Sexagesimae, 23.02.2025, Stadtkirche, Apostelgeschichte 16, 9 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 23.II.2025
Apostelgeschichte 16, 9 - 15
Liebe Gemeinde!
… Ein hilfsbedürftiger Kontinent.
… Ein jammernder Erdteil, der von auswärts erfleht, was ihn retten kann.
… Ein Erdteil, der nicht irgendwie beständig aus sich selbst und seinen stofflichen oder geistlichen Wurzeln lebt, sondern voller Umwälzung und Instabilität, voller Expansion und Migration ist: Das verraten die wenigen Details, mit denen dieser Kontinent in unserm heutigen Predigttext in der neutestamentlichen Heilsgeschichte auftaucht.
„Makedonien“ wird sein Rand genannt. – Nicht das große Rom, für das das Neue Testament keine pietätvollen Bezeichnungen hat, … nicht das glanzvolle und uns heiter vorschwebende Griechenland gibt diesem fremden Teil der Erde hier seinen Namen, sondern eine kargere Landschaft und ein rauerer Menschenschlag, die in der Antike nach Barbaren und in unseren Ohren nach Balkan klingen. „Makedonien“: Weltmachthungriges Zwergvolk, aus dem Alexander bis nach Indien ausgriff und doch keine bleibende Weltordnung etablierte. „Makedonien“, wilde Grenze Europas, in dem die uralten Kulturen des Zweistromlandes und Ägyptens, wo Staatlichkeit und Schrift und Wissenschaft - kurzum die Zivilisation - ihre unvordenklichen Wurzeln haben, nur möchtegerne Neu-Reiche sehen konnten. … Da heißen die Städte nicht „Ur“, wie die Heimat Abrahams an der Wiege der Kultur, sondern Neapolis - „Neustadt“, oder eben nach dem makedonischen Philipp, wobei auch dieses Philippi von Lukas lapidar als „κολωνία“, römischer Außenposten also charakterisiert wird: Nicht ganz ernst zu nehmen. … „Kολωνία“ … „Köln“ eben. …
In diesen Westen, der weit von der morgenländischen Welt Abrahams, Israels, Davids, Jesajas, Marias und Jesu entfernt ist, … in dieses Europa, dessen Hilfsbedürftigkeit und Angewiesensein auf rat- und tatkräftige Unterstützung von jenseits seiner Ufer wir allzu scharf auch heute erkennen müssen, … in dieses Abendland ruft ein Nachtgesicht den vierzehnten Apostel - Paulus -, der anders als die galiläischen Zwölf keine Scheu vor Heiden und Barbaren kennt.
Und der Gerufene kommt. Segelt durch die Ägäis auf uns zu. … Wie viele, viele andere es auch in diesen Tagen tun, in denen Europa seine hoffnungslose Überfüllung durch zu viele beklagt und seine noch hoffnungslosere Verlassenheit von vielen anderen erleidet.
Wir sollten darum gut darauf achten, was die Bibel uns zu sagen hat von der ersten europäischen Enklave, in der ein Häuflein weniger Randfiguren die Keimzelle dessen wird, was nun vergeht: Getauftes Abendland, … Erdteil, der nach Jesus Christus rief.
Das Erste, was uns von unseren Anfängen erzählt wird, ist dass ein Mann bettelte und eine Frau dort zur Stelle war, wo der rufende Kontinent seine erste Entscheidung treffen musste.
Nicht weil Frauen die besseren Menschen oder Christenmenschen oder Abendlandvertreterinnen wären. Aber doch ganz bewusst biblisch als Ausdruck der gegenseitigen Gemeinschaft, der wurzelhaften Zusammengehörigkeit der Geschlechter. Das soll Europa sein!
Und dann ist diese Frau, die erste Christin Europas, die Schutzpatronin aller späteren abendländischen Gemeinden, … dann ist diese Lydia also eine Frau, der nicht der enge, sondern der weite Horizont entspricht. Sie ist nicht häuslich, sondern treibt ein Gewerbe. Sie lebt nicht vom Vertrauten, sondern vom Unbekannten. Der Purpur, mit dem Lydia handelt, wird auf abenteuerliche Weise durch Taucher gewonnen, die Meeresschnecken sammeln, die die weitbegehrte Luxusfarbe absondern. Doch nicht nur geschäftlich, sondern mehr noch geistlich hat Lydia – deren Name ihre Herkunft aus Kleinasien verrät – keine Berührungsängste mit dem Fremden und Rätselhaften. Sie muss am Gestade Europas eine eigenwillige Neugier, aus der vielleicht schon Bindung geworden ist, erfahren haben: Neugier auf den seltsam unsichtbaren, seltsam zurückhaltenden Gott des Volkes Israel, Der nicht von allen überall, sondern bisher nur von einem verachteten winzigen Volk zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluß – “from the river to the sea” - Dienst, Ehre, Treue und Vertrauen verlangte. … Zu diesem Gott beten die Frauen vor dem Stadttor von Philippi am Fluss: Die typische, improvisierte Versammlung derer, die ohne eine Synagogengemeinde zu sein, doch dem Gott Israels und folglich auch Seinem Volk in Lesung und Anrufung, seelisch also und womöglich auch praktisch verbunden waren.
Das ist das Zweite, was sich über Europa im Evangelium findet: Das Heil beginnt dort mit der inneren Nähe, ja freiwilligen Bindung an den Bund zwischen Gott und der jüdischen Wirklichkeit (vgl. Joh.4,22!). Das christliche Abendland lebt also immer schon von Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen konnte und die es nicht einmal selber verkörpert!
Und dann das Dritte, was ursprünglich und auch endgültig von der Rettung Europas gilt: Die Frau mit dem weiten Horizont und der starken Persönlichkeit, die sich und ihre judenfreundlichen, kleinasiatischen und makedonischen Glaubensschwestern, deren Vorsteherin sie irgendwie gewesen zu sein scheint, von fremder Gnade und ferner Wahrheit angesprochen sein ließ, indem sie sich zur Torah hielten in einer Welt, der die Bibel Israels noch ferner lag als unserer religiös vollkommen dumpfen Gegenwart, … diese Frau hat sich trotz all ihres Weitblicks und aller Weite ihres Herzens nicht selbst christianisiert. Diese Erste in der Reihe der christlichen Europäerinnen und Europäer wurde nicht durch eigenes Verdienst und Würdigkeit gerettet … und wir werden es auch nicht! … Der HERR war es, Der Lydia das Herz auftat!
Das ist die wichtigste Botschaft, die am Beginn steht, damals als das Evangelium anfing, Grenzen zu überschreiten, Menschen, Sprachen, Völker und Kulturen zu verbinden nicht nur in Jerusalem, dem Mittelpunkt der Bibel, an dem sich alle treffen sollen (vgl. Ps.122,3 / Apg.2), sondern an allen Orten auf der Weltkarte, wo sie jeweils zuhause sein mögen. Es ist die Botschaft, dass Gott Selber da den Kreis weitet, dass Er die Wege zieht und die Wunder tut … und die Wahl trifft, weil Sein Wort nicht wieder leer zu Ihm zurückkommen, sondern ausrichten wird, was Er will (vgl. Jes.55,11).
Das sollten wir uns alle seit diesem Anfang in Philippi, am Rande unseres Kontinentes sagen lassen: Die Geschichte, aus der wir kommen, die Tradition, in der wir stehen, die Hoffnung, die in uns geweckt ist und die Freude unseres Glaubens sind nicht unser Werk und verdanken sich in keiner Weise uns. Wo immer man hört, sagt oder denkt, dass wir uns etwas auf unser Christentum zugutehalten könnten, … wo immer das Christliche zu einem Recht oder einem Anspruch wird, … wo immer wir uns einbilden, es wäre überhaupt angemessen, von „unserem“ Christsein zu sprechen, als wäre das ein Besitz oder als sei das unsere persönliche und private Identität: Da hat es schon aufgehört. Da ist das Wunder schon wieder erloschen und Gott schon weitergegangen.
Dass wir Christen sind, … dass wir zur Kirche gehören, … dass uns das Evangelium gesagt ist, … dass wir durch die Taufe neu geboren und von Schuld, von Tod und Hoffnungslosigkeit befreit werden, … dass wir uns in unseren Erfahrungen, Erleuchtungen und Erlebnissen Gottes Heiligem Geist anvertrauen können, … dass wir beten dürfen zu „unserm Vater im Himmel“, … dass wir das Leben und die Liebe Jesu Christi in unserem eigenen Dasein im Abendmahl als Kraft und Wirklichkeit empfangen dürfen, … dass wir von unseren Begrenzungen im Fühlen und Denken und Erwarten also seelisch und leiblich gelöst und in das Große, Ganze, Bleibende eingebunden sind … alles das ist nicht unsere natürliche Ausstattung oder Möglichkeit!
So oft in diesem Katalog der Gaben und der Gnaden auch das Wörtchen „uns“ und die Näherbestimmung „unser eigenes“ vorkam, so ganz und gar ist doch nichts davon in irgendeiner Weise Ausdruck oder Wirkung dessen, was wir sind:
Wir kommen nicht als Christen zur Welt, … wir verfassen nicht das Wort, das Gott zu sagen hat, … wir sind nicht unsere eignen Täufer und Erneuerer, … wir können uns nicht selbst mit Geist erfüllen, … können uns auf Erden und im Himmel unsern Ursprung und unsere Bestimmung nicht alleine aussuchen, … werden niemals etwas essen, trinken und uns als Nahrung anverwandeln, das neben unseren stofflichen Gefäßen auch unsere Seele füllt und heilt, … wie werden nie auf biologischem oder auch nur logischem Weg über uns selbst hinaus und in die Wirklichkeit hineinwachsen, die weder von Endlichkeit noch Einzelheit mehr beherrscht ist.
… Wir „sind“ keine Christen und das Christentum ist nicht „unseres“.
… Wir werden es vielmehr, … wenn, weil und wo Gott es will. ———
Für eine Welt, in der alles sich um die Selbstverwirklichung und das Selbstbewusstsein, um Selbstwert und Selbständigkeit, um Selbstbestimmung und - mit Verlaub - um alle Formen der Selbstbefriedigung und Selbstvergötzung und Selbsterlösung dreht, ist das eine ziemlich befremdliche Grundbotschaft.
… So befremdlich, dass wir vielleicht doch – jetzt, da das Christentum längst nicht mehr dominiert und auch keine Selbstverständlichkeit mehr ist und seinen Sinn und Nutzen eigentlich also von vorne beweisen sollte – … so dass wir uns vielleicht also doch fragen müssten und auch fragen dürfen, ob dieses Christentum nicht auch ebenso gut an der makedonischen Küste hätte hängen bleiben oder nach einem kurzen Aufflackern in Philippi ruhig wieder hätte verwehen und zurück in den asiatischen Raum fließen können, in dem die alten Weisheiten und Wahrheiten und Wirklichkeiten manchmal zäh und meistens unbeklagt versickern, ohne uns Menschen des Westens, der Neuzeit, der kurzen, eigenmächtigen Spanne des Hier-und-Jetzt-Lebens zu beeinträchtigen.
Was hat das Christentum denn eigentlich hier nach Europa gebracht, wenn es nicht uns verherrlicht, stärkt und bestätigt? …….
Kehren wir zu dem winzigen, zentralen Verslein zurück, das heute im Hintergrund und Zentrum aller Predigtbemühungen steht:
Der HERR tat der Lydia das Herz auf.
In diesem Vers steckt ein Geheimnis, das ärgerlich und zugleich unendlich befreiend ist und uns überdies als Freiheit wie als Ärgernis verpflichtet: In Gottes Wirken durch Sein Wort, findet auch Gottes Wahl statt!
Dass Lydia achthatte auf die Botschaft des Paulus, das geschah nach dem ausdrücklichen Zeugnis der Apostelgeschichte, der Gründungsurkunde aller christlichen Mission, weil Gott es ermöglichte. Weil Er es wollte!
„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt“: So beschreibt Jesus (Joh.15,16) diese Grundtatsache, dass wir uns nichts einbilden und nichts anmaßen und nichts beanspruchen und nichts beherrschen können in Sachen unseres christlichen Glaubens.
Ein offenes Herz und einen hörenden Geist, eine empfängliche Seele und ein treffendes Wort verdankt niemand seiner eigenen Eignung, Neigung oder Leistung. … Wenn und wo es Gott gefällt, geschieht es: Da hören und verstehen, da erwachen und da glühen, da glauben, hoffen und lieben Menschen. Da lässt Lydia sich taufen und entsteht eine Gemeinde in Philippi, da breitet das Evangelium sich aus durch ganz Europa, da entsteht und da besteht die Kirche. … Wenn, wann, wo und wie Gott es wählt!
Das Ärgernis ist uns sofort wieder deutlich: Gottes Wahl erscheint uns unerklärlich und ungerecht. Der Gedanke einer solchen Gnaden-Wahl triggert immer wieder unser Misstrauen, unseren gekränkten Stolz und unser kindlich trotzig-neugieriges Beharren darauf, dass nichts sein darf, was wir nicht unmittelbar nachvollziehen und nur dann gutheißen können.
Im gleichen Aufwallen aller unserer Widerstände gegen solche Entmündigung und Unfreiheit bricht aber auch das Bewusstsein durch, wie es den Druck und die Verbissenheit aus aller Mission und auch aus allem eigenen Christsein und Christsein-Mögen, Christsein-Müssen nimmt, dass es nicht an unserem Wollen und Laufen liegt (vgl. Rö.9, 16), sondern an Gottes erbarmendem Ratschluss, wenn eine Lydia oder Du oder die da oder sogar ich an Ihn glauben darf und kann. ——
Natürlich werden wir den Widerspruch zwischen dem echten Anstoß und der echten Erleichterung, dass weder Paulus noch Lydia, sondern allein Gott den Anfang des Glaubens in Europa und sein Ziel bestimmt, heute nicht auflösen.
Die doppelte Wahrheit, dass die Wahl und Gnade Gottes uns zugleich empört - weil wir alles nicht alleine machen sollen - und erlöst - weil wir alles nicht alleine machen müssen -, bedeutet für uns heute, an einem Tag, an dem auch wir wählen dürfen, allerdings schlicht dreierlei:
Die einfache und doch auch politisch so fatal ins Giftige verkehrte und verdrängte Erinnerung daran, dass eine Wahl als Entscheidung „für“ Jemanden oder Etwas und nicht als „Nein“-Stimme fällt.
Zweitens bedeutet die Begegnung mit der Wahrheit, dass Gott uns wählt und nicht wir selbst, dass alle, die auch irdisch am Wählen teilnehmen dürfen – zur Wahl sich stellend und berufen zum Wählen – … dass alle also erinnert werden: Gewählt zu sein, bedeutet nicht für sich selbst zu sprechen, zu handeln und zu entscheiden, bedeutet nicht Selbstherrlichkeit oder Selbstverwirklichung, sondern die Verpflichtung dem Willen und Wohl anderer zu dienen.
Drittens aber und zuletzt: Wenn wir hier in der Kirche zusammen sind, in der Gemeinschaft der Heiligen, die der Heilige Geist berufen hat, und wenn uns in Herz und Verstand die von uns nicht zu erzwingende Möglichkeit gegeben ist, an Jesus Christus als den Herrn zu glauben, dann erleben wir eine Wahl … eine Wahl, bei der wir die Erwählten sind. Eine Wahl, die uns vom Druck unbedingten Zweifelns wie unbedingten Glaubenszwangs befreit und die uns nur daran bindet, dass wir weder als Zweifelnde, noch als Gläubige uns selber verherrlichen, sondern Den, Der in Nord und Süd und Ost und West Seinen barmherzigen Ratschluss für die Menschen verfolgt.
Möge Er uns helfen, dass unser Land und Erdteil, vom makedonischen Osten bis zur irischen Atlantikküste eine Welt der Wahl bleibt … der Wahl als Ausdruck echter Freiheit, als Verpflichtung zum Für-Sein, nicht zum Gegen-Sein und als Entlastung vom Alles-Alleine-Sein!
Und möge Gott uns geben, dass wir Menschen Ihm, Der uns erwählt hat, und Seinem Wort und Willen auf allen Kontinenten und in jedem Herzen, das Er berührt und auftut, die Ehre geben wie Lydia und alle, die von Anbeginn der Welt zu Seiner Herrlichkeit berufen und erwählt sind!
Amen.
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