Invokavit, 26.02.2023, Stadtkirche, Hiob 2,10 & Telemanns Kantate: "Seele, lerne dich erkennen", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 26.II.2023
(Hiob 2, 1-13 [2,10!]) / Telemann: „Seele, lerne dich erkennen“ (TWV 1:1258)
Liebe Gemeinde!
„So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“, haben wir gerade in der Arie gehört, … erst wiegend und dann mit einer erstaunlich lebhaften, kunstfertigen Deklamation, friedlich also und sehr freudig. …
Matthäus Arnold Wilckens, der dichtende Jurist, Bücherliebhaber und aufgeklärte Menschenfreund, der die Texte von Telemanns „Harmonischen Gottesdienst“-Kantaten verfasste, muss sich genau wie der Komponist selber sicher zunächst überwunden haben, ehe sie dieses graziöse Willkommenslied schufen, mit dem die kleine erkenntniskritische Kantate beinah überraschend endet. Dass ein gebildeter Literaturförderer aus dem rationalistischen Hamburger Bürgertum die Grenzen des menschlichen Verstandes und Verstehens besingt, ist an sich erst einmal ja nur nüchtern: Trotz der Freude des 18.Jahrhunderts an Aufbruch und Aufstieg der Vernunft, musste ein denkender Mensch ja durchaus erfassen, dass dem Witz und der Weisheit unseres Geistes Grenzen gesetzt bleiben.
Das schwache Vögelein des Rezitativs, das sich schlicht nicht in jede Höhe schwingen kann, ist ein eindringliches Bild für die endliche Reichweite aller Gedankenflüge.
… Egal, wie flügge der mündige Mensch sich auch fühlen mag: Die weiseste Selbsterkenntnis besteht schon immer und immer noch in der Einsicht, dass wir weniger erfassen können, als wir wollen und uns mit mehr Nicht-Wissen bescheiden müssen, als wir je begreifen werden.
Wenn wir uns wirklich zu erkennen lernen, wie es der Titel unserer Kantate und die Losung der Aufklärung im Geist des antiken Delphi von jeder Menschenseele fordern, dann führen alle Wege uns in Wirklichkeit immer wieder zu Sokrates:
Wahre Weisheit ist Nicht-Wissen.
……. Dass aber der ganze Philosophenchor – das Hamburgische Bildungsbürgertum, die delphische Apollo-Gemeinde und die platonische Sokrates-Jüngerschaft in Athen – … dass sie alle, weil der menschliche Geist endlich ist, so derart fröhlich und gelöst singen sollten, was wir eben hörten, das bleibt trotzdem befremdlich! „So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“ ……. diese heitere Begrüßung gilt ja tatsächlich niemand anderem als ausgerechnet dem Tod, … dem befreienden Beender unserer Endlichkeit.
… Und ich kann es nicht mitsingen. …
Christen als Christen sollten es sich überhaupt schwer überlegen, ob sie tatsächlich solch eine Versöhnung mit dem Tod eingehen können: Wie reimt sich das nämlich mit den sechs Wochen, die heute beginnen? Es sind ja nicht Tage der Feier, sondern es ist Passionszeit, die jetzt anfängt, … Zeit, in der die äußerste Bitterkeit von Leid und Sterben uns begegnen wird, und zwar nicht um harmlos auf uns zu wirken, sondern um die Härte zu unterstreichen, die der unsterbliche Gott für unsere Befreiung vom Tod durchstehen musste.
Ich will den Tod also nicht küssen. Ihm nicht danken. Ihn am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen müssen, … weder als Grenze, noch als Entlastung für die Begrenztheit meiner Seele und meines Verstandes …….
Es ist ein solches Elend mit dem Tod!
Für mich allerdings nicht wegen der Endlichkeit, die er - je nach Sichtweise - so dramatisch vollendet oder so glücklich überwindet, sondern weil der Tod seit dem Garten Eden nie alleine war: Tod an sich gibt es nicht. Er ist ja aufgetaucht im Schlepptau oder als der Parasit von anderen Plagen: Der Schuld nämlich und dem unschuldig wirkenden Bösen[i]. Und er kam in ihrem Gefolge auch nicht allein über Adam und Eva, sondern mit seinen Spießgesellen und Handlangern, seinen Kindern und Untergebenen, die die Drecksarbeit machen, die der Tod in seiner Leichenstarre alleine gar nicht hinbekäme: Das Sterben und das Töten haben den Tod von Anfang an begleitet, … bei Kain und Abel schon.
Wer aber so wie der Tod im Dunst- und Dienstkreis der Sünde und des Teufels entsteht und eine ausbeuterische Symbiose mit dem Schmerz und dem Mord eingehen muss, um sich durchzusetzen, den kann und will ich wirklich nicht grüßen, nicht küssen, und nicht kennen.
… Das ist doch klar, oder?
Das können Sie doch auch verstehen, Herr Wilckens und Herr Telemann? Das ist doch ganz menschlich und zivil, Frau Wagenknecht, Frau Käßmann[ii]?
……. Doch da bricht meine ganze nette, müde, realitätsfremde Naivität in sich zusammen.
Wer so privilegiert ist wie ich, dass er den Zeitgenossen der barocken Kirchenmusik einen Vorwurf draus drehen kann, dass sie auf Schritt und Tritt reine Vernunft und nacktes Verrecken miteinander unter den gleichen Hutrand und in’s selbe Herz kriegen mussten, … wer so unbeleckt vom Grauen wie ich die frommen (und freidenkenden) Generationen vor uns tadeln kann, weil sie das Lebensgefühl wachsender Aufklärung mit der ständigen Verfinsterung unaufhaltsam früher Sterblichkeit vereinbaren mussten, … wer so selbstgenügsam wie ein gefütterter Goldfisch durchs dicke Panzerglas seiner kleinen Weltkugel glotzt und denen, die draußen sind, wo das Schönste und das Schrecklichste freilaufen, erklären will, man solle an das Schlimme doch bitteschön! keinen gewöhnungsbereiten Gedanken verschwenden, der ist nicht echt und darum auch nicht ernst zu nehmen.
… Echt ist nämlich eine Welt, in der niemand seine Seele dauerhaft von der schuldverstrickten und schuldbesetzten Grausamkeit fernhalten kann, die im Tod aufbricht.
Dass es eine unvermeidliche Berührung durch die Endlichkeit und dann ein unaufhaltsames Ergriffenwerden vom Sterben für uns alle geben wird, können wir nun wirklich nicht mehr verdrängen: Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, Realitätssinn und natürlicher Instinkt haben uns das immer sagen wollen. Jetzt aber hat es ein anderer besorgt, ein Bastard, der aus der perversen Ménage-à-trois von Teufel, Sünde und Tod hervorgegangen ist: Der Krieg.
Wenn jemand heute noch sagt - so wie ich es eben vom Tod erklärt habe -: „Damit möge man mich bitteschön nicht konfrontieren! Davon will ich nichts wissen! Schon daran zu denken, heißt die Schutzhülle zu durchbrechen und kontaminiert zu werden… Also: Nie wieder Krieg und keine Kompromisse, und Basta! und Ruhe im Karton!“, … wenn also jemand sagt: „Ich gebe keine Hand dem Krieg! Ich halte mich raus! Das ist so ernst, das geht mich nichts an!“, dann ist das nicht echt. Sondern auf die brutalste, zynischste Weise unehrlich - sprich: voller Lügen und ohne Ehre - und finster dumm. ———
„Seele, lerne dich erkennen!“, so forderte uns die heutige Kantate auf.
Das ist aber eben wirklich kein heiteres Mantra aus dem Griechenlandurlaub. Schon der Apollo-Tempel von Delphi, an dessen Tor diese Mahnung, das berühmte »Γνῶθι σεαυτόν« stand, war kein Heiligtum der makellosen Schönheit oder des harmonischen Musenspiels: Der heidnische Gott Apollon trägt den Namen des Zerstörens, und genauso wie die Künste der Poesie und Heilung beherrschte er auch das Vernichten durch Pest und Gemetzel[iii]. Da ist es nur naheliegend, dass er in der Schrift, in der Offenbarung des Johannes (9,11) nicht als der Schönste auf dem Olymp begegnet, sondern unter seinem verfremdeten Namen - „Apollyon“ - für griechische Ohren noch klarer als der „Verderber“: Apollyon nennt der Seher-Apostel dort ganz bewusst den Engel des Abgrunds! …
Das also ist in heidnischer wie in biblischer Perspektive, in ehrlich menschlicher Sicht also die Wahrheit: Schönheit und Schrecken, der göttergleiche Jüngling und der Gebieter der Finsternis, Inspiration und Perversion, Heldenmut und Mörderschuld sind nicht himmelweit entfernt voneinander, sondern zwei Möglichkeiten, ja zwei Wahrheiten der gleichen Gestalt, einer einzigen Kreatur. … Der Mensch ist dieses von Bösem und Gutem gezeichnete, von Liebe wie Hass getriebene, zur Heiligkeit wie zum Verbrechen fähige Wesen. Der Mensch ist das von der Sünde bis zur Seligkeit greifende Geschöpf, das zwischen Opfer und Frevel, Ebenmaß und Exzess alle Widersprüche in seiner Natur vorfindet, wenn … ja, wenn es sich selbst erkennt. ———
Der echte Mensch, der, der einmal im strahlenden Glanz vor uns steht und uns ohne alle schwarze Magie, nur seinem eigenen Wesen gemäß auch wieder als abstoßendes Raubtier begegnen kann, … der echte Mensch, der Täter und unschuldiger Leidtragender im Krieg ist, … der als gejagtes Tier den Tod panisch fürchtet und als demütig geläuterter Geist den Tod fröhlich willkommen heißt, … der Mensch, der Gottes Zorn und Gottes Liebe so bis zum Äußersten erregt und sie beide sich so ungeheuerlich in einem, zugleich herrlichen wie fürchterlichen Geschehen auswirken lässt: dem Christusgeschehen!, … dieser echte Mensch, der nicht eindeutig so und nicht eindeutig so ist, steht heute in seiner Zweipoligkeit vor uns. … am Sonntag Invokavit, an dem Karnevalsfreude und Kreuzesschmerz, Sünde und Erlösung also sich treffen.
In Jesus sehen wir des Menschen äußerstes Todesleiden; bei Telemann hören wir seinen innersten Frieden mit dem Tod.
Wir sehen die Passion schrecklich tief und in zahllosen Männern, Frauen und Kindern sich wiederholen im Krieg unserer Tage, und wir erblicken im gleichen Krieg bei Menschen wie Dir und mir die teuflischste Gewalt.
Wir sehen Unvereinbares in einer Welt. Wir wollen’s nicht an uns heranlassen und können uns wahrhaftig doch auch nicht rauswinden. Wir müssen wahrnehmen, was man nicht wahrhaben will, und müssen uns zu erkennen versuchen, uns Menschen, die doch nur immer rätselhafter werden, je ehrlicher man sie, … je ehrlicher man sich betrachtet.
Das Bild lässt sich also nicht vereinheitlichen: Widersprüchliches bleibt. Zerrissenes und Verkantetes. Weil das Einfache, das Vereinfachte, das, was für uns einfach zu fassen und zu ertragen wäre, nicht das Echte ist.
Dort, wo kein Gegensatz, keine Spannung mehr wäre, dort finge das Märchen an oder der Mythos, in denen die Dinge sauber geschieden werden können und alle Algebra aufgeht, alles Um-die-Ecke-Denken letztlich Klarheit eröffnet.
Doch gerade eine solche mythische, ideale Welt, die sich im Innersten erschließt und uns emotional beruhigt oder rational befriedigt, eröffnet unsere Bibel nicht … und unser Glaube daher ebenso wenig.
Wie zur Probe auf dieses Exempel soll heute eigentlich das mythischstes und zugleich völlig klärungslose Buch der Bibel aufgeschlagen werden: Wir sollten eigentlich hören und predigen aus jenem Buch, in dem nichts real, aber alles echt ist, … jenes Buch, das sich als Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu erkennen gibt – es spielt nicht in der wahren Welt von Israel, sondern im Wunder- und Horrorland Uz (Hiob 1,1) – und das doch mehr von unserer wirklichen Menschen-Tragik beschreibt, als viele Reportagen oder Dokumentationen.
Es ist das Buch ohne Auflösung, trotz seines vermeintlichen „Happy Ends“: Das Buch Hiob.
In der Dichtung vom Schmerzensmann Hiob, der schlimmere und verwirrrendere Gottes- und Leidenserfahrungen machen musste, als alle anderen Sterblichen – schlimmer noch als Jakob, der doch so grimmig mit Gott kämpfte (vgl. 1.Mose32,25ff), … schlimmer noch als Mose, den der HERR, Der Sich ihm am Dornbusch gerade erst offenbart hatte, beinah tückisch überfiel (vgl. 2.Mose 4,24), … schlimmer noch als König Saul, den ein unerklärlich böser Geist vom HERRN plagte (vgl.1.Sam.16,14) und schlimmer auch als Paulus, den der Engel Satans trotz des Apostels Flehen immer wieder mit Fäusten zurichten durfte (vgl.2.Kor.12,7ff) – … in der Dichtung von Hiob, der schlimmer als diese alle die Nachtseiten, die ungeklärten Widersprüche und Ambivalenzen auf Erden und im Himmel erfahren sollte, ohne dass das Märchen ihm ein Simsalabim! der Erkenntnis, eine Epiphanie des Begreifens einräumt, … in der Dichtung von Hiob steht ein Satz, der nicht einfach löst, aber am Echten festhält.
Der für uns alle sinnlos leidende Hiob, dessen Passion nur die unheimliche Seite menschlicher Erfahrungen spiegelt und zu keiner persönlichen Versöhnung führt, der sagt also einen Satz, der Satan, der den Menschen am fernsten steht, und zugleich Hiobs Nächste besiegt und der auch unser sämtliches Bescheid- und Besserwissen über Leben und Tod, Sinn und Unsinn zunichtemacht.
Hiob sagt … oder schreit … oder stöhnt flüsternd (Hiob2,10):
„Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“
Und das ist Glaube, wenn er am echtesten ist.
… Nicht die Erklärung für alles. … Nicht die Systematik, die es uns leicht macht, allem, was wir erleben, erfahren und erleiden, seinen stimmigen Ort im Koordinatensystem unseres Verstandes zuzuweisen.
Sondern umfassender: Es ist Gutes, … unendlich Gutes, das uns begegnet; und es gibt Böses, unerklärlich Böses auch.
Das sehen wir nicht zuletzt in diesem Krieg, in dem man das echte Grauen des Menschen nun nicht mehr ausblenden kann, aber in dem auch die echte Hoffnung auf des Menschen Freiheit sich mit Händen greifen lässt. …
… Gutes ist das und unheimlich Böses.
Beides aber verbindet uns auf eine Weise, die sich nicht beweisen lässt, und in einer Tiefe, die sich nicht ausschöpfen lässt, mit dem Gott, von Dem das Gute kommt und Der auch das Böse, das Leiden, die Passion nicht scheut, sondern wo Er sie uns Menschen zuteilwerden lässt, gerade sie auch mit uns teilt … bis zum Letzten!
An Ihm festzuhalten … in den Grenzen, die unserem Verstehen dabei gesetzt sind, ist Weisheit und Erkenntnis: Jene Erkenntnis und Weisheit, die zuletzt nichts weiß, weil sie nichts wissen kann und auch nicht muss, … weil sie nicht hier und heute, sondern erst dereinst im Kommenden vollendet werden soll.
… Man nennt sie Glauben.
Echten Glauben.
Amen.
[i] Am Sonntag Invokavit steht die alttestamentliche Schriftlesung vom Sündenfalls (1.Mose 3, 1-19) spürbar immer im Raum.
[ii] Mit-Urheberin und eine der Erstunterzeichnerinnen eines - aus meiner Sicht - problematischen Manifests, das dazu aufruft, der Ukraine aktive Hilfe zur Selbstverteidigung im von Russland begonnenen Krieg zu verweigern, das ich an dieser Stelle nicht verlinken mag, weil es überall frei zugänglich ist.
[iii] Zur zwiespältigen und geheimnisvollen Göttergestalt Apollos vgl. immer noch: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, 1.Band, (Darmstadt 19552), bes. S. 318ff. Die Ableitung seines Namens vom Verb απόλλυμι (apollumi =„zerstören“) ist dabei nur eine von zahlreichen möglichen Etymologien.
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