern und zu leben.
Amen
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1. Mose 2,19.20
Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen.
Lukas 12,6