Ewigkeitssonntag, 24.11.2024, Stadtkirche, Psalm 126, Jonas Marquardt

Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 24.XI.2024                                                                                                     

                             Psalm 126

Liebe Gemeinde!

Es gibt drei Wirklichkeiten, die uns erlauben – vielleicht sollten wir sogar sagen: die uns zwingen – tiefste Bewegungen unsres Seelenlebens vorherzusagen.

Drei seelische Fakten (wenn man so will) sind derart stark, dass sie auch das Unterbewusste berechenbar machen: Liebe und Trauer sind zwei dieser ursächlichen Kräfte, deren vorhersehbare Folgen die Psychologie bis in das Reich des Irrationalen ankündigen kann, um sie im Nachvollzug dann auch zu verarbeiten. Beide – das glückliche Lieben und das schmerzerregende, angsterfüllte Trauern – treffen sich im Begehren, im Verlangen, in der Sehnsucht, die stärker wirken können, als der nüchterne Verstand es aushält. Dann überlässt die Seele sie der unbeschränkten, unbezähmbaren Macht des Inneren, die ohne Verstehen und ohne Erklären auskommen muss. … Und aus dem Tageslicht des Begriffenen wandern die Liebe und die Traurigkeit, die mehr sind als wir begreifen können, in das dämmerhafte Land der Träume.

… Dort nämlich sieht man sie: … Die Geliebten, … die Beweinten. Dort ist man ihnen nahe: … Den Angehimmelten, … den Abgeschiedenen. Was das Wünschen und das Vermissen endlos anheizt, das ist im Traum gewährt, ist Gegenwart.

… So kennen’s alle, die verliebt sind. … Und alle Hinterbliebenen auch: Wer das Schönste erlebt, das Schwerste erleidet, dem begegnet es über kurz oder lang in seinen Träumen, … den wunderschönen der Erfüllung, … den namenlos bitteren des spätestes beim Erwachen immer wiederkehrenden Abschieds. ——

Und nun gibt es noch eine dritte Urkonstellation der Seele, die auch träumen macht: Ein drittes Grundmotiv des Menschseins, das genau wie Eros und Thanatos – der Anfangs- und der Endschub des irdischen Lebens – ganz sicher in die Welt führt, in der das mit aller Kraft Gewünschte Gegenwart ist.

Die dritte Kraft ist unser Glaube.

Auch vom Glauben gilt, dass er über das, was wir begreifen und bewältigen können, hinausgeht. Und dass die große Verheißung, auf der er ruht, und die noch größere Hoffnung, die er weckt, zum Träumen sind, … ja, dass sie uns wie das höchste und das endgültigste der Gefühle unwiderstehlich in jenes Reich versetzen, in dem wir finden, was wir suchen.

Diese Tatsache hat Menschen immer wieder dazu verleitet, sich lustig über den Glauben zu machen und sich über ihn erhaben zu dünken: So lustig wie nur ganz traurige und so erhaben wie nur ganz niederträchtige Menschen sein können.

… Denn nur solche würden doch von der Liebe und vom Schmerz sagen, sie seien unter ihrer Würde, weil sie etwas vorgaukeln, das nicht wirklich ist.

Dass innere Nähe und äußere Trennung – Liebe und Tod also – uns beide zutiefst mit etwas verbinden, das nicht greifbar sein muss, um doch wahr zu bleiben, das spricht gewiss nicht gegen ihren Ernst, sondern vielmehr dafür! – Stärker als alles andere sind doch ohne Zweifel die, die nicht vom Vorhandenen begrenzt werden.

Und so ist auch der Glaube: Eine verbindende, Schranken von Raum und Zeit, von Angst und Not überwindende Wirklichkeit, die nicht nur im Rationalen, sondern auch im weitaus größeren Feld dessen, was über Wahrscheinlichkeit und Logik hinausgeht, wirkt und Wahrheit schafft. Auch der auf die Liebe hoffende Glaube öffnet die Tür zu den Visionen und Erfahrungen, die uns zeigen, woran wir hängen, … die uns geben, was wir brauchen, … die uns genießen lassen, was uns überall sonst verwehrt bleibt.

Auch wer glaubt, wird also über kurz oder lang wie alle, die lieben oder weinen, träumen. ———

„Opium“ sagen die einen dazu: „… Halluzination. … Vorspiegelung. … Wahn.“

Doch die Beter unseres heutigen Psalms – die, die in Israel lebten, … die, die in der Verbannung von Babylon schmachteten, … die, die jahrtausendelang in der Diaspora verblühten, … die, die um des Messias willen in den Katakomben Zuflucht suchten, … die, die Glanz und Grauen Europas erlebten, … die, die in KZ und Gulag, in Sklavenhütten und Strafkolonien ihr Elend bauten und bauen, weil man Juden verfolgt und Christen, … die, die von der Hamas geraubt wurden und die, die von den Israelis ausgehungert werden … – alle Beter unseres heutigen Psalmes sagen den Verächtern, den Lästerern, den stolzen, klugen, sicheren Gottlosen ein noch stolzeres, klügeres und sichereres Wort: „Wir  w e r d e n  s e i n  wie die Träumenden!“       

Ich wüsste kein herrlicheres Wort, keine ruhigere, stillere, stolzere Entkräftung der gesamten, trostlosen Religionskritik, mit der sich die sogenannten „Realisten“ im Trüben absichern gegen das Helle. Ich kenne kein bescheideneres, versöhnlicheres, reineres Geständnis, das man den sogenannten „Kritischen“ machen könnte, die das Schlechte, das sie kennen, verteidigen gegen das Bessere, das ihnen fremd ist.

„Ihr lebt im Reich der Wünsche! Nichts als Eure Projektionen habt Ihr! Man macht Euch allen etwas vor!“, sagen sie uns und gehen heim vom Friedhof, und das war das. ——

Und wir, mit dem Psalm auf dem Herzen, … wir, die der Psalm durch die Dunkelheit und die Trauer und den Schmerz der Jahrtausende und jedes Tages begleitet, … wir, die weinend gehen und unsren Samen streuen, … wir, in der Welt, in der die Gefangenen Zions nicht heimkehren nach dem 7.Oktober und in der es so viele gibt, die von anderer Gewalt beherrscht werden oder von der Sinnlosigkeit der Zukunft an die Kette gelegt sind oder deshalb an ihre Sucht nach Rausch und Vergessen gefesselt oder von schädlichen und trügerischen Ersatzstoffen für ein lohendes Leben abhängig sind, … wir, die uns sagen lassen sollen, dass da spinnt, wer diese Welt und ihren Kummer nicht für das letzte Wort und einzig Wahre hält:

Wir sagen mit dem Psalm ganz einfach dazu „Ja!“.

 

„Ja, unsre Wünsche und unsre Ziele und das, was vor uns liegt, sind nicht wie sonst die Dinge dieser Welt. Ja, denn tatsächlich sind sie nicht von dieser Welt, da ja auch wir - wie der Dichter sagt - »von solchem Stoff sind, aus dem Träume sind«[i]. Aus solchem Stoff ist darum auch die Hoffnung, … ein Stoff, aus dem man keine Bilanz und keine Waffen macht. Und darum liegen die Hoffnung und alles, was sie uns verspricht, wie die Saat verborgen im Dreck – und das unter dem täuschenden Eindruck einer verschrumpelten, vertrockneten, ganz und gar vergangenen Leblosigkeit.           

Und Ja!, tatsächlich keimt deshalb in uns etwas, das sich noch nicht sehen lassen kann und dass man noch lange nicht wird zählen können, bis es zu viel zum Zählen sein wird, weil es unendlich ist.

Ja, Ihr habt Recht! In uns lebt verborgen etwas, was niemand zeigen kann. In unserm Glauben, in dem Wort und Brot, die uns speisen, in unseren Gebeten, Liedern, Feiertagen und Gottesdiensten, da wächst heran, was allem widerspricht, was man für abgeschlossen und gesichert hält. Ein Neues, eine Entwicklung, eine Kraft reift unterhalb des Alltags und des Tageslichtes, … unterhalb des grellen Blinkens und der Neonröhren in den Krankenhäusern, … unterhalb der kalten Kerzen in den stillen Leichenhallen, … unterhalb der beklommen wortlosen oder - schlimmer noch! - der geschwätzigen Friedhofskapellen, in denen man kaum mehr singt und betet, … ein Ungeahntes, Unbekanntes, ganz Vertrautes und doch nie zu Begreifendes wächst unter allem aus den erst mit toten Blütenblättern und dann mit schwerer Erde zugeschütteten Gräbern!

Und wenn wir’s auch nicht nennen können und selber kaum ahnen, kaum fassen, kaum glauben können: Ja!, Ihr habt Recht. Wir müssen Euch unheimlich in unserer Unbelehrbarkeit sein. Wir müssen Euch töricht in unserer Zuversicht, albern in unserer ergebnislosen Ausdauer, bemitleidenswert in unserer Naivität erscheinen.

Und Ja!, auch darin habt Ihr schließlich Recht, dass wir Gedanken und Bilder, Versprechen und kühne Vorwegnahmen teilen, die überall als Wunschdenken, als simpel verarbeiteter Kummer, als umgewandelte Ohnmacht, als nicht-ertragene Verzweiflung gelten.

Ja!, Ja!, und nochmals Ja! Wie allen, die lieben und allen, die trauern, geht es uns Christen tatsächlich. Wir träumen. Wir träumen von dem, was das Leben schuldig bleibt, …träumen von dem, was der Tod uns unwiederbringlich zu entreißen schien, … wir träumen von dem, was noch nie war und alle sich wünschten, wenn sie an das Wünschen noch zu glauben wagten.

Und Nein! Nein!, es ist uns nicht peinlich. Wir kommen uns darum nicht unreif oder unmodern vor. Solange Liebe und Sterben nicht aus der Mode kommen oder verboten sind, so lange werden sie und wird auch der Glaube unweigerlich zum Träumen führen!

 

Freilich mit einem Unterschied:

Die Träume der Verliebten sind kein Ziel an sich und keine Erfüllung, sondern Schäume. Aus ihnen kann und soll Fleisch und Irdisches werden. Dann vergeht das Bild und beginnt das Sakrament der Tat und des täglichen Brotes.

Und die Träume, die uns als Hinterbliebenen geschenkt oder zugemutet werden – so entlastend sie in der unerträglichen Einsamkeit auch sein mögen –, … die Träume der Trauer platzen alle doch im erschütternden Eurydike-Moment, wenn der Orpheus in uns, der das geliebte Wesen aus dem Tod herausführen wollte, sich umdreht und wiederum im Abgrund sich verliert, was beinah zu uns hinüber gerettet schien.

Liebe lässt also - wenn sie glückt - die Träume um der Wirklichkeit willen irgendwann hinter sich. Und irgendwann lassen die Träume die Trauer - wenn sie gelingt - in Ruhe zu anders geordneter und getragener Erinnerung gelangen.

Bloß der Glaube träumt nicht aus.

Und schämt sich dessen nicht nur nicht. … Im Gegenteil!

Der Glaube bekennt gegen alle traum- und trostlose Nüchternheit, dass das kein vorübergehender Ersatz ist, wovon er träumt, wenn ihn ein Leben ohne Schmerz und Tod erfüllt.

Der Glaube bekennt ohne rot zu werden, dass das keine kindische Phantasie, sondern wirklich gültige und bleibende Lebenserwartung ist, was ihn im Blick auf alle Zukunft bewegt.

Der Glaube bekennt im klaren Wissen um den Spott, den er erregt, dass er nicht geschäftsmäßig auf den denkbar schlimmsten Fall eingestellt ist, sondern einer immer größeren Leichtigkeit, einer immer ungehinderteren Lebenslust, ja einem vollen, schallenden, tiefen und alles umfassenden Lachen entgegensieht.

Voll Lachens und Rühmens sieht der Glaube seiner Reifung und schließlich seinem Erblühen und Aufgehen im endlosen, seligen, lustigen Schauen entgegen. Nicht abgeklärt, nicht von enttäuschter Erwartung verbittert, nicht entsagungsvoll ohne alle weiteren Ansprüche zufrieden mit dem Wenigen, das bleibt, sondern völlig und gänzlich und heilsam und heilig in die Wirklichkeit des Guten gestellt, in der das Verlorene gefunden, das Zerbrochene heil, das Gequälte entschädigt, das Erschöpfte verjüngt ist, … in die kommende Wirklichkeit eingegliedert, in der das Entstellte wieder schön, das Missachtete geliebt, das von der Schuld Verhunzte durch die Gnade wieder zum Strahlen gebracht wird: Das ist die Aussicht, wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird.

… Nicht nur die in Ägypten oder Babylon Gefangenen oder die nach Gaza verschleppten Geiseln oder die heutigen Kriegsgefangenen oder die Foltergefangenen in den chinesischen, den iranischen und nordkoreanischen Lagern für Dissidenten und Christen, auch nicht nur die noch lebenden Mitgefangenen von Alexej Nawalny im sibirischen Straflager Nr.3 „Polarwolf“ oder die in den italienischen Abschreckungslagern in Albanien Eingepferchten, auch nicht nur die Verschwundenen in allen Diktaturen oder die absichtlich Vergessenen von Guantanamo oder die Unvorstellbares duldenden und ausbrütenden Tausende in den Drogenknasts Südamerikas, … sondern uns alle, die wir in der apokalyptischen Angst und der atheistischen Hoffnungslosigkeit und der albtraumhaften Klimafalle unserer eigenen Gegenwart festsitzen!!!

Der HERR wird die Gefangenen alle erlösen!!!

Jeden einzigen Menschen, der nicht entkommen kann aus der großen Müdigkeit und der stummen Einsamkeit, die der Tod unserer Angehörigen und der Tod, der uns selbst bevorsteht, auslösen können.

Und dann – so sagt es der Glaube mit den einzigartigen Worten unseres herrlichen Psalms – dann werden wir sein wie die Träumenden!

Diese klare, unbeirrte, in ihrer Eigenartigkeit wirklich schon hier zu lautem und jubelndem Lachen reizende Auskunft gibt wahrhaftig nur der Glaube: So sicher, dass wir nicht nur vermutlich nächtlich träumen werden, sondern dass wir bei vollem Bewusstsein wie die Träumenden werden sein und bleiben dürfen, macht keine Gemütsverfassung sonst uns Menschen.

Bei allen anderen seelischen Erlebnissen und Erschütterungen könnte ja auch der tiefe, völlig im Unbewussten verlaufende Schlaf uns überkommen.

Aber dem Glauben steht bevor, dass er hellwach und mit jeder Faser erlebnisfähig sein wird für eine Welt, wie nur die Träumenden sie kennen: Nur dass dort nichts mehr endet! Kein Abschied von Eurydike mehr! Kein grauer Morgen nach einer Nacht der Illusionen! Kein Zerfließen dessen, was schön gewesen wäre, aber doch nicht war … !

Nein! Wir  w e r d e n  s e i n  wie die Träumenden!

Nicht weniger real, sondern wirklicher als alles, was wir bisher kennen.

Nicht unsicher im Ohngefähren, sondern für immer versehen und umgeben mit allem, was sonst als Wunschgebilde galt.

Wir werden das, was man für Utopien hielt, als reine Wahrheit erfahren (vgl. Offenb.21,4): Dass Leid und Geschrei und Schmerz nicht mehr sind. Dass alle Tränen abgewischt wurden. Dass der Bräutigam - Gott selber also - endlich gekommen und nun in unserer Mitte da ist[ii] (vgl. Matth.25,6). Dass das Fest darum unendlich währt. Und jeder, der uns fehlte, jeder, den man vermisste, dabei gegenwärtig sein darf und niemand jemals mehr verschwindet.

Und nur der Tod dann nicht mehr ist.

Sondern das, was der spanische Barock-Dichter bloß als tragikomische Parabel[iii] zu schreiben wagte, tatsächlich stimmt: „La vida es sueño“ – das Leben ist ein Traum. Unendlich. Voller Lachen. Volle Saat der Freude, die zum Leben gereift ist.

Denn das sollten wir nie vergessen: Das letzte Wort des Glaubens, das letzte Wort des Glaubensbekenntnisses ist und bleibt … „Leben“!

„Ewiges Leben“!

Amen.  

 

[i] „We are such stuff as dreams are made on” heißt es in Shakespeares “Tempest” Akt IV, 1.Aufzug.

[ii] Evangelium des Ewigkeitssonntags

[iii] Pedro Calderón de la Barcas (1600-1681) gleichnamiges Schauspiel von 1635 wurde später von ihm selbst zu einem geistlichen Schauspiel umgearbeitet und erfuhr auch in Deutschland eine reiche Wirkungsgeschichte, die sich nicht zuletzt in zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen deutschsprachiger Dichter zeigt.

In Aufnahme des Calderon’schen Motivs verknüpft Johann Gottfried Herder das barocke Vanitas-Empfinden mit der barocken Mystik eines Angelus Silesius auf theologisch souveräne Weise in einem kurzen, vollendeten Gedicht (in: Der ewige Brunnen - Ein Volksbuch deutscher Dichtung, gesammelt und hgg. von Ludwig Reiners, München 1955, S.872):

 

Ein Traum, ein Traum ist unser Leben

Auf Erden hier.

Wie Schatten auf den Wogen schweben

Und schwinden wir,

Und messen unsre trägen Tritte

Nach Raum und Zeit;

Und sind (und wissens nicht) in Mitte

Der Ewigkeit.

 

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