1.S.n.Tr., 22.06.2025, biblische Weisheit im Märchen, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann

Thema: „Vom Verlieren und Gewinnen, Loslassen und Geschenkt-bekommen: kein Neuanfang ohne Abschied.“ 

Biblische Weisheit im Märchen „Die Beutelratte, die sich fledermauste“ (Indiomärchen aus Südamerika) 

 

„Erzähl mir keine Märchen“, hörte ich vor längerer Zeit eine Mutter zu ihrem etwa 6jährigen Kind sagen. Wir warteten auf die U79 und das Kind erzählte wohl von einer Begebenheit auf dem Schulhof, noch ganz davon beeindruckt. „Nein, das war so“, beharrte das Kind mit Nachdruck. Da näherte sich die Bahn und die Mutter nahm ihr Kind an die Hand, und so konnte ich leider ihre Erwiderung nicht mehr hören. 

„Erzähl mir keine Märchen“ – sicher haben viele von uns diesen Satz schon gehört und vielleicht auch schon selbst an andere gerichtet – in dem Sinne, dass das Gehörte doch nicht wahr sein kann, dass es nicht passiert ist. Das Märchen als Synonym für Unwahrheit, für reine Fantasie - wenn man gutmeinend ist; für glatte Lüge - in negativer Betrachtungsweise. 

Vielleicht etwas für Kinder, aber doch nichts für Erwachsene. 

Und Märchen im Gottesdienst, ein Märchen gar statt eines biblischen Textes als Ausgangspunkt für die Predigt? 

Ja, liebe Gemeinde, ein Märchen, das Jesus, wenn er es denn gekannt hätte, bestimmt mit seinen anderen Geschichten, den Gleichnissen weitererzählt hätte. Denn, und das möchte ich ihnen gerne heute morgen vermitteln, denn die Wahrheit, um die es im Märchen geht und um die es in den Geschichten von Jesus geht, die hat nichts mit zeitlich-räumlichen Fakten zu tun, sondern mit unserem geistig-seelischen Leben. Es geht darum, wie wir zu einem guten, wahrhaftigen Leben finden. In christlich-religiöser Sprache: Wie wir als Kinder Gottes leben können, die sich das Beispiel Jesu zu Herzen genommen haben, die im Bewusstsein ihrer Endlichkeit und vielfältiger Ohnmachtserfahrungen auf dieser Welt sich dennoch voller Zuversicht und Hoffnung daran machen, Auferstehung zu leben.

 

„Es war einmal eine Beutelratte, die war ihr altes Leben müde, da sagte sie sich: „Ich bin zu alt für das Rattenleben und zu langsam, meine Beine sind schwer und wollen nicht mehr. Es ist Zeit, dass ich mich verwandele. Aber was soll ich werden? Ich will im Dunkeln meine Wege finden, ohne dass man mich sieht. Soll ich also eine Schabe werden? Lieber nicht. Die Leute würden mich verachten und zertreten. Soll ich eine Schlange werden? Ach nein, dann wird man mich fürchten und hassen. Ich will eine Fledermaus werden! Die fliegt durch die Nacht und frisst reife Bananen!“

Und dann ging die alte Ratte daran, sich zu fledermausen. Mit ihrem langen Schwanz und ihren Hinterpfoten hielt sie sich fest an einem Zweig und hängte sich mit dem Kopf nach unten auf, wie das die Fledermäuse tun. Aber da bekam sie einen Schluckauf.

Eine Fledermaus, die vorbeiflog, hörte, wie sie schluckte und schluckte. Sie flatterte um die Ratte herum. „Was machst du denn da?“, fragte sie, „Willst du dich über mich lustig machen?“ – „Nein“, sagte die alte Ratte, „ich will mich nicht über dich lustig machen. Ich will mich fledermausen.“ – „Wir Fledermäuse haben keinen Schwanz“, sagte die Fledermaus. Da warf die Ratte ihren Schwanz ab und hielt sich nur noch mit den Hinterpfoten fest. – „Wir Fledermäuse brauchen keinen Beutel!“ – Da warf die Beutelratte ihren Beutel fort. – „Wir Fledermäuse haben Flügel!“ – Da dehnte und dehnte die Beutelratte ihre alte Haut und spannte neue Flügel aus. Die Fledermaus flog davon und sagte zu ihrem Volk: „Denkt euch, was ich gesehn hab‘. Dahinten ist eine Beutelratte, die sich fledermaust. Sie will sich verwandeln, um mit uns zu leben. Lasst sie in Ruhe, dass sie sich verwandeln kann.“ Da riefen alle Fledermäuse: „Eine Beutelratte, die sich fledermaust! Eine Beutelratte, die sich fledermaust! Los, los, das müssen wir sehen!“, und sie flogen alle dorthin und sahen die Beutelratte, die da hing und sich fledermauste.

„Ratte, Ratte, hast du dich schon verwandelt?“, fragten sie. – „Ja, verwandelt hab ich mich schon“, sagte die Ratte, „und jetzt möchte ich fliegen. Aber ich fürchte mich.“ „Fürchte dich nicht, Ratte!“, riefen die Fledermäuse. „Fliege! Es ist wunderschön.“ Die alte Ratte wollte gern fliegen, aber sie fürchtete sich und zitterte und war ganz schwer vor Angst und blieb hängen. „Hab keine Angst“, riefen die Fledermäuse, „wir werden dich das Fliegen lehren. Breite nur deine Arme aus, lass deine Flügel schwingen und dann lass dich fallen – und du wirst fliegen.“

Da spannt die alte Ratte ihre neuen Flügel aus, sie lässt sie schwingen, lässt sich los – sie fliegt! „Es ist wunderschön!“, ruft sie und fliegt davon durch die Nacht. Wir können sie nicht sehen, aber sie sieht uns auch im Dunkeln. Sie findet Bananen, mehr als genug, und die reifen, die frisst sie. So hat die alte Beutelratte sich gefledermaust. Ein alter Indianer hat’s erzählt. In seinem Land ist es geschehn.“

 

Dieses Indiomärchen aus Südamerika ist kein klassisches Zaubermärchen, sondern ein Weisheits-Märchen. Es geht um Verwandlung, die aber nicht von außen in Gang gesetzt wird – z.B. durch eine Fee oder einen Zauber - , sondern von innen her. Da sieht die alte Beutelratte ein, dass sich etwas ändern muss in ihrem Leben, ja, dass sie selbst eine andere werden muss, damit das Leben überhaupt für sie lebenswert bleibt und weitergehen kann.

Ursprünglich mag die Geschichte zu tun haben mit dem Rätsel des Sterbens und der Verwandlung im Tod; und da behält sie auch ihre Bedeutung. Aber sie macht Sinn auch in den vielen Lebensübergängen, die wir von Kindheit an durchschreiten. Und es gibt diese Übergänge nicht nur im individuellen Leben, sondern auch im größeren Kontext von Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Entwicklung. Auch biblische Texte kennen diese verschiedenen Betrachtungsebenen. Zum Beispiel was die Rede von Auferstehung und ewigem Leben angeht: sie ist nie nur auf ein Jenseits nach dem leiblichen Tod hin zu verstehen, sondern gerade Jesus ging es auch immer um ein Aufstehen in diesem Leben, um es wahrhaftig, nämlich so, wie Gott es gewollt hat, zu leben.

Dieser Betrachtungsebene ist gerade für uns heute von entscheidender Bedeutung.

Schauen wir uns das Märchen einmal genauer daraufhin an, welche Anstöße es uns für unser Leben heute geben kann. Und wir werden entdecken: die göttliche Weisheit spricht nicht nur in den biblischen Büchern zu uns.

 

„Sie war ihr altes Leben müde.“ – heißt es von der Beutelratte. Dass einem das alte Leben über ist, dass man merkt, das geht so nicht weiter, das hat nicht unbedingt etwas mit dem Lebensalter eines Individuums zu tun. Das alte Leben, das ist das „normale, alltägliche Leben“ in der Form, wie Menschen aller Generationen es in unserer Gesellschaft heute leben. Geprägt von den Arbeits- und Lebensbedingungen, die nach dem Kriegsende 1945 unsere Gesellschaft bestimmt haben. Wirtschaftswunderjahre wurden uns beschert, Wirtschaftswachstum und ein Wohlstand, wie es ihn für so viele Menschen noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat. Und noch nie hat ein Volk in der Mitte Europas solange in Frieden leben können: 80 Jahre kein Krieg, keine Bomben, kein Luftalarm.

Doch so recht sich darüber freuen, es genießen, das kann kaum einer. Dazu sind die „Zeichen der Zeit“ viel zu beunruhigend. Jesus selbst hat seine Nachfolgerinnen und Nachfolger geradezu gedrängt, doch die „Zeichen der Zeit“ zu prüfen und entsprechend das eigene Verhalten, das Tun und Lassen darauf abzustimmen (Mt.16,3; Lk.12,56; Lk.19,42). Ein Weiter-So in der Hoffnung, „Et is noch immer joot jejangen“, das wäre fatal.

Die Beutelratte hat das begriffen und weiß: sie selbst muss handeln. Sie überlegt sich, wie es mit ihr weitergehen könnte, wie ihr Leben zukünftig aussehen könnte, was sie nicht will und was sie sich wünschen würde: ein besseres Leben in Freiheit und Fülle. Dafür stehen symbolisch die Flügel und die Bananen. Für dieses Ziel stellt sie ihr Leben auf den Kopf, lässt sich kopfüber hängen. Aber das ist nicht genug.

Um das Ziel zu erreichen, muss sie sich von bisher für sie wesentlichen Teilen ihres Lebens, ihres Selbst trennen, sie loslassen: den Schwanz und den Beutel.

Mich hat dieses Märchen hier sehr stark in seiner Symbolik angesprochen. Ja, es muss sich was ändern im eigenen Leben und in der Folge wird sich auch vieles ändern müssen in unserer Gesellschaft, ja, und auch darüber hinaus. Wir müssen bereit sein zu grundlegenden Veränderungen – jeder für sich und alle füreinander, damit ein gutes, wenigstens erträgliches Leben für alle Menschenkinder auf unserer Erde möglich wird und für die kommenden Generationen möglich bleibt. Es muss vieles auf den Kopf gestellt werden – unsere Lebensweise, unsere Weise zu wirtschaften, unser Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen, zu unserer Erde. Doch das geschieht nicht von allein und kann auch nicht „von oben“ angeordnet werden. Es braucht das aktive Mitmachen aller. Keine und keiner der bisher im Wohlstand Lebenden kann sich da in die Hängematte legen. Wir müssen bereit sein, liebgewordene und scheinbar selbstverständliche Verhaltensweisen abzulegen und uns von Überzeugungen zu trennen, die für die meisten Menschen in unseren westlichen Gesellschaften geradezu heilig sind: den Glauben daran, dass es ohne Wirtschaftswachstum nicht weiter geht, den Glauben an den technischen Fortschritt, den Glauben daran, dass jede und jeder seines Glückes Schmied ist.

Er muss weggeworfen werden, der Beutel, in den wir als Gesellschaft global gesammelt und gerafft haben – wobei seit vielen Jahren auch bei uns schon immer weniger davon profitiert haben, sind wir doch gesamtgesellschaftlich mit einem Rattenschwanz an Entwicklungen konfrontiert, die unsere Demokratie gefährden: prekäre Arbeitsverhältnisse, Obdachlosigkeit, Wohnungsnot, Pflegenotstand, Bildungsmisere, Anwachsen der Fremden-, ja Menschenfeindlichkeit.

Gutes Leben ist nicht teilbar. Insofern hat der Spruch „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Recht. Um das zu erkennen, braucht die Beutelratte die Hilfestellung der Fledermaus. Sie zeigt ihr aber nicht nur an, was sie loslassen muss, sondern weist sie auch darauf hin, was sie an sich selbst entwickeln und entfalten muss, um ihr Ziel zu erreichen: ihre alte Haut zu dehnen, um so an Flügel zu kommen.

Die Rolle, die die Fledermaus in diesem Märchen einnimmt, hat mich stark an die Rolle von Engeln in der biblischen Tradition erinnert. Sie fragt nach und interessiert sich für die Beutelratte, die da kopfüber mit Schluckauf hängt: „Was machst du denn da?“ – So begegnet der Engel der Hagar in der Wüste, als diese nicht mehr ein noch aus weiß: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ (Gen.16,8). Und sie ermutigt die ängstliche Ratte: „Fürchte dich nicht!“ Und wie der Engel Raphael den Entwicklungsweg des Tobias (Buch Tobit) begleitet, so begleitet die Fledermaus den Wandlungsweg der Ratte. „Breite nur deine Arme aus, lass deine Flügel schwingen und dann lass dich fallen – und du wirst fliegen.“

Mir fällt dazu die Begegnung Jesu mit dem Vater des unter Epilepsie leidenden Kindes ein, der in seiner Not nicht ein noch aus weiß und zu dem Jesus sagt: „Wenn du nur Vertrauen hast, ist alles möglich.“ (Mk.9,23) Vertrauen haben in Gott – was bedeutet das anderes als sich in Gottes Arme fallen zu lassen und so selbst zu erfahren: man wird gehalten, man braucht wirklich keine Angst zu haben – vor gar nichts. Solches Vertrauen verleiht wirklich Flügel, stärkt das Selbstvertrauen und macht mutig und getrost für ganz neue Schritte und Erfahrungen. Bereit auch zu einem neuen Lebensstil, zu einer neuen Einstellung zum Leben. Sogar das Dunkle und Bedrohliche lässt sich bewältigen – eine Erfahrung, die der Beter des 139.Psalmes so ausdrückt: „Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Die verwandelte Ratte fliegt und erfährt die Fülle: reife Bananen, so viele sie braucht.

 

Liebe Gemeinde, dieses Märchen lädt uns ein, darüber nachzudenken, wo wir uns auf den Weg der Verwandlung begeben müssen, damit dann auch unsere Gesellschaft sich wandeln kann und wir den fürchterlichen Rattenschwanz der Kollateralschäden loswerden, die unsere derzeitige Lebensweise nicht nur für uns, sondern auch für die globale Menschheitsfamilie zur Folge hat.

Das entspricht genau dem Ansatz der Verkündigung Jesu, der von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern erwartet, dass sie das Salz der Erde sein sollen, dass sie wie der Sauerteig wirken sollen, der den ganzen Teig im Trog durchsäuert.

Dieser Prozess, das ist das Wirksamwerden und die Erscheinung des Reiches Gottes mitten unter uns.

Jesus hat daran geglaubt: die Verwandlung, die Umkehr des einzelnen wird die Verhältnisse in der Gesellschaft verändern, ja, das globale Miteinander der Menschheitsfamilie. Teilen wir doch seinen Glauben, lassen wir los, was uns festhalten will, dehnen wir unsere alte Haut, unsere alten Vorstellungen, was ein gutes und gedeihliches Leben angeht, bitten wir Gott um ein weites, weises Herz, um bereit zu sein für eine neue Weise zu arbeiten, zu wirtschaften und zu leben.

Hören wir dabei nicht auf die Bedenkenträger, und lassen wir uns nicht einlullen von denen, die von den herrschenden Verhältnissen profitieren und ihre Beutel nicht aus den Händen lassen wollen.

Hören wir vielmehr auf die himmlischen Stimmen, die uns immer wieder in dunklen Momenten zurufen: „Fürchte dich nicht! Fürchtet euch nicht!“

Amen.

 

 

 

 

 

Alle anzeigen

Gemeindebüros

Image

Adresse

Fliednerstr. 6
40489 Düsseldorf
Tel.: 0211 40 12 54

Adresse

Tersteegenplatz 1
40474 Düsseldorf
Tel.: 0211 43 41 66

Öffnungszeiten

Mo - Fr 09:00 - 15:00 Uhr
Di 09:00 - 18:00 Uhr

 

Öffnungszeiten

Di 09:00 - 16:00 Uhr
Mi u. Fr 09:00 - 12:00 Uhr

 

Spendenkonto
Ev. Kirchengemeinde Kaiserswerth-Tersteegen
DE38 3506 0190 1088 5230 39

.

Cookies auf dieser Website
Um unsere Internetseite optimal für Sie zu gestalten und fortlaufend zu optimieren verwendet diese Website Cookies
Benötigt:
+
Funktional:
+
+