20.S.n.Tr., 22.10.2023, Predigtmeditationen "Mystikerinnen", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
"Mystikerinnen in Vergangenheit und Gegenwart – Ermutigung und Inspiration für uns heute“
Meditation Teil 1
Liebe Schwestern und Brüder, gestern haben wir hier den Mirjamsonntag nachgefeiert – mit Begegnung, Austausch und einem Gottesdienst. Das Thema in diesem Jahr lautete „Visionärinnen gestern und heute“.
Ein spannendes, wenn auch nicht leichtes Thema, dem wir uns in unserem ökumenischen Weltgebetstagsteam gestellt haben. Visionärinnen, Frauen mit Visionen, Frauen, die Visionen haben. Allein schon das Wort „Vision“ löst bei manchen Unbehagen aus. Helmut Schmidt, der nüchtern-pragmatische Hanseat, empfahl Menschen mit Visionen den Aufenthalt in der Psychiatrie. Vielleicht lag das auch an seinen protestantischen Genen. Gerade in den Kirchen der Reformation tut man sich bis heute schwer mit Visionärinnen und Visionären und verortet sie lieber in der katholischen Kirche: wie Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Mechthild von Magdeburg.
Dabei gibt es in der Bibel gar nicht wenige Erzählungen, Berichte von Visionen; allerdings sind es dort Männer, die Visionen haben, die Propheten wie Jesaja, Hesekiel und Daniel in der hebräischen Bibel und die Apostel Paulus und Petrus und der Seher Johannes in der griechischen Bibel. Sie schauen Dinge, die das physische Auge gar nicht sehen kann.
Sie haben weder Cannabis konsumiert, noch sind sie auf einem LSD-Trip oder haben zu tief ins Glas geschaut. Auslöser ihrer Visionen ist vielmehr der Geist Gottes, der Ruach Elohim. Petrus zitiert den Propheten Joel, um das Geschehen am Pfingsttag den irritierten Jerusalemer Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, und der Apostel Paulus beschreibt das Wirken des Geistes in seinem Brief an die Korinther.
Hören wir die Lesungen aus Joel und dem 1.Korintherbrief: Lesung Joel 3,1-3a und 1.Kor.12,6-11
Schola „Schaue hindurch“
1.Schaue hindurch, was immer du siehst,
schaue hindurch mit deinem Herzensauge.
2.Lausche hindurch, was immer du hörst,
lausche hindurch mit deinem Herzensohr.
Meditation Teil 2
Hindurchschauen und hindurch hören, mit dem Herzensauge und dem Herzensohr wahrnehmen, was uns begegnet. Was der Geist uns schauen lässt, lässt sich nicht digitalisiert festhalten. Es geht vielmehr um die „Festplatte“ unseres Herzens. In ihm soll gespeichert und weiterverarbeitet werden, was wahrgenommen wurde.
Menschen, die vom Geist Gottes berührt werden, sich haben berühren lassen, das sind die Mystikerinnen und Mystiker. Sie sind Menschen, die nicht einfach etwas über Gott gelernt haben, sondern sie haben Gott erfahren, haben mit ihm eine Erfahrung gemacht, haben ihn erlebt – als Kraft und Wirklichkeit, die sie auf ganz unterschiedliche Weise berührt und inspiriert hat. Prophetinnen und Propheten sind alle Mystikerinnen und Mystiker. Sie sagen nicht die Zukunft voraus, sondern sie schauen und hören hindurch, der Geist Gottes macht sie hellsichtig für die Konsequenzen, die sich aus dem gegenwärtigen Tun und Lassen ergeben.
Visionärinnen und Visionäre sind keine Spinnerinnen und Phantasten, sondern ihnen leuchten Bilder auf, die Hoffnung vermitteln wollen. Die ermutigen wollen, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, Widerstand zu leisten, wo es um des Lebens willen nötig ist und keine Schwierigkeiten zu scheuen. Die ermutigen wollen, umzukehren, einen besseren Weg einzuschlagen, einen Weg, der dem Lebenswillen Gottes für seine ganze Schöpfung entspricht. Dabei sind sie selbstverständlich an die Vorstellungswelten ihrer Zeit gebunden. Die klassischen Fortbewegungsmittel der biblischen Zeiten waren Pferd und Wagen – und so sieht ein Hesekiel Gottes Thronwagen aus Jerusalem fortrollen und dem Seher Johannes erscheinen Reiter mit Schwertern und Lanzen.
Was allen Mystikerinnen und Mystikern durch die Zeiten gemeinsam ist: sie sind Menschen, die nicht nur mit beiden Beinen auf der Erde stehen, sie sind nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Kinder Gottes. Sie haben einen Draht nach oben. Sie wissen: das Leben ist oft schwer, er verlangt einem oft viel ab. Erschöpfung droht. Wie gut, dass man da seinen seelischen Akku immer wieder aufladen kann – an der Quelle des Lebens, die Gott ist; dass man sich ausruhen kann - in Gottes Liebe.
Schola „Höre den Herzschlag des Himmels“
„Höre den Herzschlag des Himmels klingen in deinem Herzen. Spüre den Herzschlag der Erde pochen in deinem Sein.“
Meditation Teil 3
Es sind gerade Frauen gewesen, die im Mittelalter eigene lebendige Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Ihr Glaube war nicht darauf beschränkt, die von der Kirche verkündeten Dogmen und Lehren nachzusprechen. Sie fielen in mancherlei Hinsicht aus der Rolle, die Frauen damals zugewiesen war: sie schwiegen nicht, sondern ergriffen das Wort, sie beugten sich nicht unter die Vorherrschaft des Mannes, sondern sie bewegten sich frei und aufrecht auf ihren eigenen Wegen. Dazu brauchte es damals sehr viel Mut. In vielen Ländern und Regionen braucht es das heute leider immer noch.
Ich denke, es war die Sehnsucht nach einem selbständigen, eigenverantwortlichen Leben, die diese Frauen dazu brachte, in sich hineinzuhören und sie ermutigte, sich von Gott im Innern berühren zu lassen. Mehr auf ihn zu hören als auf die Reden der Kirchenmänner ihrer Zeit. Und Mut brauchten sie dazu, denn die offizielle Kirche witterte überall den Angriff teuflischer Mächte. Die Inquisition war immer auf dem Sprung, gerade wenn Frauen es wagten, ihre Stimme in Sachen Glauben zu erheben. Wer von seinen visionären Erlebnissen erzählte oder gar deutlich machte, was in der Kirche nicht dem Willen Gottes entsprach, der stand immer schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen. Männer und vor allen Dingen auch Frauen. Vor allen Dingen Frauen aus dem Kreis der Beginen, jener mittelalterlichen Lebensform, wo Frauen in Gemeinschaften zusammenlebten und -arbeiteten ohne männlichen Vormund – unverheiratet und auch nicht unter einer geistlichen männlichen Vormundschaft, wie es damals Nonnen in ihren Ordensgemeinschaften waren.
Mutig und konfliktbereit mussten Mystikerinnen immer sein, ob Begine, Ordensfrau oder Witwen aus dem Adel; genannt seien Clara von Assisi, Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Birgitta von Schweden, Mechthild von Magdeburg, Juliane von Norwich. Alle machten sie Erfahrungen mit Gott, erlebten seine Nähe, die ihnen Kraft und Mut gab, ihren ganz eigenen Lebensweg zu gehen, mit Konventionen zu brechen, prophetisch-kritisch die Stimme zu erheben und in neuer, bis dahin unerhörter Weise von Gott zu sprechen – auch da nicht losgelöst von den Sprachbildern ihrer Zeit.
Das Mittelalter war die Zeit der Troubadoure, der Minnesänger, die nicht nur mit ihren Liedern das höfische Leben prägten, sondern über die Bänkelsänger auch die Landbevölkerung. Die Troubadoure besangen die Liebe zu einer schönen Dame, eine Liebe, die unerfüllbar blieb.
Die Mystikerinnen, allen voran Mechthild von Magdeburg, besangen in ihren Dichtungen die Liebe zwischen Gott und der Seele, oder zwischen Jesus und der Seele. Eine Liebe, die sich für die Mystikerinnen erfüllte. In seiner Liebe, das war ihre Erkenntnis, ist Gott der nahe, seine Sehnsucht nach dem Menschen ist genauso groß wie die Sehnsucht des Menschen nach ihm.
Es ist interessant, dass in späteren Jahrhunderten Männer, Mystiker die Gedanken und Sprachbilder der Gottesminne aufnahmen und an die Überlegungen der mittelalterlichen Mystikerinnen anknüpften. Zum Beispiel Johann Scheffler, geb. 1624 in Breslau, der 1653 zur katholischen Kirche übertrat und unter dem Namen Angelus Silesius großen Einfluss auf die Lyrik und christliche Mystik im 17.Jahrhundert hatte. Dass wahre Mystik konfessionell nicht gebunden ist, das zeigt sich an einem seiner bedeutendsten Lieder, welches in unserem Gesangbuch unter der Nummer 400 zu finden ist und dessen 7.Strophe uns hier immer vor Augen ist – Gottesminne pur: „Ich will dich lieben, meine Krone, ich will dich lieben, meinen Gott, ich will dich lieben sonder Lohne auch in der allergrößten Not; ich will dich lieben, schönstes Licht, bis mir das Herze bricht.“
Neu von Gott gesprochen, das hat auch Juliane von Norwich, deren Texte Jean Janzen in dem Lied „Mothering God“ verarbeitet hat und das die Schola nun zum Klingen bringt.
Schola „Mothering God“
1.Gott, du bist wie eine Mutter.
Du hast mich geboren ins Licht der Welt.
Jedem Geschöpf gibst du den Atem.
Du bist mein Regen, mein Wind, meine Sonne.
2.Christus, du bist wie eine Mutter; du bist mir ähnlich.
Du nährst mich mit deinem Licht.
Du Brot des Lebens, du Saft und Kraft für meine Liebe.
Du gibst alles für meinen Frieden.
3.Heilige Geistkraft, du Mutter, du kümmerst dich um mich.
Du hältst mich fest in deinen Armen,
dass ich im Glauben Wurzeln schlage und wachse,
blühe und Gewissheit habe.
(Text: Jean Janzen, nach Texten der Juliane von Norwich 1343 – 1416)
Meditation Teil 4
Um Gottes Liebe und Zuwendung geht es den Mystikerinnen, um die Erfahrung seiner Nähe – und damit auch um die Erfahrung von Verbundensein und Einssein: Du in mir und ich in dir. So hat es auch Gerhard Tersteegen in seinem Lied „Gott ist gegenwärtig“ formuliert. Lukas lässt in seiner Apostelgeschichte den Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen diesen zutiefst mystischen Satz sagen: „In ihm leben, weben und sind wir.“ Ein Satz übrigens, der auf einen nichtchristlicher Mystiker zurückgeht. Wahre Mystik ist auch nicht religionsgebunden. Der Geist Gottes weht nämlich, wo er will, nicht nur in christlichen Kontexten. Er sucht und fördert die Verbindung und das Einssein und Einswerden alles Geschaffenen mit seinem Schöpfer. Er sucht auch heute noch Menschen, die offen sind für ihn, die sich berühren lassen – in ihren Herzen, in ihrer Seele. Die bereit sind, von innen her ihr ganzes Leben neu auszurichten.
Ein Weg, berührbarer zu werden, ist, mit offenen Augen und Ohren die Schöpfung wahrzunehmen, sich für diese Begegnung Zeit und Ruhe zu nehmen (ohne Handy in der Hand, ohne Lautsprecherknöpfe in den Ohren). Einfach allein zu sein mit Gott in seiner Schöpfung, die nichts anderes als seine erste Offenbarung ist, seine erste Anrede an uns.
Ein beredtes und berührendes Zeugnis von solch mystischer Erfahrung findet sich in der Autobiographie der weltbekannten Verhaltensforscherin Jane Goodall, die eine der Visionärinnen war, mit der wir uns gestern beschäftigt haben.
Hören wir, was sie erlebt hat.
Es muss eine Stunde gedauert haben, bis das Zentrum des Gewitters nach Süden abzog und der Regen endlich nachließ. Um halb fünf kamen die Schimpansen herabgeklettert, und wir wanderten durch das triefnasse, tropfende Grün zum Berghang zurück. … Ich postierte mich an einer Stelle, von der aus ich zuschauen konnte, wie sie ihre letzte Tagesmahlzeit genossen. Der See unten in der Tiefe war noch immer dunkel und aufgewühlt, und da, wo sich die Wellen brachen, trug er weiße Schaumkronen; schwarze Regenwolken hingen im Süden. Gegen Norden war der Himmel schon klar, und nur ein paar graue Wolkenfetzen waren noch zu sehen. Der Anblick war atemberaubend schön. …In ehrfürchtiges Staunen über die Schönheit um mich herum versunken, muss ich in einen gesteigerten Bewusstseinszustand geraten sein. Es ist schwer – wenn nicht gar unmöglich - , den Augenblick der Wahrheit, den ich plötzlich erlebte, mit Worten zu beschreiben. Selbst die Mystiker finden keine Worte für die kurzen Momente spiritueller Verzückung. So kam es mir vor, als ich mir hinterher das Erlebnis noch einmal zu vergegenwärtigen versuchte: Mein Ich war nicht mehr da; die Schimpansen und ich, Erde, Bäume und Himmel schienen miteinander zu verschmelzen und eins zu werden mit der geistigen Kraft des Lebens selbst. Die Luft war erfüllt von einer Symphonie von Vogelstimmen, vom Abendgesang der gefiederten Schar. Ich nahm neue Klänge in ihrer Musik wahr. … Noch nie waren mir Form und Farbe der einzelnen Blätter so intensiv bewusst geworden. … Auch die Düfte waren deutlich zu unterscheiden: gärende, überreife Früchte; wasserdurchtränkte Erde … Der aromatische Duft junger zerdrückter Blätter war fast überwältigend stark. … Mir waren keine Engel erschienen oder andere himmlische Wesen, wie sie die Visionen großer Mystiker auszeichnen, aber dennoch glaube ich, dass es sich um eine wahre mystische Erfahrung gehandelt hat. …
Später, als ich an meinem kleinen Feuer saß und mir eine Mahlzeit zubereitete, war ich immer noch von Staunen über mein Erlebnis erfüllt. Ja, dachte ich, es gibt viele Fenster, durch die wir Menschen auf unserer Suche nach einem Sinn in der Welt hinausblicken können. Die Fenster, die die westliche Wissenschaft aufgeschlagen hat und deren Scheiben von einer Abfolge brillanter Köpfe blank geputzt worden sind. … Durch ein solches wissenschaftliches Fenster hatte ich gelernt, die Schimpansen zu beobachten. Über 25 Jahre lang habe ich mich bemüht, mir durch sorgfältige Aufzeichnungen und kritische Analysen Stück für Stück ein Bild ihres komplexen Sozialverhaltens zu machen und ihre Denkweise zu verstehen. … Aber es gibt noch andere Fenster, durch die wir Menschen unsere Umwelt betrachten können, Fenster, hinter denen die Mystiker und Heiligen des Ostens und die Begründer der großen Weltreligionen nach dem Sinn und Zweck unseres Erdenlebens suchten, in dieser Welt voll wundersamer Schönheit, voll Dunkelheit und Hässlichkeit. Diese Meister gaben sich der Kontemplation über die Wahrheit hin, die sie nicht nur mit ihrem Geist erfassten, sondern auch mit Herz und Seele. … An jenem Nachmittag war es so gewesen, als hätte eine unsichtbare Hand einen Vorhang beiseite gezogen, so dass ich für den Bruchteil eines Augenblicks durch ein solches Fenster schauen konnte. Durch einen blitzartigen „Ausblick“ hatte ich Zeitlosigkeit und stille Verzückung kennengelernt und eine Wahrheit gespürt, von der die akademische Wissenschaft nur ein winziger Splitter ist. Und ich wusste, dass mir diese Offenbarung mein Leben lang im tiefsten Innern erhalten bleiben würde, auch wenn ich sie nur unvollkommen in Erinnerung behielt, eine Kraftquelle, aus der ich schöpfen konnte, wenn das Leben mir einmal hart, grausam und ausweglos erschien.
Aus: Jane Goodall, Grund unserer Hoffnung. Autobiographie; 1999; S.222-226 i.A.
Jane Goodall ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass alle mystischen Erfahrungen und Gottesbegegnungen nicht Selbstzweck sind, sondern als Geschenk und Gabe begriffen und ergriffen werden wollen, die uns beauftragen, in die Welt hinein tätig zu werden, Nöte nicht nur zu sehen, sondern zu wenden und mit am Reich Gottes zu bauen und zu arbeiten – ohne Scheu, geduldig, gelassen und unbeirrt.
Amen.
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Tageslosungen
Psalm 31,10
Die Jünger weckten Jesus auf und sprachen: Herr, hilf, wir verderben! Da sagt er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?, und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer, und es ward eine große Stille.
Matthäus 8,25-26