Judika, 17.03.2024, Stadtkirche, 2. Mose 34, 4 - 6 und Markus 10,35 - 45, Dr. Uwe Vetter
Kaiserswerth Stadtkirche
2.Mose 34, 4-6 und Markus 10, 35-45
Passionszeit.
“The Big Five”
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AT-Lesung (Predigttext) Exodus 34: 4-6
Nachdem Mose die beiden Steintafeln mit den zehn Geboten zerbrochen hatte, im Zorn über seine Landsleute, die einen Tanz uns Goldene Kalb aufgeführt hatten, besänftigte der HERR seinen Knecht (Ex34,1). Und Mose hämmerte (noch einmal) zwei steinerne Tafeln zurecht, (so) wie die ersten waren,
und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte,
und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand.
(5) Da kam der HERR hernieder in einer Wolke,
und Mose trat daselbst zu Ihm und rief den Namen des HERRN an.
(6) Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber,
und Mose rief: „HERR (JHWH), HERR (JHWH), Gott (Elohím) – was bist du
barmherzig, und
gönnend, und
zögernd-im-Zorn, und
sehr großzügig, und
treu !“
(1) Judica me, beurteile mich, richte mich, Gott! Das ist der Psalmvers, der unserm Sonntag heute den Namen gibt. Gib mir ein ehrliches Feedback, mein Gott, das mich aufrichtet. Mach richtig, was schiefläuft. Darum geht es in der ganzen Passionszeit: Wir suchen jetzt mit Leidenschaft, nach dem, was Not und Leiden schafft. Und damit das nicht runterzieht, sondern bessern hilft, tun wir Christen das mit Gottes Hilfe.
Unsere Bibelszene heute ist eine große Hilfe. Uns wird erzählt, wie sich die Jünger Jesu in die Haare kriegen über die Frage, wer der Größte ist im Team, und wie unser Herr interveniert, modellhaft. Geben Sie gut Acht.
Markus 10, 35-45
Da machten sich Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, an Jesus heran und sprachen: „Meister, wir wollen, dass du uns eine Bitte erfüllst“. (36) Er sprach zu ihnen: „Was wollt ihr, dass ich euch tue?“ (37) Sie sprachen: „Gib, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken, in deiner Herrlichkeit.“ …
(41) Als die anderen aus dem Zwölferkreis das hörten, wurden sie wütend über Jakobus und Johannes. (42) Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: „Ihr wisst doch, wie die weltlichen Fürsten ihre Völker unterdrücken, wie die Mächtigen ihnen Gewalt antun. (43) So soll es unter euch nicht sein! Sondern: Wer ´groß` sein will unter euch, der sei euer Diener; (44) Und wer unter euch der Erste sein will, der sei der Knecht aller.“
(2) Was haben die Jünger sich aufgeregt! Hinter unserm Rücken bei Jesus um die besten Plätze im Himmel schachern - un-ver-schämt! haben sie geschäumt. – Man kann´s ihnen nicht verdenken: Jakobus und Johannes wirken ein wenig wie deutsche (Klischee)Urlauber, die frühmorgens die Liegen am Hotelstrand mit Handtüchern reservieren und dann erstmal gemütlich frühstücken. Zur Rechten und zur Linken Jesu, das sind die Ehrenplätze, mehr noch, da sitzen die engsten Berater, auf die der Chef hört. Die andren Jünger sind außer sich.
Die Frage ist: Warum eigentlich? Wollten sie etwa selber gerade … und sind einfach zu spät gekommen? Hielten sie die beiden Zebedäussöhne für zweite Wahl, im Unterschied zu sich selbst? - Ich las neulich, dass 80% aller Deutschen unter dem above-average-syndrom litten. Das above-average-syndrom meint das Gefühl, selbst doch etwas besser als der Durchschnitt zu sein. Jürgen Becker, Kabarettist, meint, dies sei das Kennzeichnen des Rheinländers. Sei´s wie es sei, die Frage ´Wer ist der Größte` begleitet uns ständig: Wer ist der Größte, der Erste, der Beste?
° Wer wird befördert (und wer nicht)?
° Wer legt in Umfragen zu?
° Wer hat die meisten ´likes`, die meisten followers im sozialen Netzwerk?
° Wer wird Weltmeister?
° Wer ist die Beste des Abiturjahrgangs und hat bei der Jobsuche die Nase vorn?
° Wer hat das Sagen, wer darf sich was erlauben, wer nimmt sich was heraus, wer weiß sich am besten zu verkaufen, … wer ist der/die Größte? …
(4) Unter den Jüngern Jesu gärte es, schon seit Längerem (Markus9,34). Als Jakobus und Johannes sich an Jesus ranmachen, liegen die Nerven blank. Wer ist der Größte? Entscheide das jetzt!
Interessanterweise wischt Jesus die Frage nicht beiseite. Er macht auch nicht auf egalitär: ´Meine Lieben, alle sind groß, irgendwie. Wir wollen doch niemanden ausgrenzen! Und auch nicht traumatisieren! Therapieplätze sind rar`… nein, das sagt er nicht.
Im Ernst, ich kenne kein Verbot des Herrn, das Wettbewerb verbietet. In der Bibel gibt es sie, die Bewährten (Zaddiqim) und die Vorbilder. Wer jedem und jeder in der Schulklasse eine Ehrenurkunde verleiht, auch den notorischen Turnbeutelvergessern und den wasserscheuen Nichtschwimmern, kann man sich nicht auf Jesus Christus berufen. In der Bibel heißt es: Ehre wem Ehre gebührt (Römer 13,7).
(5) Doch als Jesus interveniert, gibt er der Frage: ´Wer ist der Erste`, eine bedeutsame Wendung: Was heißt eigentlich „groß sein“, „der Größte sein“? Wenn wir uns die Großen der Welt ansehen, dann ist doch klar, was deren Maßstäbe sind: Die Fürsten der Welt halten sich mit Skrupellosigkeit an der Macht, seht doch, wie sie ihre Völker unterdrücken!` sagt Jesus. Was den Mächtigen Macht verleiht, ist die Angst, die sie verbreiten. Was entscheidet darüber, wer der Größte ist?
(6) Die Idee mit der Pistole entschied das Rennen, las ich vor Jahren in der Zeitung[1]. Der Artikel handelte vom Siegeslauf der Assessment-Center. Dreiviertel aller größeren Firmen schalten Assessment-Center ein, um für gehobene Jobs die besten Bewerber aus der Menge herauszufiltern. Wer ist der Beste, die Vielversprechendste, der Größte unter den KandidatInnen? Neben Zeugnissen, Präsentationen und Auswahlgesprächen gehören auch Rollenspiele zur Prüfung. Und dieses Rollenspiel ging so: Eine Gruppe mit sechs KandidatInnen bekommt eine Aufgabe. ´Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Höhle eingeschlossen, Wasser dringt ein, nur einer kann gerettet werden. Klären Sie in 30 Minuten untereinander, wer von Ihnen überleben soll`. Die Gruppe diskutiert ´weiche` Kriterien – also wer hat Familie, oder wer ist die Jüngste und hätte noch die längste Lebenserwartung? Da zieht der spätere Gewinner des Tests eine imaginäre Pistole und erzwingt sich mit vorgehaltener Waffe den Weg zur Rettungskapsel. Im Artikel heißt es: „Solche Tatkraft überzeugte den Arbeitgeber“. Der junge Mann war der Größte und bekam die Stelle.
(7) Das ist nicht fair! werden Branchenkenner sagen. Solche primitiven Tests sind die Ausnahme. Es gibt auch seriöse Verfahren. - Die gibt es wirklich. In vielen Assessments wird mit wissenschaftlicher Sorgfalt und gut durch-dachter Eignungsdiagnostig nach den Größten unter den BewerberInner gesucht. Da wird alles versucht, auch den stilleren Kandidaten die Chance geben, ihre Stärken zu zeigen.
Obwohl kein Job wie der andre ist, obwohl jede Stelle spezifische Anforderung stellt, haben sich dabei doch fünf Persönlichkeitsmerkmale herauskristallisiert, fünf Merkmale, die einer haben soll, wenn er/sie vorn dabei sein will. Die „Big Five“ werden sie genannt, die großen Fünf : Es braucht
emotionale Stabilität (kein Weichei, nicht hysterisch, kann was ab),
Offenheit (sagt was er denkt, man weiß wo man mit ihm dran ist),
Gewissenhaftigkeit (arbeitet, bis ein Job erledigt ist, ist privat flexibel),
soziale Verträglichkeit (ein Team Player, keine Primadonna; achtet auf Körperhygiene), und
„Extraversion“ (kein brummliger Eigenbrödler, geht aus sich heraus, hat etwas Gewinnendes).
Das sind die „Big Five“. Das ist das Holz, aus dem die Größten geschnitzt sind.
(8) An und für sich ist gegen die Big Five nichts einzuwenden. Nützliche Eigenschaften sind es, die helfen, eine Abteilung zu leiten, Personal zu führen, koordiniert zu arbeiten. – Die feine Grenze aber verläuft dort, wo sich Sekundärtugenden an die Stelle von Primärtugenden schieben. Wenn nützlich gleich groß bedeutet. Wenn also das, was Menschen für das Unternehmen verwendungsfähig und im Marktgeschehen profitabel macht, gleichgesetzt wird mit dem, was Größe ausmacht.
(9) Wenn das geschieht, dann setzt das große Artensterben ein. Das Sterben der Originale. Das Sterben der Einzigartigkeit. Und vor allem das Sterben der traditionellen BigFives unserer westlichen Zivilisation. Fragte man die antiken Philosophen: Was macht die Größe eines Menschen aus? dann sagten °die Griechen: >kalós k´agathós<, das Schöne und das Gute erhebt den Menschen. °Immanuel Kant lehrte: Wenn du groß sein willst, dann handle so, dass dein Tun zum Gesetz für alle Menschen werden könnte[2]. Meine Großmutter hatte immer zwei °Goethe-Sprüche parat: >Tue Recht und scheue niemanden; edel sei der Mensch, hilfreich und gut<. Das ist Maßstab für Größe, das sorgt für Persönlichkeitsentwicklung. – Und es gibt längst Assessment-Vertreter, die das selber so sehen! „Im Assessment-Center wird zuwenig auf Werte geachtet,“ meinte einer nachdenklich (Christoph Obermann, SZ). „Wofür steht jemand? Wie reagiert er in korrumpierenden Situationen?“ In unseren Verfahren „werden narzisstische Persönlichkeiten ausgesucht,“ fügt ein andrer (Heinz Schuler, SZ) hinzu, „Menschen mit hohem Selbstvertrauen, die andere für sich einnehmen …und eine hohe Risikobereitschaft haben, die weit über ihre eigenen Fähigkeiten …hinausreicht“. Wenn man das Nützliche unbesehen mit einem Wert gleich setzt, und das immer wieder hört und nachspricht, dann fängt man an, daran zu glauben[3]. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“, beobachtete der römische Philosoph und Staatsmann Marc Aurel. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“.
(10) Wer ist der Größte? – In den Kirchen glauben wir: Der Größte ist keiner von uns. Der Größte ist Gott, der Vater Jesu Christi. Der setzt Maßstäbe. Der definiert Werte. Und weil nur Er Gott ist, dürfen wir andren alle Menschen sein, das entlastet. Liefert Gott aber die Messlatte, dann lohnt es sich, immer mal wieder an die BIG FIVE Gottes zu erinnern. Denn dieser Gott hat Seine eigenen BIG FIVE. Erinnern Sie sich (an die Schriftlesung Ex 34)?
Der HERR ging vor Moses Angesicht vorüber, und Mose rief aus: „HERR (JHWH), HERR (JHWH), Gott (Elohím) – was bist du barmherzig und gönnend und zögernd-im-Zorn, und sehr großzügig und treu!“ Das sind die Persönlichkeitsmerkmale Gottes. Mit diesen BIG FIVE hat der HERR das größte und weiter expandierende Unternehmen gegründet, das Universum. Mit diesen BIG FIVE führt ER den Personalpool der Menschheit. Mit ihnen gibt ER bench marks vor, an denen wir uns aufrichten und messen und auf die wir uns besinnen. Die BIG FIVE Gottes sollte der Mensch im Kopf haben, als Tönung der Gedanken. Denn auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.
(11) Nur der Vollständigkeit halber noch eins: Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Wir sollten die BIG FIVE Gottes nicht gegen die kleinen BigFive ausspielen: unsere guten Gaben, unsern Schneid und Einfallsreichtum, unsern Humor und unsere Selbstironie, unsere Ehrlichkeit und unser tägliches heimliches Heldentum – wenn die sich nicht aufblasen, sondern Gott helfen, die Welt zu einem guten Ort zu machen, dann sind sie aller Diener.
Amen.
Fürbittengebet
Gott des Himmels und der Erde, Erfinder des Lebens, Richte uns aus und richte uns auf, an diesem Sonntag!
Wir bitten Dich für alle, die all die Sorgen der Welt, die deprimierenden Nachrichten für eine Weile vergessen möchten. Lass uns das Geschirr ablegen und den Sattel abwerfen. Lass uns so sein, wie wir auch sind: müde und unüberlegt, heiter und unvorsichtig. HERR, segne uns mit Deinem Geschenk dieses Sonntags.
Wir bitten Dich für alle, „stillen Wasser“, die sich nicht gut vermarkten können, Für alle, die nicht zu den Forschen gehören, die von andren oft einfach eingeplant werden und mit denen ungefragt gerechnet wird, die sich im Schatten wohler fühlen als im Licht – HERR, lass wenigstens Du Dein Angesicht über sie leuchten.
Und wir bitten Dich für alle, die sich präsentieren sollen, die sich bewerben und anbieten und sich abschätzen lassen – HERR, lass sie auf Menschen treffen, die sich selbst nicht für die Größten halten, die Achtung und Vorsicht walten lassen. HERR, färbe ihre Gedanken.
Und wir bitten Dich für alle, die irgendwie „unpassend“ wirken: für die Originale und die Vierschrötigen, für die heimlichen Genies und die gedankenvollen Schweiger, in die man nicht hineinschaut – HERR, schenke uns eine Prise von Deiner Lust an allem, was kreucht und fleucht.
Amén.
[1] Süddeutsche, 3.Februar 2010, „Schwätzer bevorzugt. Viele Firmen wählen Mitarbeiter im Assessment-Center aus – doch das befördert vor allem Selbstdarsteller“. Von Nicola Holzapfel
[2] Frei nach dem traditionellen rabbinischen Lehrsatz Jesu Christi : „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch. Das ist die (Summe der) Thora und der Propheten“ (Bergpredigt MatthEvg 7:12)
[3] Das Buch von Jack Welch, dem legendären C.E.O der Weltfirma General Electric, (Titel „Winning“) ist ein Musterbeispiel dafür, das Marktphilosophie zur Religion werden kann.
Laetare, 10.03.2024 - Einführung der neuen Presbyterinnen und Presbyter, Stadtkirche, Lukas 22, 54 - 62,Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare –10.III.2024
Lukas 22, 54 - 62
Liebe Gemeinde!
… Das tut mir echt leid! Ausgerechnet heute, beim Dank für und beim Eintritt in den Dienst der Presbyterin und des Presbyters … ausgerechnet heute also mit diesem Archetypen, diesem Alpha-Modell aller Presbyter konfrontiert zu werden, ist - vorsichtig formuliert – tatsächlich was für den Sportsgeist. …
Nicht bloß, weil selbst wir Evangelischen Petrus beinah unwillkürlich als Premieren-Papst einsortieren, während er selbst sich in seinem Brief an alle Ältesten, alle Gemeindeleiter wendet und dabei ausdrücklich ihren „Mitpresbyter“ nennt (vgl.1.Petrus 5,1), … nicht bloß wegen dieser Petrus-Kollegialität ist die Last und Kragenweite eines mit dem Ur-Apostel geteilten Amtes ziemlich groß.
Allerdings: Mitpresbyterinnen und -presbyter des Papstes Numero Uno zu sein, heißt inzwischen ja wohl v.a. einen ziemlich heißen Stuhl innezuhaben, an dem viel Dreck klebt und auf den viel aggressiv antireligiöser Schmutz geworfen, ja gekübelt wird. Die in Verschiss geratene christliche Gemeinde in nachchristlicher Zeit zu leiten, ist eher nichts für Feiglinge oder Sonnenbank-Naturen, die es gern warm und ansehnlich mögen. Mitpresbyterinnen und Mitpresbyter in der Gemeinschaft zu sein, die seit zweitausend Jahren den Namen Jesu und das Kreuz Jesu und das Leben Jesu in Ewigkeit hochhalten, mit Herz und Mund und Tat und Leben bezeugen und von ganzer Seele und mit allen Kräften zu Ehren und Verehrung bringen will, … das ist kein Pappenstiel und Kinderspiel. Sondern großer, verantwortungsvoller, befreiender und todüberwindender Ernst.
… „Salute!“ dazu, wie man anerkennend und aufmunternd an dem Ort sagen würde, an dem der Mitpresbyter aller Gemeindeleitungen sein Leben einsetzte und verlor … und durch seinen auferweckten Herrn wiedergewann. „Salute!“ ——
Aber mit den ehrwürdigen Fußtapfen und der spürbaren Verantwortung ist es ja nicht getan, wenn wir heute mit einer Mischung aus Respekt und Besorgnis auf die gucken, die unter dem neutestamentlichen Titel „Presbyter“ der Gemeinde den Dienst ihrer Zeit, ihrer Weisheit, ihrer Fürsorge, ihrer Gaben, ihres Glaubens, ihrer Inspiration zur Verfügung stellen.
Das, was einem wirklich Muffensausen machen kann, ist nicht die hierarchische Stellung des Fischers aus Kapernaum, der alle gleich zu Verabschiedenden und Einzuführenden - kumpelhaft wie er war - „Mitpresbyter“ heißt. Gegen Vorrang und Würde irgendwelcher Autoritäten sind evangelische Christen (inzwischen) weitgehend gleichgültig, … und rheinische nun gar sind dagegen beinah immun: Ein gutes Dutzend Leute im Rat und geschäftsführende Komitees halten sie für das Organigramm des Karneval.
Aber was niemanden kalt lassen kann, ist nicht das Privileg des Petrus, sondern seine Pleite.
Petrus, der Pionier christlicher Jüngerschaft ist zugleich der Prototyp des Flops in der Nachfolge.
Er schlich hinter seinem Herrn und Freund am Anfang von dessen Ende zwar her und er hätte erleben dürfen, wie dieser sein Heiland, ja, wie Gott selber alles annahm, alles ertrug, alles bis in den Tod aushielt um der Menschheit willen, … aber ehe es so weit war, folgte bei Petrus schon nichts mehr. Sein Puls und seine Panik waren stärker als Treue und Vertrauen: Er kam ins Stottern, der lebenserhaltende Instinkt der Lüge siegte über die Wahrheit und er versagte. … Sprach und versagte!
Und das ist der Gipfel seines Elends! Nicht mal schweigend, sondern redend – in galiläischer Mundart, in Jesu Dialekt also, dem Herrn im Tonfall zum Verwechseln ähnlich! – hat Petrus die Sache Jesu torpediert.
„Si tacuisses“, sagt bei so was der Lateiner: Wenn Du immerhin die Schnauze gehalten hättest, wäre Deine Bindung an Deinen Berufer und Erlöser vielleicht ge-rade noch so gerade geblieben ……. trotz Deiner vollen Hosen! Aber weil Du selbst im Scheitern labern musstest, ging und wurde alles schief, Du Großmaul des Kleinglaubens.
Weil Du die Luft nicht ein Mal anhalten konntest, sondern Dein eigenes vermeintliches Nicht-Sein rausposaunen musstest, wirst Du als Verleugner Deiner Wahrheit und darin als der Verleugner des Weges und der Wahrheit und des Lebens für alle (vgl.Joh.14,6!) während der gesamten Geschichte der Kirche in Erinnerung bleiben.
Petrus, vorlaut, forsch und vordergründig bis zum Schwachsinn kann die Zunge nicht im Zaum halten.
Statt eine anklagende Anfrage einfach stehen zu lassen – eine Anfrage, auf die wir noch zu sprechen kommen müssen, weil sie auch uns fordert –, hat er den theologisch nihilistischsten Satz gesagt (wenn Nihilismus denn steigerungsfähig sein sollte), den es geben kann. Bedenken wir: Gott heißt „ICH BIN“ (2.Mose3, 14); und Petrus kontert, als er nach Gott und ihm gefragt wird, wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin’s nicht!“ ——
… Nein, Du bist nichts, Petrus! … Nichts bist Du ohne Gott! ———
Das aber, was uns hier begegnet im fernen Flackerlicht des Bühnenrands der Nacht des Leidens Jesu, … das ist nun nicht nur das Drama oder die Tragik derer, die Petrus später als seine Mitpresbyter bezeichnen wird, sondern das ist die Sein-oder-Nicht-Sein-Frage der gesamten Christenheit, … aller, die nach Petrus das Bekenntnis ablegen: „Jesus, Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matth.16,16).
Ist das ein Wort, zu dem wir stehen?
Oder stößt man auch bei uns ins Nichts, stößt man auf unser Nichts-Sein, wenn man uns danach fragt? …….
Luft-Anhalten.
… Lieber Schweigen, als jetzt Unsinn quasseln.
… Möglicherweise ja auch ganz ehrlich schweigen.
Ehe wir ein geheucheltes Bekenntnis nachsprechen, ist das Offen-Gelassene immerhin ein Raum, in den wir hineinwachsen können, … in dem andere sich und ihren fragenden Glauben entfalten könnten, … ein Raum, in dem sich mein und Dein Glauben begegnen können als jene Art von Glauben, die Unglaube ist, dem geholfen werden muss, ……. weil ihm geholfen werden kann (vgl.Mk.9.24!), wenn der glaubensunfähige Glaube sich einzeln oder besser noch gemeinsam an Jesus wendet und an Jesus hält.
Von Petrus’ bitterer Bauchlandung zu lernen, sich zu ihm, unserm Mitpresbyter, unserm Mitchristen in seiner Schande zu stellen, bedeutet, den Wert des Aushaltens und Ausharrens in den Jesus-Verlegenheiten, in der christlichen Überforderung, in den Rätseln des eigenen Glaubens zu erfahren.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden, ist nicht unser Selbsterhaltungstrieb gefragt, der uns zur Lüge reißt.
Wo Jesus fraglich ist und folglich wir es sind, da ist nicht die spontane Antwort die beste: Die dient fast immer entweder unserer Selbstbehauptung, unserer Selbstverteidigung oder unserer Selbstdarstellung … da, wo wir als Follower Jesu auf mehr „Likes“, auf Zuspruch und auf Beifall rechnen können.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden – und wir können in einer so ahnungslosen, Gottes-vergessenen, Religions-müden, Kirchen-skeptischen Zeit nur hoffen und beten, dass wir nach Jesus gefragt werden!!! – , … noch einmal also: Wenn wir nach Jesus gefragt werden, dann soll nicht der Reflex, sondern die Reflektion antworten!
Nicht die instinktive Witterung, was jetzt wohl passt und nützt, soll uns dann leiten, sondern die pietätvolle und empathische Erinnerung an den Ersten in unserer Reihe:
Er hatte sich schon verrannt in seinem kämpferisch-großkotzigen Eifer, mit Jesus - wenn er gleich sterben müsste - ins Gefängnis und in den Tod zu gehen (vgl.Mk.14,31 / Lk.22,33), … und genauso verrannte er sich in seiner kreatürlichen Angst, die einfach nur den eigenen galiläischen Dickschädel aus der sich zusammenziehenden Karfreitags-Schlinge retten wollte.
Wer aber nun wie wir in der Nachfolge dieses Bekenners und dieses Verleugners Petrus steht, der soll von Jesus und zu Jesus nichts sagen, das mit „Ich bin“ anfängt – z.B. „Ich bin mir völlig bombensicher“, denn auch Paulus sagt da, wo wir ihn immer mit „Ich bin gewiss“ zitieren (vgl. Rö.8,38), wörtlich: „Ich wurde überzeugt; ich wurde gewiss gemacht“. Wir sollen die Jesus-Frage also nicht mit markigen „Ich bin“-Sätzen beantworten, und umgekehrt erst Recht natürlich auf keinen Fall mit teigig-wabbeligen „Ich bin’s nicht“-Sätzen, in denen wir uns selber auflösen wie das Häufchen Elend, das ein begeistert streunender und Menschen suchender Fischer war und ein Presbyter und Papst erst noch werden sollte.
Wir Christenmenschen sollen die Frage nach Jesus nicht mit irgendwelchen großspurigen oder kleinlauten Privatsätzen, sondern mit reinen, einfachen Jesus-Sätzen oder mit Sätzen für alle Menschen beantworten!
Das sollte der Maßstab unseres Zeugnisses als Gemeinde und unseres Dienstes in ihr sein: Es geht um Jesus und die Menschen.
Er muss wachsen (Joh.3,30) – so haben’s uns schon die Fliedners mitgegeben – und alle Völker, alle Zeiten, alle Welt soll zu Ihm kommen und in Seinem Namen das Heil finden (vgl. Apg.4,12).
Das ist alles, was zählt.
… Und also sind da wir und unsere Privatmeinung, … wir und unser einzelner Dienst, … wir und unsere Gewohnheit – und das heißt auch: Wir und unsere Gemeindegewohnheit! – nicht das Wesentliche!
Hätte Petrus doch nur einen Satz mit „Du“ gewagt, als ihn die neugierigen, hämischen, bedrohlichen Stimmen nach der Verbindung zwischen Jesus und ihm fragten. Er hätte ja die reine Wahrheit dort im Hof des Hohenpriesters gesagt, wenn er der Magd und dem Gaffer und dem Spitzel, die ihn alle fragten, ob er nicht mit Jesus gewesen sei, geantwortet hätte: „Dreh’ Dich um! Du bist doch auch mit ihm hier!!! … Da steht er doch hinter Dir. Da steht er - weil er hinter Dir steht! - vor dem Richter.“
Kurzum: „Wer Du auch bist, die oder der mich hier fragt: Der, nach dem Du mich fragst, ist auch mit Dir!“
Das wäre eine Antwort auf die Jesus-Frage, die womöglich mehr als jedes eifrige individuelle Bekenntnis auslösen würde, und allemal mehr auch als ein vorsichtiges Schweigen.
Es ist aber auch alles, was wir zur Zeit sagen können und sollen: Dass Jesus bei den Menschen ist, weil Er für sie ist, … weil Sein ganzes Wesen und Sein ganzer Weg und Seine ganze Wirkung dieses Für-Andere-Dasein, dieses Mitmensch-Werden, dieses Mitleid-Haben, dieses Mit-uns-in-Tod-Gehen-damit-wir-nicht-verloren-werden sind.
Jesus ist das große, ursprüngliche, erlösende, ewige „Mit“, das Gott und Mensch verbindet
Jesus ist mit allen, die uns nach Ihm fragen, weil Er selbst die Verbindung zwischen Gott und allen schafft. Er ist in Person die nicht weichende Gnade, wo alle Berge und Hügel stürzen, … Er in Person ist der Bund des Friedens, der nicht hinfallen wird, sondern für immer besteht (vgl.Jes.54,10).
Und deshalb ist er zuletzt auch unsere Hoffnung auf eine Antwort auf die Jesus-Frage in der Ich-Form.
Es ist vermessen, sie für uns selbst heute schon zu beantworten: Ob wir ebenso bei und mit Jesus sind, wie Er mit uns, ob wir Ihm so verbunden bleiben, wie Er uns bis in Seinen Tod … das können wir alle noch nicht sagen und behaupten, sondern nur hoffen und wünschen.
Weil wir aber heute päpstlich-presbyterial begonnen haben, schließen wir vielleicht auch genauso mit Blick auf ein vermeintliches Spitzenamt, das zwar niemandem von uns heilig, aber hoffentlich doch ernst ist.
Um die zu Lebzeiten von uns selbst nicht zu gebende Ich-Antwort auf die Frage nach unserem Jesus-Verhältnis hat sich eines unserer Staatsoberhäupter – zu einer Zeit, als Bundespräsidenten noch nicht aus der Kirche ausgetreten zu sein pflegten – Gedanken gemacht.
In Wuppertal nannte man ihn den „Bruder Johannes“, weil er als fliegender Buchhändler in einem frommen Barmer Traktat- und Bibelgeschäft anfing. Gestorben ist er, nachdem er das höchste Amt in unserm Staat bekleidete er in Berlin und liegt dort auch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben.
Er wird selbst gewählt und selbst gewusst haben, was auf dem Grabstein steht:
Die Anklage, mit der der erste Presbyter der Kirche nach seinem dummen Reden zum noch dümmeren Schweigen und dann zum Heulen gebracht gebracht wurde.
Diese schwebende Frage des heutigen Tages, die nur beantwortet werden kann, weil wir glauben dürfen, dass Jesus mit uns ist und wir darum auch hoffen sollen, in der Ewigkeit – wenn alle unsere Verantwortung verantwortet, alle unsere Schuld entschuldet, all unser Nichts durch Ihn zu etwas gebracht worden sein wird – die Antwort auch über uns selbst zu hören, die Petrus schuldig blieb. … Warst Du?
… Bei Johannes Rau steht – nach dem Tod!, nicht wegen seines eigenen Verdienstes, sondern weil Jesus Sein Heiland und Retter war! – auf dem Grab der Schuldspruch, der uns selig macht: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“.
Möge das von uns allen einst ebenso gesagt werden!
Amen.
Okuli, 03.03.2024, Stadtkirche, 1.Petrus 1, 13 - 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli 3.III.2024
1.Petrus 1, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Sie waren jung. Sie waren lebendig. Sie waren nicht zu bremsen.
Die weißen Bärte und Glatzen, die Folterinstrumente oder Himmelsschlüssel und natürlich auch die Heiligenscheine, die sie später auszeichneten, waren den Aposteln keineswegs von Anfang an auf den Leib geschneidert. … Und wenn sie leben – wir glauben aber, dass sie leben, weil Gott ein Gott der Lebendigen ist (vgl. Lk.20,38) –, dann ist es unsinnig, sie als die Sechzigjährigen oder gar Hundertjährigen in unserem Gedächtnis festzulegen, die Nero im Fall des Petrus kreuzigen ließ oder die - wie Johannes - bis in die Zeit des Kaisers Trajan am Leben blieben.
Die Kirche ist ein Aufbruch der Jugend gewesen: Ein gerade einmal Anfang Dreißigjähriger und seine Gefährten zogen aus der alten Wirklichkeit des Todes aus und in die kommende neue Welt Gottes.
Zwar hatten sie schüchtern und hinterwäldlerisch, mit schlechtem Gewissen und lähmender Überforderung durch das größte Wunder aller Zeiten begonnen: Aber die Energie, die Kraft, die der Geist Gottes ist, hatte sie – die jungen Frauen und Männer, die Karfreitag und Ostern ganz dicht oder aus feigem Abstand miterlebten – über alle Angst, über alle Gewohnheit und Konvention hinausgetragen und machte sie feurig, fessellos und stürmisch frei. Hier war eine Generation, die etwas so völlig Anderes, Unerwartetes, Beispielloses bezeugen und ausbreiten wollte, dass niemand ihnen hätte mitgeben, vormachen oder gar vorschreiben können, wie man als Vorhut der zukünftigen Menschheit leben solle. Eine Menschheit, die nicht von der Sicherheit des Unausweichlichen, nicht von den Grenzen des Gewesenen, nicht von der Erwartung des Fatalen geformt und gewürgt wurde, sondern die durch Vergebung, Befreiung und Hoffnung völlig veränderte Perspektiven hatte:
Sie steckten nicht im Zwang der Sünde, sondern wurden getragen von der Strömung der Versöhnung, die im Blut Jesu die Welt wie einst die Sintflut ausschwemmen und reinigen sollte.
Sie klammerten sich nicht an Legitimierungen ihrer selbst, sondern ließen sich zusammen mit allen anderen überraschen von den Wundern, die an ihnen und durch sie geschahen.
Sie duckten sich nicht vor den ständigen Winken des Todes, sondern machten sich ungeachtet aller natürlichen Furcht los vom Kleinmut der Endlichkeit und lebten in einem Maßstab der Großzügigkeit, der Liebe und des Gemeinsamen, dass man in ihrer Gegenwart die grenzenlose Ewigkeit spüren musste. Sie waren jung, lebendig und nicht zu bremsen.
Sie waren aber auch radikal.
Ihre Entschlossenheit zur Nachfolge, ihre Leidenschaft für Den, Der ein zweites Mal die Sklaven – die Sklaven der Gier, des Bösen und des Todes – aus ihrer Knechtschaft durch den österlichen Exodus zu neuen Ufern und neuen Horizonten und zu einer neuen Ethik und neuen Heiligkeit als das freie Volk Gottes führte, machte sie so ernsthaft und so unbedingt, wie nur junge Leute es sein können.
Sie lebten gegürtet - also auf dem Sprung -, wie Israel die Nacht seines Passa gefeiert hatte (vgl. 2.Mose12,11). Bis unter die Haarspitzen waren sie von nüchtern-alerter Hoffnung elektrisiert; und ihre gemeinsame Haltung - ihr Gehorsam - war die geradezu jugendlich-sture Ablehnung aller alten Konventionen: Übernehmt kein „Schema“ der Bedürfnisse, der Interessen und Begierden der Alten, heißt es im Griechischen dieses Jugendmanifests das wir als 1.Petrusbrief kennen. Und in der lateinischen Übersetzung, die auch in die Antike zurückreicht, heißt es: „Konfiguriert euch nicht den alten Begierden eurer früheren Ignoranz“.
… „Konfiguriert“ euch auf keinen Fall wieder der überholten Ignoranz: So klar ist das neue Programm, das Lebens-Update dieser apostolischen Avantgarde.
Was sie dagegen statt der abgenutzten und nicht mehr funktionalen Codes und Systeme der alten Welt zu ihrem alternativen Lebensentwurf machten, das war die Heiligkeit.
Heiligkeit – wie sie auch schon der Aufbruchsgeneration des Exodus als die kollektive neue Identität Israels, als sein neues Profil und Ziel aufgetragen wurde (vgl. 3.Mose 11,44f und besonders 19,2!) – … Heiligkeit ist die Alternative Gottes zum unheilvollen Schema der Welt.
Heiligkeit ist der kompromisslose Versuch und der hartnäckige Elan, seelisch ganzheitlich, moralisch gesund, in Geist und Gerechtigkeit fruchtbar zu leben, statt halbherzig, krank und steril.
Auch Heiligkeit ist also eine junge Lebensform oder aber eine verjüngende Lebenskur. Heiligkeit setzt den Idealismus und die Entschiedenheit derer voraus, die nicht bis zum Hals in Kompromissen, Verpflichtungen oder Bequemlichkeit stecken.
Heiligkeit setzt Hunger und Mut frei, die sich weder abspeisen noch abschrecken lassen von der öden Erfahrung und der noch öderen Behauptung, dass das nur schwer geht.
Heiligkeit ist die Bereitschaft, mit dem Unmöglichen zu rechnen, das Unerprobte zu riskieren, das Ungemütliche zu unternehmen und das Unbewiesene zu veranschaulichen.
Zu ihrem eigenen Schaden hat die evangelische Kirche vor lauter Entlastung durch die Rechtfertigung – israelitisch gesprochen: vor lauter Entlastung durch den Exodus, das Befreiungsgeschenk Gottes an Seine versklavten Leute – die Folge und Fortsetzung dieses Wunders vergessen[i]: Dass die von alter Knechtschaft, Unterdrückung und Fremdsteuerung Befreiten nun ein neues Leben beginnen und vertiefen, in dem sie unkonventionell und ungezwungen Maßstäbe verfolgen, die anderen viel zu aufwendig und auffällig, viel zu freischwebend und überirdisch vorkommen mögen. …….
… Essen, Trinken, Sorgen, Schlafen sind Herausforderung genug. Kommen dann noch Genuss, Erfolg, Absicherung und deren jeweilige Demonstrationen dazu, dann sind Menschen ausgelastet. Wer braucht da noch die herausfordernde Verheißung, heilig sein zu sollen? …
Es ist mit der Heiligkeit wie mit der Freiheit in der vergangenen Woche. Egoismus und Sklaverei sind einfacher. Von beiden wird man beherrscht. Ihr Zwang macht den Willen gefügig. Freiheit und Heiligkeit dagegen stellen unsern Willen andauernd vor die Wahl. … Nicht nur in Sachen demokratischer Gesellschaft, sondern auch im ganz eigenen Leben ist aber das Wählen offenbar lästig. Bequemer ist man Knecht.
Aber als das junge Christentum die frische Botschaft unter die Völker trug, dass man nicht wahllos und schicksalsfürchtig leben müsse, sondern berufen sei, als vom Schicksal befreiter Mensch sein Leben einzig und allein in freier Anlehnung an und bewusster Nachahmung von und reinem Vertrauen auf Gott zu leben ……, da sprangen die Ketten Satans und der ausbeuterischen sozialen Hierarchie der Antike, da öffneten sich die psychischen und die kulturellen Sperren und Schranken und tastend oder überstürzt zogen Männer und Frauen hinaus in die Freiheit der Heiligen! …
Niemand konnte sie mehr vor der Geburt auf einen Status festlegen, niemand ihnen ein Leben lang ihre Rolle und Pflicht vorschreiben, niemand sie bis in den Tod verdinglichen und entwürdigen! Sie wurden in der aufregend neuen, heiligen christlichen Kirche, in dieser Gemeinschaft, der nicht mehr nach Herkunft, Geschlecht, Besitz unterschiedenen Heiligen tatsächlich zu neuen Menschen! … Menschen, deren Wert nicht mehr nach alter Währung und Berechnungsweise, nicht mehr in Silber oder Gold, Können oder Vermögen auszudrücken war, sondern einen ganz anderen Nenner hatte: Jesus Christus, der vor aller Zeit erwählte, dann unter uns erschienene, als Opfer aller barbarischen Brutalität sich freiwillig rückhaltlos einsetzende und damit schließlich dem an ihm unberechtigten Tod endgültig abgewonnene neue Mensch.
Dieser Mensch Jesus Christus, sein lebendiges und lebenspendendes Blut ist die Quelle, aus der die freie, heilige, junge Kirche der apostolischen Zeit ihre ganze Stärke, ihre Leidenschaft, ihre dynamische Daseinsfreude, ihre überschäumende Glaubensenergie und Liebestatkraft schöpfte.
Wer ihm angehört, der ist nicht mehr von der abhängighaltenden alten Welt geprägt, sondern - wie’s im Lutherdeutschen heißt - „vom nichtigen Wandel nach der Väter Weise erlöst“.
Wer mit Jesus Christus lebt, der ist befreit aus „einem Leben ohne Inhalt, wie es euch von den Vätern vorgelebt wurde“, übersetzt die Zürcher Bibel. Der kann also aufatmen und jung, lebendig, ungehindert existieren. Innovativ wie die Pioniergeneration der Apostel und Apostelinnen und die Heiligen aller Zeiten.
Schön. ——
Bloß was heißt das für uns in einer altgewordenen Kirche, … zumal für diejenigen unter uns, die selbst nicht mehr die Jungen sind? Ist die sinnlose Festlegung durch Vergangenes, … ist die Festlegung durch das, was war und was ausgerechnet in der lateinischen Übersetzung dieser Stelle als die „leere Unterhaltung der väterlichen Tradition“ erscheint, … ist alle Bevormundung und Einbindung in Überliefertes, an der wir ja doch mehr oder weniger sämtlich beteiligt sind, dann nicht unsere Verhinderung der christlichen Freiheit, unsere Blockade frischer Aufbrüche zur Heiligkeit?
Dazu gäbe es viel zu sagen.
Nicht bloß wegen der Missbrauchsstudien.
Bei jeder ehemaligen Konfirmandin, jedem ehemaligen Konfirmanden, die aus der Kirche austreten, frage ich mich, welche Schuld ich mit meiner Art des Festhaltens und Festlegens im Sinn der Tradition an ihrem Aufgeben, Loslassen und Weggehen wohl habe? …
Aber ein viel allgemeineres, säkulares wie kirchliches Schuldproblem gegenüber der jungen Generation beschäftigt mich mit dem herrlich freien 1.Petrusbrief, dem Jugendmanifest aus apostolischer Zeit im Ohr noch mehr.
Wir sperren die Generation von morgen zwar nicht mehr so folgenschwer räumlich ein, wie es in den letzten Jahren der Pandemie geschehen ist und wahrhaftig nachwirkt. Wir sperren die Generation von morgen aber noch viel schlimmer in unserm Heute, das ihr Gestern sein wird, ein, … wir verhaften sie in weltlicher Sinnlosigkeit und fesseln sie an gegenwärtige Hoffnungslosigkeit durch ein perfides, giftiges, gleichgültiges geistiges Erbe, mit dem wir sie blockieren.
Man kann das ganz praktisch unter anderem an der unfassbaren Fehlentscheidung zur Cannabislegalisierung sehen. Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass etwas unbedingt strafbar sein sollte, sondern es geht um das, was unbedingten Schutz verdient: Das Innere des Menschen nämlich! Das muss frei sein … und es muss uns heilig sein!
Wir dürfen das Innere nicht als vernachlässigenswerte Nebensache, als unwichtiges Organ der Ablenkung und des Konsums betrachten! Wir dürfen im Inneren des Menschen nicht bloß einen neutralen Hohlraum sehen, der eben auch durch materielle Ersatzbefriedigung oder sonstige Ablenkungsmanöver das abbekommt, was sein Funktionieren und Leisten in einer rein stofflichen Auffassung vom menschlichen Dasein ermöglicht.
Genau diese immanente, rein materialistische Sicht des Menschseins ist der pervers sinnlose, nichtige Wandel nach der Väter Weise, den die Kinder des sog. aufgeklärten Zeitalters, des bloß auf das Greif- und Messbare fixierten Menschenbildes fortsetzen müssen. Doch dieser Nihilismus, den wir auf unsere Kinder ausdehnen, wenn wir sie nur im Schema des Äußerlichen und Immanent-Irdischen festhalten, … dieser Nihilismus ist verbrecherisch, und wir sehen buchstäblich links wie rechts, in der Gewaltvergötzung wie der Ichsucht der großen Mächte, was er anrichtet.
Auf seine Wurzel aber hat mich der Satz einer weltlichen Dichterin aus Nordamerika - Fanny Howe - gestoßen, die ihre sinnlos destruktiven Erfahrungen als Mädchen und Jugendliche in den betäubend-aufrüttelnden Satz kleidet: Die Offenheit des jungen Menschen für Verwandlung wird im Heranwachsen versiegelt, „bis an die Stelle der Seele das Selbst tritt, um nun die Faust des Überlebens zu sein.“[ii]
Das Selbst an Stelle der Seele: Das ist die perfide, nihilistische Festlegung auf ein trostloses Schrumpfbild unserer Berufung und Möglichkeiten, mit dem wir die Generation nach uns einschränken, verarmen lassen und aussichtslos festlegen. Das „Selbst“ des Selbstbewusstseins, der Selbstverteidigung, der Selbstversorgung, der Selbsthilfe. … Das „Selbst“ als Faust und Pfund zur eigenen Selbstdarstellung. … Das „Selbst“ als die einzig wahre Größe, die wir behaupten müssen, weil sie mit uns und wir mit ihr vergehen.
So ist das eitle, leere, sinnlose Bild vom Menschen, der nichts als er selbst sein soll: Ichbezogen und fixiert auf Maximierung seiner kleinen Erfolgserlebnisse in der kurzen Zeit. … Her mit dem Rauschgift, wenn’s so wäre! … ———
Doch ist der Mensch ja so viel mehr: Nicht mit Vergänglichem, sondern mit dem ewig Lebendigen ist der Mensch von diesen erbärmlichen Suchten und Begierden befreit worden.
Und darum schulden wir den Jungen - Euch jungen Menschen - , nicht mehr wie Seelenlose behandelt zu werden. Wir schulden Euch als Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer, als Eltern und Familien, als Gemeinde und Gesellschaft, dass wir Eure Seelen schätzen und schützen, weil Gott sie liebt. Gott will Eure Seelen - die Er liebt - , wenn sie leer sind, füllen; Er will sie heilen, wenn sie krank sind, und weil sie wichtiger sind als alles andere (vgl. Matth.16,26 / Mk. 8,36 / Lk.9,25), wird Er sie retten.
Die Seele des Menschen ist ja die unmittelbare Verbundenheit mit, die Anwesenheit von und die Offenheit für Gott im Menschen (vgl. 1.Mose 2,7). …
Weil wir Seelen sind, darum sind wir Menschen nicht auf uns selbst geworfen, sondern herausgerufen in eine Lebenserfahrung und Lebensverwirklichung, die göttliche Maße hat: In seiner Seele nämlich hat jeder Mensch ja gerade die Freiheit, über sich selbst hinauszuwachsen, hinein in die endlose, abenteuerliche Reise und Reifung, die die Heiligkeit ist. … Die Heiligkeit, die seine eigentliche und für immer bleibende Gottebenbildlichkeit werden wird.
Solange wir allerdings hier in der Fremde leben, sagt der 1.Petrusbrief, werden wir nie so weit kommen, erfolgreich fertig mit uns selbst zu sein.
Und darum müssen wir hier jung wie die Apostel bleiben, … lebendig, beweglich und weder fest- noch aufzuhalten in unserer schönsten Berufung, innerlich und äußerlich von allem gelöst nur Gott entgegenzuwachsen.
Denn es steht geschrieben: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3.Mose19,2 / 1.Petrus 1,16).
Amen.
[i] Die reformierte Tradition der Ethik, die stark die Heiligung als Frucht der Gerechtigkeit im Glaubensgehorsam betonte, hat heute kaum noch Wirkung. Dass Ethik unter dem Gesichtspunkt der Heiligkeit betrachtet und betrieben würde, ist fast nirgends festzustellen. Man sollte also in die Schule der Heiligen gehen, schlicht um ethisch nicht im Jargon und in der Perspektive des Tagesbetriebs hängen zu bleiben, sondern horizonterweitert in der Lösung ethischer Probleme auch Erlösung ethisch buchstabieren zu lernen.
[ii] Fanny Howe, „My Father Was White but not Quite”. In diesem Essay heißt es: “The self is not the soul, and it is the soul (coherence) that lives for nine years on earth in a potential state of liberty and harmony. Its openness to metamorphosis is usually sealed up during those early years until the self replaces the soul as the fist of survival.” Zititert nach: https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/articles/69163/my-father-was-white-but-not-quite
Reminiscere, 25.02.2024, Num.21,4-9, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Durch die Wüste“, so heißt eines der Bücher von Karl May. Der Held ist darin Kara Ben Nemsi, der im Lauf der Erzählung manch knifflige Situation zu bewältigen hat – und das natürlich mit Erfolg erledigt.
„Durch die Wüste“ so lautet der jüdische Titel des vierten Mosebuches: „B‘ Midbar“. In diesem Buch gibt es keine Helden wie Kara Ben Nemsi. Da begegnen wir ganz normalen, schwachen Menschen, die aus ihrem Leben in Ägypten, aus Gefangenschaft und Zwangsarbeit, herausgerissen und herausgeführt nun auf der Flucht durch die Wüste sind. Dabei sind sie in eine Sackgasse geraten. Der direkte Weg in die Freiheit und Sicherheit ist versperrt. Nun sollen sie umkehren und eine neue Route suchen. Welch eine Zumutung!
Ich lese uns die Verse 4 bis 9 aus „B’Midbar“ Kapitel 21.
„Als sie nun vom Berg Hor in Richtung Schilfmeer aufgebrochen waren, um so das Land Edom zu umgehen, wurde das Volk auf dem langen Weg kurzatmig. Die Israeliten beklagten sich bei Gott und bei Mose: „Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier! Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen.“ Da schickte Gott dem Volk Seraf-Schlangen. Viele Israeliten wurden gebissen und starben. Nun kam das Volk zu Mose und bat: „Wir haben Unrecht getan, als wir so mit dem Ewigen und dir geredet haben. Bete zu Gott, dass er die Schlangen von uns fortschafft!“ So betete Mose für das Volk. Und Gott sagte zu Mose: „Fertige eine Schlange aus Kupfer an und setze sie auf eine hohe Stange: Wer gebissen wird und sie ansieht, wird leben.“
Da machte Mose eine Schlange aus Kupfer und setzte sie auf eine hohe Stange. Und es geschah: Wenn eine Schlange jemanden biss und er/sie die kupferne Schlange fest in den Blick nahm, so blieb er/sie am Leben.“
Eine merkwürdige Geschichte. Der Einstieg ist dabei bekannt aus anderen Erzählungen vom Zug des Volkes Israel aus Ägypten in die Freiheit. Es beginnt mit der Wiederkehr des Gleichen: Die Israeliten nörgeln, murren, motzen mal wieder herum. Sie sind „verdrossen“ heißt es in einer Übersetzung, „Die Seele des Volkes ist erschöpft“ in einer anderen. „Der Atem des Volkes reicht nicht aus“, das Volk ist kurzatmig. Und Mose ist es wahrscheinlich auch. Irgendwo im Nirgendwo der Wüste haben die Leute einfach genug. Selbst das Manna, die Speise, die ihnen so oft das Leben gerettet hat, bekommt sein Fett ab: es ekelt sie nur noch.
Nein, dass Israel murrt und meckert, das ist wirklich nichts Neues. Neu ist vielmehr die Reaktion auf Seiten Gottes. Bislang war er immer tröstlich-nachsichtig mit Israel umgegangen, hatte ihrem Mangel an Wasser und Nahrung wiederholt abgeholfen. Aber hier sieht alles nach einer Strafaktion aus: dieses Mal schickt er ihnen Seraf-Schlangen, deren Bisse brennende Schmerzen verursachen und zum Tode führen.
Warum reagiert Gott so heftig? In ihrer Verzweiflung sind die Israeliten dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen. Sie sind dabei, alles zu zerstören, was ihnen bisher das Leben bewahrt hat. In Ägypten wären sie in elender Sklaverei untergegangen: diese Tatsache haben sie völlig verdrängt. Der Weg durch die Wüste ist beschwerlich, keine Frage, und der Speiseplan ist auch alles andere als üppig. Aber was sie haben, das erhält ihnen das Leben, das Brot vom Himmel. Und sie können ihren Weg in (die) Freiheit gehen. Indem sie die tägliche Nahrung als ekligen Fraß abtun und die geschenkte Freiheit verfluchen, sagen sie sich von Gott los. Und Gott – er lässt sie los; er zieht seine beschirmende Hand ab. Giftschlagen gibt es überall in der Wüste; Gott schickt sie nicht extra. Bisher hat er die Schlangen daran gehindert, die Israeliten anzugreifen. Aber jetzt, ohne den Lebensschutz Gottes, sind sie den Schlangen ausgeliefert.
Die Israeliten verachten das Gute, das Gott ihnen gegeben hat und gibt. Sie schauen von Gott weg. Dieses Wegschauen bedeutet Lebensgefahr und bringt ihnen letztlich den Tod.
Wer sein Ziel, den entscheidenden Fixpunkt seines Lebens aus den Augen verliert, begibt sich in Gefahr. Ebenso wie ein Mensch, der im Straßenverkehr seine Augen nicht nach vorne richtet.
Die Israeliten erkennen in der Katastrophe, dass sie ihr Ziel, dass sie den Ankerpunkt ihres Lebens aus den Augen verloren haben. Immerhin: sie zetern nicht weiter und schlagen wild um sich, sondern sie schlagen sich an die eigene Brust.
Nicht Gott oder Mose sind schuld an ihrer Malaise, sondern sie selbst. Sie erkennen ihre Schuld und bekennen sie und bitten Mose um Fürbitte. Auf ihn, so die Hoffnung, wird Gott bestimmt eher hören. Ihre Bitte: Gott möge die Giftschlangen fortschaffen.
Doch Gott erfüllt diesen Wunsch nicht. Schlangen gehören nun einmal in die Wüste. Vielmehr fordert Gott Mose auf, ausgerechnet eine solche Schlange aus Kupfer anzufertigen und an einer hohen Stange zu befestigen. Wer gebissen wird und dann diese Kupferschlange anschaut und auf diesem Weg sein Gesicht dem Himmel zuwendet, der bleibt am Leben.
Eine merkwürdige Geschichte – halb Märchen, halb Fantasy.
Aber eine Geschichte, die auch uns heute noch Wichtiges vermitteln kann.
Es ist eine Wüstengeschichte. Sie erzählt von Menschen, die auf einem beschwerlichen Weg sind, Katastrophen liegen hinter ihnen und irgendwie sehen sie für sich noch kein Licht am Ende des Tunnels. Vielmehr tauchen immer wieder neue Probleme auf.
Bei wohl jedem Menschen gibt es im Leben solche Durststrecken, da kommt man irgendwann an den Punkt, wo es nicht mehr weitergeht, wo man einfach nicht mehr zur Ruhe kommt. Die Anzahl der Menschen in unserer Gesellschaft, die an einem „Burnout“, an Erschöpfung zusammenbrechen, steigt seit Jahren.
Doch unsere Geschichte lässt uns über das individuelle Leben hinaus auf unsere Gesellschaft als ganze blicken. Es lassen sich interessante Parallelen entdecken.
Unter den Rufen „Wir sind das Volk!“ zogen 1989 die Menschen aus der Unterdrückung durch das SED-Regime in die Freiheit, die das Grundgesetz der Bundesrepublik ihnen verhieß. Aber nach dem Durchzug durch das „Rote Meer“, für sie die Überwindung der Sperranlagen und der Mauer, da wartete – nach dem Abklingen der Begeisterung der ersten Wochen – die Wüste auf sie, der Umbau ihres ganzen Lebensgefüges. Und je länger dieser Wüstenweg wurde, desto verklärter die Blicke zurück.
Und gesamtgesellschaftlich erleben wir Vergleichbares nach 2014 – seit Flüchtlinge in großer Zahl nach Europa kamen. Da wurde klar, dass Globalisierung bedeutet, nicht nur überall hin verreisen und Waren aus aller Herren Länder kaufen zu können, sondern eben auch hineinverwickelt zu sein in die Geschehnisse weltweit, in das Leid und die Not der Menschen überall auf der Erde. Deutschland ist keine Insel. Doch viele sind nicht bereit, das einzusehen. Sie fühlen sich in ihren Lebensmöglichkeiten beschnitten und von den Fremden bedroht. Sie rufen zwar wieder „Wir sind das Volk!“, aber ihr Blick geht zurück: sie verklären die alten Verhältnisse von einem ethnisch reinen Deutschland, das es so nie gab. Es gab allerdings Folterknechte, Angst und Hass. Keine Freiheit, sondern brutalen Zwang. Aber klar: als Frau konnte man damals nachts allein auf die Straße gehen. Wer braucht denn da schon Freiheit, wenn es in der Diktatur nun ja: unangenehm war, aber wenigstens schön warm? So zu denken und zu reden ist gottvergessen, ist Sünde; aber wer will das wissen?
Freiheit ist anstrengend und unbequem. Sie konfrontiert uns mit den schwierigen, unangenehmen Seiten unseres Lebens, mit unseren Ängsten und Vorurteilen, die immer wieder unberechenbar auftauchen – wie Schlangen – und ihr Gift versprühen. Die Giftschlangen, mit denen wir es heute in unserer Gesellschaft zu tun haben, die kommen aus uns selbst, aus den Herzen der Menschen. Ihr Gift, der Hass auf die Anderen, schmerzt, es brennt und es tötet – andere Menschen und die eigene Menschlichkeit.
Wenn wir die symbolische Bedeutung der Schlangen in dieser Weise verstehen, dann bekommt auch die Anweisung Gottes zur Aufrichtung der kupfernen Schlange ihren heilsamen Sinn. Die Schlangen verschwinden nicht, können nicht verschwinden, weil sie aus unseren Herzen, aus unseren Gefühlen herausschlüpfen. Es gibt kein angstfreies Leben. „In der Welt habt ihr Angst“, hören wir Jesus im Johannesevangelium sagen. „In der Welt habt ihr Angst, aber ich bin mit dieser Angst fertig geworden, ich habe sie überwunden.“ Und das könnt ihr auch – ruft er uns zu.
Stellt euch euren Ängsten, verdrängt sie nicht, steckt auch nicht euren Kopf in den Sand, sondern schaut genau hin; hebt euren Blick auf. Seht an, was euch Angst machen will. Und schaut darüber hinaus – auf den Himmel, auf Gott, dessen Liebe und Güte euch mit all euren Ängsten und Sorgen umfängt. Nicht die kupferne Schlange hilft, sondern der Blick, den jede und jeder nach oben richtet – die Tatsache, genau anzusehen, was da Angst macht, sich der Realität zu stellen und dahinter den wahrzunehmen, der allein diese Ängste beruhigen kann. Dieser Blick, der bringt Leben, der lässt leben – mich und den anderen.
Die Überwindung eigener Ängste hilft, Mitgefühl und Barmherzigkeit in sich selbst zu empfinden, hilft, in dem anderen, dem Fremden den Mitmenschen zu erkennen, der genauso wie man selbst immer wieder von Ängsten heimgesucht wird. Wir sind alle „Gebissene“, aber Gott will, dass wir leben, dass wir an dem Gift von Hass und Verachtung, Gewalt und Menschenfeindlichkeit nicht zugrunde gehen. Er will, dass das Gift sich zum Heilmittel verwandelt, das uns befähigt, in Gerechtigkeit und Frieden miteinander unter seinem Himmel zu leben.
Dazu will uns diese Erzählung ermutigen:
Dass wir uns selbst annehmen so wie wir sind, gerade in den Wüstenzeiten unseres Lebens, als von Ängsten immer wieder Verletzte;
Dass wir lernen, barmherzig mit uns selbst zu sein, weil Gott barmherzig mit uns ist;
Und dass wir so fähig werden, den Fremden neben uns als Mitmensch zu sehen und ihm die gleiche Barmherzigkeit entgegenbringen wie uns selbst, weil er unser Bruder, unsere Schwester ist, verletzt und von Ängsten heimgesucht wie wir, dem Gottes Barmherzigkeit und Güte genauso gilt wie uns.
Amen.
Reminiszere, 25.02.2024, Stadtkirche, 4.Mose 21, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 25.II.2024
4.Mose 21, 4 - 9
Liebe Gemeinde!
Na, Ihr Schaulustigen? – Sind wir gar nicht!
… Nein; stimmt schon: Es ist ja Affenzeit! … Wenn auch das Nichts-Sprechen bei mir noch nicht richtig klappt: Nichts hören wollen, nichts sehen wollen, geht schon ganz gut.
… Die Nachrichten? – Lieber nicht!
… Die Berichte aus der seit 2 Jahren von einem Krieg gegen die Freiheiten unsrer Gegenwart heimgesuchten Ukraine? – Lieber nicht ansehen!
… Die Wimmel- und Suchbilder aus den Höllenkreisen des Gazastreifens? – Lieber Wegschauen!
… Die vielen Gesichter des menschenverachtenden Hasses, der sich wählen lassen will und wird? – Lieber ausblenden!
… Die trostlosen Statistiken und ratlosen Mienen und kraftlosen Debatten unserer Politik? – Lieber Augen zu und weghören und irgendwelche Ausflüge ins Einflussgebiet der künstlich schönen Doofen als hier im Land der wirklich ganz schön Doofen irgendwem oder -was ins Auge sehen.
Trotz unseres pausenlosen Zuguckens, Gaffens, Bildschirmscrollens, Fotosendens, Selfieschießens: Es lebe die Blendung! Ein Hoch auf die Blindheit!
An der Welt, wie sie ist, haben wir uns sattgesehen. Die überlassen wir den Überwachungskameras und denen ohne Smartphones. Wir kommen bestens klar, ohne die Wirklichkeit zu Gesicht zu kriegen, ihrer Wut und ihren Tränen zuzuhören oder sie anders anzusprechen als mit „Verschwinde doch, du bist nicht schön!“ ——
Deshalb brauchen wir Jahr für Jahr die Passionszeit. Die Zeit, die aus uns Affen Menschen macht.
Sie tut es durch Zumutung. Diese Zeit, in der wir Christenaffen dem Menschen Christus begegnen, ist eine einzige Schule des Sehens. Des Sehens auf das Unansehnliche. Des Sehens auf das Übersehene also. Des Sehens aber ebenso auch auf das Überdeutliche. Des Sehens auf das, was ist. Luther hat in einer seiner frühen Disputationen - 1518 in Heidelberg - den ganzen Unterschied zwischen der Verkündigung, die das Schöne, das Nette, das was glänzend oder appetitlich oder sexy oder unterhaltsam wäre, in den Mittelpunkt stellt, und der anderen Verkündigung, die das Unpopuläre zu sagen wagt, in eine so kantige Formel gebracht, dass man es sich ausnahmsweise auf Latein anhören kann: „Theologus gloriæ dicit malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est.“[i] – auf Deutsch also: „Ein Herrlichkeits-Theologie nennt das Böse gut und das Gute böse. Ein Theologe des Kreuzes sagt das, was Sache ist.“
Der flapsige Ausdruck, der hier im Gelehrten-Latein vor einem halben Jahrtausend schon begegnet, hat nichts von seiner notwendigen Irritation verloren: Sagen, was Sache ist. Nicht schönreden. Nicht erzählen, was gern gehört wird … Luther hätte gesagt: Nicht das formulieren, wonach den Leuten die Ohren jücken. Sondern das, was kratzt. Das, was das Anstößige nicht glatt macht wie die Lüge, sondern anstößig lässt.
Das aber ist nun einmal nichts Anderes als das Kreuz.
Das Kreuz ist die empfindliche Störung unserer hübschen Oberflächlichkeit. Es reißt nicht bloß den Rasen auf, den wir über alles so gern wachsen lassen und den Teppich weg, unter den wir alles kehren, sondern es reißt auch alle möglichen Wunden auf. …
Wer das Kreuz sieht, kann nicht mehr so tun, als sei alles heil.
Wer dem Kreuz nicht ausweicht, kann sich nicht einbilden, Menschsein sei einfach oder die Menschheit habe das Zeug, sich innerlich so zu vervollkommnen, wie Photoshop sie scheinen lässt.
Wer das Kreuz nicht ausblendet, wird nicht getäuscht werden: Es ist eine unglaublich verstörende Sache mit dem Menschen. Er ist Gottes liebstes Kind und zugleich Gottes bitterster Schmerz. Der Mensch ist Gottes Glück und Gottes Fluch. Er kann und soll in Gott die Liebe finden und erkennen und er reagiert auf Gott mit einem solchen Hass, mit einer solchen Abwehr, dass es scheinen muss, als herrsche Feindschaft zwischen ihnen. Gott ist der Ursprung des menschlichen Lebens, und der Mensch …. – kann es sein? – … der Mensch bastelt nicht nur an der Abschaffung seines eignen Ursprungs, sondern es gelingt ihm tatsächlich, das Leben zu morden, … es gelingt ihm die Liebe, der er sich verdankt, zu kannibalisieren, … es gelingt ihm, Gott zu töten.
Das Kreuz zeigt, was Sache ist.
Es ist ein Spiegel, der nicht schmeichelt.
Es ist ein Steckbrief, der uns anklagt.
Es ist ein Röntgenbild, auf dem das Innere erscheint.
Und wir sehen an ihm etwas, für das uns der Name fehlen mag: Die Störung in uns, die sich gegen alles Leichte, alles Gute richtet … gegen die Liebe, gegen das Leben, gegen Gott. Die Zerstörung also. … Diese unsinnige Sonderbarkeit unserer Abwehr des Segens. Unsere Absonderung von allem, was uns helfen, unser Dasein sinnvoller, unser Wesen harmonischer machen könnte. … Absonderung. Abschied. Abschieben des Heiligen und der Heilung. … Absolutes, von allem stützenden und haltenden Zusammenhang abgelöstes Unheil. Mit dem alten Wort für den Graben, der vom glückenden Leben trennt: Sünde. ——
Eijeijei, Ihr lieben schauunlustigen Menschen! Das ist doch alles jetzt genau der Grund, weshalb man nicht in die Kirche kommen muss: Miesmache. Null Unterhaltungswert. Bloß Runterziehen.
… Warum sollte man sich so etwas sagen lassen? Wieso sollte man sich die ohnehin schon gereizte, aufgeheizte, unerquickliche Stimmung noch extra verderben lassen? …….
Ich versuche es einmal ganz vorsichtig. Mit riesigem Abstand. So dass jeder sofort sagen kann: Schwachsinn. Gelaber. Mythos. Nichts, das einen Bezug zu mir hätte.
Na gut! … Ohne Bezug zu Dir. Nur uralte Erfahrung. Aus einer Zeit, in der die Hoffnung auf Freiheit kollektiv mindestens so im Argen lag wie heute, wo sie im Osten bombardiert, unterminiert und exekutiert wird und im Westen einfach in den Wind geschlagen, für Peanuts und Potenzgefühle geopfert wird. Die lästige Freiheit, die eben nicht das Gleiche wie garantierte Bequemlichkeit ist, sondern in langen, großen, ausholenden Bewegungen besteht, durch die Zwang zurückgelassen, Spielraum gewonnen, Zukunft umsichtig angesteuert und das Mitkommen der Langsameren und das Ankommen der Kleinen in der Freiheit durch Rücksicht erreicht werden muss.
Freiheit und Exodus also.
Freiheit und Anstrengung.
Freiheit und Opfer.
… Wie quälend das ist. Wie nervenaufreibend, weil offen. Freiheit lässt sich ja eben nicht abschließend oder abgeschlossen haben, sondern sie bedeutet immer, dass man weitergehen muss, um Neues und um Andere in die Freiheit mithinüber- und hineinzunehmen, die sonst ja Gefangenschaft und Sklaverei bedeuten würde, so bald man sie besäße wie etwas Fertiges und dann davon besessen wäre, dass nun nichts weiter kommen und passieren darf.
Die Kinder Israel – die ersten Wanderer zur Freiheit – hatten offenbar genau die tranige Trägheit, die uns Menschen bis heute auszeichnet: Sie durften aufbrechen, … sie durften das Wunder erleben, dass sie, statt den sicheren Tod im Schilfmeer zu finden, trockenen Fußes in sein Jenseits kamen … und dann – als die Geretteten! – wurden sie bitter enttäuscht: Die Freiheit der Erlösten entpuppte sich nicht als die sorglose Verwöhnung auf einer Kreuzfahrt, sondern als das Vertrauensabenteuer eines Kreuzwegs. Sie sollten nicht bloß die Nutznießer eines Sonderangebots für Komfortable werden, sondern Begleiter und Mitstreiter eines unermüdlich beweglichen und herzbewegenden Gottes, Der Pläne und Ziele in dieser Welt hat.
Und also streikten sie.
Wollten zurück in die Affenzeit, in der sie weder hören, noch sehen, noch Rede und Antwort stehen mussten, sondern bloß gehorchen, bloß Augen zu und bis zum Feierabend irgendwie durchkommen und dann das Maul ausschließlich zum Fressen auftun.
Fraß statt Freiheit. So simpel erträumt der Mensch sich sein Glück.
Ein Glück, an dem er über kurz oder lang ersticken würde.
… Doch Gott macht ihm Beine.
Denn genau das bewirken die Schlangen: Panik! Das Gift, das mit ihrem tückischen Biss droht und vermutlich die Atmung stillstellt und den Körper zu ewiger Faulheit, ja zum Verfaulen bringt, … dieses lähmende Gift zeigt den Israeliten plötzlich unmissverständlich, dass es zu kurz gehofft war, reine Bequemlichkeit und Ruhe und Versorgung und Sattsein wie in Ägypten zu wünschen.
Plötzlich wollen sie leben und nicht mehr so starr, so gelähmt, so tot sein, wie es der Traum vom Voll-Fressen ohne Freiheit ihnen vorgaukelte.
Und darum wird der Träger der Gefahr, in die sie sich wünschten – die Erstarrungs-, die Erstickungsgefahr – für sie zum rettenden Zeichen. Wer die auf den Stab erhöhte Schlange ansieht, entgeht der ansteckenden, lähmenden Drohung des Zurückwollens in die Unfreiheit.
Die Zumutung der Giftschlange, das Hinschauen auf das Trauma, das Einsehen dessen, was Sache ist, eröffnet die Freiheit, … die Freiheit zum Heil. ———
Das können wir wohl einsehen, wir Schauscheuen … auch wenn es uns ja nichts angeht.
Wir können einsehen, dass es nötig und befreiend und heilsam sein kann, auf das zu schauen, was einem tatsächlich droht. … Nur wenn man’s sieht, kann man es meiden, überwinden und frei davon weiterleben. … Nur wenn die Gefahr oder das Verhängnis, der Fehler oder die Schuld, um die es geht, auch tatsächlich vor Augen stehen, kann es weitergehen. Andernfalls bleiben sie übermächtig und endgültig: Die Ohnmacht, die Übermacht, vor der man blinde Angst hat.
Und darum doch noch einmal der zweite Blick aus unseren eigenen Augen auf das, was in diesen Wochen vor uns steht.
Da ist ein schreckliches Stück Weltgeschichte im Leiden eines erniedrigten und misshandelten Menschen auf Golgatha. Schon alleine das wirklich wahrzunehmen, ist entscheidend, damit wir wissen, welches Unheil wir riskieren, wenn wir nicht den Schutz der Schwachen und die Sorge für Leib und Seele anderer Menschen zum Anliegen unseres Herzens machen.
Doch was das Kreuz uns zeigt, ist sogar noch schrecklicher als alles Grauen, das Menschen an Menschen verüben und das Menschen für Menschen verhindern können.
Denn da am Kreuz erhöht – … so, dass die Menschheit es seit nunmehr zweitausend Jahren sieht, wo immer sie auf das Zeichen blickt, das Christen auf ihren Kirchen, in ihrer Kunst, als Traumamahnung oder Hoffnungsbild hochhalten – … da am Kreuz erhöht, sieht die Menschheit seit nunmehr zweitausend Jahren, was ihre Sache war und ihre Sache wäre: Gott los zu werden.
Gott los zu werden, war ihr erster Trieb. Ihn nicht nötig zu haben, sondern selbst zu sein wie Gott (vgl. 1.Mose 3,5). Und das Kreuz erinnert jeden, der es sieht daran: Du könntest ganz ohne Gott sein und bleiben. … Jedes Kreuz erinnert uns daran, dass das möglich war und wäre.
Und jedes Kreuz fragt darum auch: Ist es das, was Du willst? Dass über Dir nur die absolute Leere starrt? Dass Du nur den Tod über und vor Dir hast? Dass Du einsam bist und einsam bleibst: Dein Ursprung abgeschüttelt, verleugnet, ausgeschaltet, … Deine Hoffnung verworfen, kaltgestellt und umgebracht?
Mensch, willst Du mit diesem Pseudo-Sieg leben? Willst Du diese Katastrophe, nach der Du Dich in Deiner Selbstherrlichkeit zu sehnen glaubtest, wirklich wahrmachen und dann wahrhaben und schließlich als letzte Wahrheit stehen lassen müssen?
Oder heilt nicht der Blick auf den Mann am Kreuz, in dem Dir Gott am Kreuz begegnet, Deinen kranken Wahnsinn?
Jagt Dir der Blick auf das, was Du – die Menschheit, die die Gottheit nicht ertragen konnte – da endgültig angerichtet hättest, nicht ganz ungeheure und widersprüchliche Schrecken und Erleichterungen durch alle Glieder und durch Geist und Herz?
Du hättest Gott auf diese Weise ausgeblendet: Ihn nie wieder gesehen oder gehört und Ihm auch nie wieder antworten müssen, wenn Du allein gekonnt hättest. …
… Aber das Kreuz hast Du nun eben nicht alleine auf- und anrichten können!
Es zeigt Dir gar nicht Deinen Sieg!
Sondern es zeigt, dass Der, Der Seine Gottheit nicht ohne Dich - die Menschheit - haben wollte, Dir Seinen Tod als Zeichen Seiner lebendigen und ewigen Liebe eingesetzt hat.
Was da seit zweitausend Jahren über allen Kirchen steht, was in unzähligen Bildern von Golgatha und unzähligen täglichen, stündlichen, jeden Augenblick dieser Welt erfüllenden Gesten der Bekreuzigung und des Kreuzschlagens vergegenwärtigt wird, das ist das Wunder, dass Gott der Menschheit zuvorkam: Er hat nicht ihren Hass, sondern Seine Liebe am Kreuz verewigt.
Nicht der gelungene Mord an Ihm, sondern das Geschenk, das Opfer Seines Lebens wird da sichtbar.
Gott lässt am Kreuz sehen, dass man Ihm nicht nehmen konnte, was Er freiwillig gab: Sich, Seine Gottheit und Menschheit, Seine menschgewordene und dennoch unendliche Bereitschaft zur Gnade für den Glauben.
Am Kreuz ist die Sache die: Was wir geworden wären, wenn wir es allein getan hätten – Affen, Monster, Teufel, die Gott los wurden –, das können wir nicht werden, wenn Gott sich selbst da einsetzt. Wenn Er unsere Gottlosigkeit annimmt, dann hebt Er sie zugleich auf.
Wenn Er den Tod, der Ihn abwürgen sollte, zum Beweis Seiner allem überlegenen Verbundenheit mit uns macht, dann ist diese vermeintliche Erniedrigung der höchste Ausdruck Seines Plans, dass wir Menschen werden sollen, wie Er sie will und liebt: Lebendig und voller Vertrauen auf Ihn.
Nicht umsonst setzt Johannes die Erinnerung an die eherne Schlange vor das schönste und dichteste und höchste und tiefste und größte und unvergesslichste Wort seines Evangeliums, … ja, des ganzen Neuen Testaments (Joh.3,16!).
Wie die von Mose erhöhte Schlange zeigte, dass was Israel sich gewünscht hatte, nicht eintrat, sondern Gott es zu seinem Heil doch in die Freiheit führte, so zeigt auch der Mensch am Kreuz, dass die menschliche Versuchung des Ohne-Gott-Seins zum Gegenteil geführt hat: Dass Gott Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben!
Sehen wir zu, dass wir’s nicht aus den Augen lassen.
Denn es ist wie bei der Schlange, die man nicht sehen mag, aber doch sehen muss: Wer es ansieht, der soll leben!
Amen.
[i] W.A. 1, 354, 19ff
Invocavit, 18.02.2024, Matth.4,3-11, Stadtkirche, Jenny Müller
Versuchung: Ist das die Sucht oder sind wir auf der Suche?
I
„Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Mt 4,3
Bist du also Gottes Kind, so zeig ihn mir, deinen Gott, denn ich bin doch nicht blind.
Bist du ein Christ, so zeig mir wo Er ist,
oder versteckt Er sich, wenn die Welt geht unter in diesem Mist?
Bist du eine, die an Ihn glaubt- dann sag mir, hat deine Glaube dir den Verstand geraubt?
Oder bist du der, der abends betet, Gott dankt für diesen guten Tag, sag - was macht deinen Glauben so stark? - Dass du nicht davon ablässt und dich erfreust an dem was du hast nur selbst erzeugt?
„Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab, denn es steht geschrieben“ Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben und sie werden dich auf den Händen tragen...“ Mt 4,6
II
Ja, Herr Teufel, gern und recht, will ich dir zeigen wir wunderbar mein Gott ist.
Doch braucht Er dafür nicht Steine verwandeln oder mit Wundertaten anbandeln, braucht nicht beweisen Seine Größe, denn ich gib Ihm und mir nicht die Blöße - mich und meinen Glauben beweisen zu müssen, vor dir und der ganzen Welt, nur weil du so kleingläubig glaubst, dass du dich selber hältst.
Ich bin es satt, die ganzen Fragen, die mich in die Irre führen wollen, die mir und dir Herr Teufel beweisen sollen, dass es meinen Gott nicht gibt.
Was für ein Humbug in diesen Tagen, die Leute glauben nicht mehr an Wundertaten, wollen mir zur Vernunft raten -
denn gerade befind ich mich für sie wohl zwischen verrückt sein und verrückt werden - sollte mich und meine Gedanken lieber erden.
Ich bin es leid die ganzen Blicke, die mich verurteilen, nur weil ich mein Herz gen Himmel strecke, muss mich und Dich, mein Gott, verteidigen in dieser Zeit, muss dabei zu sehen wie sie Dich entweihen, bei dem Anblick will ich nur schreien.
Was hat es so weltfern gemacht, Gott, an dich zu glauben? …Dass Leute haben aufgehört zu staunen? ..Dass sie ihren Verstand haben erlauben lassen, Dich aus ihrer Welt zu rauben?
..Oder dass all die schlechten Nachrichten einem selbst deine Hoffnung klauben?
III
„Und so …führt der Teufel uns mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigt uns alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Mt 4,8-9
Ja die Versuchung lauert überall,
wir können bald leben im Weltall,
mit Gentechnik aufhalten unseren Verfall,
wahrscheinlich mit Drohnen fliegen schneller als der Schall,
unsere Vorstellung vom Leben so ….prall.
Und da stellt sich mir die Frage: Kommt des Teufels Versuchung eigentlich von Sucht oder von Suche?
…und ist es wirklich so ratsam bei dieser Frage auf Gott zu fluchen,
oder … doch lieber vielleicht einen Platz in seinem Reich zu buchen?
Versuchung, dass ich die Sucht,
sie haut einen um mit ihrer Wucht.
All die Wünsche und Gedanken,
die unseren Verstand bringen ins Wanken,
all das „hätte-wäre-könnte“, welches nicht aufgibt und dir verspricht, dass es noch besser geht, dass da noch mehr ist in diesem Licht:
All das Verlangen nach der Unmöglichkeit,
nach der eignen Utopie in der Wirklichkeit.
Und so können wir manchmal nicht anderes - müssen uns hingeben,
müssen es fühlen in uns so bebend,
müssen es aufnehmen in unsere innere Leere in der Hoffnung, dass es uns erfüllt.
„… Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.“ Mt 26,41
Doch was ist, wenn es dann einfach wieder verdampft und gleich darauf spüren wir innerlich wieder diesen Kampf, ..kein Gefühl des Friedens in uns, so sanft.
Das Versprechen: Nur versprochenen Silben,
kein festes Wort, das unser Verlangen kann stillen.
Kommt Versuchung also von Sucht …oder doch von Suche?
Denn dann sehen wir all die anderen Götter in dieser Welt, die uns angepriesen werden, in der Hoffnung, dass ein bisschen Glück vom Himmel fällt:
all die anderen Götter, wie die Liebe, die sagt „Am Ende sieg ich“,
oder die Hoffnung die uns spuckt „Alles wird gut“ ins Gesicht,
das Schicksal das stolz darbietet: „Es kommt wie es kommen soll“
und das Karma, das vorfreudig grollt: „Jeder bekommt was er verdient“
Ja, das Feld zu Dir, unser Gott, ist wahrlich vermint.
Ach und dann nicht zu vergessen, all die Helden und Heldinnen die ihren Glauben an sich selber messen: Ihre Schönheit, ihren Reichtum und Besitz.
Ja.. man kann echt reinfallen auf diese ganzen Tricks.
Denn wer muss nicht zugeben, dass es einfach ist,
mal die Welt in der eigenen Hand sich drehen zu lassen -
ohne auf Anderes zu achten, ohne über Andere zu wachen, ohne was für die Gemeinschaft zu machen.
Unsere Welt ist manchmal klein, wir wollen manchmal einfach nur sein.
Der Alltag rauscht an uns vorbei, zieht uns mit sich und uns in ihn hinein:
Dann sind da all die Sachen in unserem Kopf, all die Zwänge und Wünsche und hirnlosen Gespinste .. und all das was uns aus dem Gleichgewicht bringt.
Wie ein Schiff, das zu einer Seite hin langsam sinkt.
Die Freiheit uns dann hinterherwinkt und das Mögliche was unsere Utopie umschlingt.
Puh - das ist ganz schön viel Versuchung.
Doch die Größte, das ist der Nicht-Glaube in diesen Tagen.
Der Zweifel, der stellt deine ganze Weltanschauung in Frage.
Die dunklen Schwaden, die ab und zu aus dem hellen Licht ragen.
Das ist der Moment, wenn du gerne sehen würdest, wie der Teufel auch, dass Gottes Engel dich tragen.
Wenn all die grauen Gedanken an dir nagen und du stolperst und verlierst dein Gleichgewicht.
Da wünschen wir uns Du Gott, tauchst auf und schaust uns ins Angesicht. Da suchen wir Dich in all den Nebelschwaden - da suchen wir Dich, kurz vorm Verzagen.
Das ist ganz schön viel Versuchung. Doch auf was sind wir auf der Suche? Ist das vielleicht nur die Suche nach einer Zukunft?
IV
Sind auf der Suche in all dem Chaos, im Jetzt und Hier, wollen doch eigentlich nur ein Gefühl des WIRS.
Wollen, dass eine Hand uns festhält,
wollen, dass unsere innere Leere uns nicht ständig vor die Füße fällt, wollen das Jemand unser Leben mit Seinem Licht erhellt.
Und so brauchen wir doch eigentlich sonst nichts in dieser Welt,
wollen doch nur dass Sein himmlischer Glanz auf uns fällt.
Das Wissen, dass Er für uns da ist, alle Zeit,
und dass so unsere Seelen nicht mehr nach Unvollkommenheit schreien.
Müssen uns eben nur besinnen.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Mt 4,4
All die Versprechungen nach „Höher-Schneller-Weiter“ aus deiner Hand, mein lieber Teufel,
kannst du behalten - sie zerfallen zu Sand.
Denn wir haben‘s erkannt.
Haben erkannt, was wir brauchen, stehen manchmal etwas auf dem Schlauche.
Denn all die Verheißungen unserer Zeit, sind nichts wert gegen Seine Ewigkeit.
Sind nichts wert, denn wir wollen Gottes Herrlichkeit.
„Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“M t 4,10
Brauchen also nicht mehr suchen, nicht mehr fragen, nicht mehr versuchen ständig was Neues zu wagen - denn da ist diese Ruhe, dieses Licht, Sein Wort, das zu uns spricht -
Und es hat Gewicht: Ist wahr, ist klar, ist voll Liebe für uns.
Und an Ihn zu glauben ist keine große Kunst.
So kann es aufhören das Suchen und all die Versuchung, denn..
Er ist unsere Antwort auf die Zukunft!
Und „Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm.“ Mt 4,11
So bewege Gott, der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Sexagesimae, 04.02.2024, Stadtkirche, Markus 4, 26 - 29, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 4.II.2024
Markus 4,26 - 29
Liebe Gemeinde!
In einem ziemlich durchwachsenen – und schon haben wir landentfremdeten, virtualitätsaffinen Städter ein Bild aus dem Ackerbau! – … in einem ziemlich durchwachsenen Zeitungsartikel also, der sich über die protestantische Neigung zur Hochschätzung eines strengen Arbeitsethos ausließ, wurde Jesus als etwas bezeichnet, das mir nie in den Sinn kam, kaum über die Lippen und nun nicht mehr aus dem Hinterkopf kommt: Jesus war „ein glücklicher Arbeitsloser“ hieß es da, in dem Donnerstagsblatt, das die sog. Intelligenzia gern liest[i].
… Jesus, ein Arbeitsloser. So denken sicher nur Protestanten, die im engen Sinn buchstabengläubig sind. Denn das Neue Testament zeigt Ihn uns tatsächlich nicht als den Zimmermann, der Er war. Es schweigt über die beinah zwanzig Jahre Maloche, in denen Er in Nazareth tagaus, tagein einfach mit Seinen Händen arbeitete und Sich abrackerte.
Wer allerdings ein wenig Lebenserfahrung oder Phantasie hat (was sich gegenseitig bedingt), der ahnt, wie eine anstrengende körperliche Tätigkeit, wie genaue Maßarbeit, wie Auftragserfüllung und Haushalten mit den Schaffenskräften, wie Fertigstellung eines Werks und dann sofort Entwurf und Entstehung eines neuen Gegenstandes den Menschen Jesus, den Arbeiter Jesus geformt haben.
Für manche Christen - unter ihnen besonders der berühmte französische Aristokrat Charles de Foucauld[ii] - war es darum gar nicht das im Neuen Testament beschriebene Wanderprediger- und Wunderheiler-Dasein Jesu, das sie in Seine Nachfolge brachte, sondern das buchstäblich verschwiegene, ordinäre Handwerkerleben. Dieses verborgene Leben in Nazareth, die Jahre der einfachen Arbeit Jesu ließen Charles de Foucauld den Luxus und die militärischen Ehren seiner Herkunft aufgeben und stattdessen ein Leben als Pförtner, Hausmeister, Laufbursche, Straßenfeger, Dachdecker, Gärtner und Kloputzer bei verschiedenen Klöstern in Nazareth und Jerusalem versuchen, um schließlich in Algerien als Einsiedler unter der berberischen Landbevölkerung wie Ihresgleichen zu existieren: In der Nachfolge Jesu, des Alltäglichen, … des Kleingewerbetreibenden, des Tagelöhners.
Wer also ein wenig Lebenserfahrung und Phantasie hat, spürt zwischen und hinter den Zeilen der Bibel nicht nur den fröhlichen Taugenichts, den unbekümmerten Landstreicher Jesus, sondern auch den schuftenden, unauffällig sich abmühenden Menschen. Jesus, das Arbeitstier.
So dass ich durchaus zu der Predigt ausholen könnte, die seit Wochen in mir gärt, weil ich - wie wir alle - an jeder Ecke und jedem Ende, in der Kita, in den Pflegeeinrichtungen, bei Behörden und auf Bauernhöfen, in den Nachrichten und in beinah jedem Gespräch höre und merke: Es gibt zu wenig Arbeitsbereitschaft in unserm Land, … zu wenig Arbeitsbereitschaft und zu wenige Arbeitskräfte. Da ließe sich nicht nur streng arbeitswütig und geschäftstüchtig und gewinnsüchtig, wie der berühmte Soziologe Max Weber das Ethos der Reformatoren zusammenfasste, ansetzen, sondern auch durchaus einfach biblisch – und das heißt immer kritisch gegenüber uns Zeitgenossen.
Biblisch wäre die Kritik folgende: Ihr könnt durchaus ja noch Leistung und Einsatz bringen. Aber im Namen des Verkehrten. Wo Arbeit als Mittel zum persönlichen Erfolg, mit dem Ziel origineller Sinnfindung, als ein Weg der Selbstverwirklichung betrachtet wird, werden Ursache und Wirkung verwechselt. In der biblischen Ethik dient Arbeit keinem dieser Zwecke des Selbst[iii]; biblisch ist Arbeit nie Ego-motiviert, sondern sie ist - in einem antiquiert scheinenden Begriff gefasst - „Dienst“[iv]. Dienst, der geleistet wird für die Gemeinschaft, für Andere, für den Frieden, gegen die Mächte der Sünde und des Todes.
Insofern ist der Vorschlag, eine Dienstpflicht für junge Menschen einzuführen, nicht nur hilfreich und notwendig, sondern auch heilsam: Weil nur so sich zeigen kann, dass etwas, das ich nicht für mich tue, sondern eindeutig für andere, mir selbst dennoch eine Erfahrung des Lohnenden - nicht des Lohns! - und eine Bestätigung der Menschlichkeit - was mehr ist als Selbstbestätigung! - und ein beglückendes Bedanktwerden - das nicht als Selbstbeglückung denkbar ist! - eröffnen kann.
… Dienst ist mehr als Arbeit, weil er den arbeitenden Menschen in einen größeren Zusammenhang als das bloße Eigeninteresse rückt.
Deshalb stellt sich bei allen, die vorhaben, durch ihre Arbeit v.a. sich selbst zu bedienen und zu beweihräuchern, so wenig tiefes Glück und so viel Unbefriedigung ein. Weil sie mit ihrem Anspruch, sich selbst durch ihren Erfolg zu finden und zu bestätigen, an etwas arbeiten, das nicht erarbeitet werden kann: Einbettung in die tiefste menschliche Lebenserfüllung einer neid- und sorglosen Harmonie.
Genau diese Erfüllung aber werden wir nicht herbeischaffen oder uns zusammensparen oder durch Sonderzulagen erwerben können, auch wenn sie in der Dankbarkeit und Sinnerfahrung des menschlichen Für- und Miteinanders, des Einander-Dienens also aufleuchtet.
Und damit sind wir nun an der Stelle, an der unterm Trampeln und Stampfen aller menschlichen Anstrengung trotz allen Einsatzes dennoch kein Gras wächst und kein Segen! … Wieland, der Waffenschmied, Hans Sachs, der singende Schuster, Dagobert, die metallbrütende Ente, … wir ganz unterschiedlich schaffenden, schaffenden Häuslebauer alle miteinander werden dieses Eigentliche tatsächlich nie fabrizieren, produzieren, kultivieren, aktivieren können.
… Unsere ganze Arbeit an dieser allesentscheidenden Stelle ist und bleibt für die Katz!
… Trotz aller Schwielen an Jesu Händen, trotz aller apostolischen Ethik des Dienstes, trotz aller Notwendigkeit, das Arbeiten als sinnvollen Beitrag nicht für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft wiederzugewinnen, sind wir hier auf dem eigentümlichen, dem einzigartigen Acker aus Jesu Gleichnis, auf dem das Wesentliche wächst, während niemand etwas tut.
Diese kurze Erfindung Jesu, des Reich-Gottes-Geschichtenerzählers von der selbstwachsenden Saat bleibt ja auch heute noch so irritierend, wie sie es ursprünglich war. Sie zeugt von einer buchstäblich blühenden Phantasie.
Denn ob er uns Hobbygärtnern aus der Vorstadt oder seinen galiläischen Pappenheimern damals erklärt, dass ein Bauer sät und danach schläft und Däumchen dreht: Alle, die das Regal des Supermarkts nicht für den Ursprung der Nahrungsmittel halten, wissen, dass das nicht zutreffen kann. Selbst Robinson in seinem Südseeklima, das wie ein Gewächshaus Furchtbarkeit unterstützt, musste Gerste und Reis, die er zufällig sprossen fand, mit mühevollem gezieltem Einsatz anbauen und pflegen, um einen wirklichen Ertrag davon zu haben.
Jesu lässige Landwirtschaft des dolce far niente - diese Ernteentwicklung ohne menschlichen Einsatz - ist aber nicht nur agrartechnischer Quatsch, sondern auch theologisch fragwürdig: Das unbekümmerte „Einfach-Kommen-Lassen“, von dem das Gleichnis spricht, steht ja im klaren Widerspruch zu dem Fluch auf dem Acker, den Adam einst verursachte: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang“, hatte Gott da verhängt. „Dornen und Disteln soll er dir tragen dein Leben lang … und im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist“ (1.Mose 3, 17ff).
So hart also stößt sich Jesu Idyll von „der Mensch schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie“ mit der biblischen Urkunde unserer nicht arbeitsfreien, nicht mühelosen Wirklichkeit.
Aber genau an dieser Naht- und Reibungsstelle enthüllt sich schließlich auch der Sinn des unrealistischen kleinen Gleichnisses vom bequemen Bauernleben. Seit den ersten Zügen der Bibel wissen wir ja bereits, dass die Schöpfung zwei Möglichkeiten bot: Das reine Naturwunder jener Lebendigkeit, die jede Gestalt des Lebens beherbergen und bewirten kann, und die aus des Menschen Entfremdung resultierende Eigenleistungswelt, in der der nunmehrige menschliche Fremdkörper nur unter Anstrengungen über die Runden kommt und alle anderen Geschöpfe in seinen Überlebenskampf verstrickt.
Letzteres ist die Welt der Arbeit: Der Mensch im Stress, der die gesamte Kreatur mitstresst.
Ersteres war das Paradies, der Garten des selbstwachsenden Segens.
Und so irritiert, so befremdet wir zunächst auch sind, wenn wir durch Jesu Worte auf eine Wirklichkeit stoßen, die nicht die unsere zu sein scheint, so wenig rätselhaft und geheimnisvoll ist dann doch, wovon er dabei spricht.
Wer – wie es in Jesu Mund immer wieder heißt (vgl. allein Mk.4,9+23; [8,18]) – „Ohren hat, zu hören“, der merkt, was Jesus ja auch ausdrücklich in der Einleitung zur Beschreibung der von uns Menschen unbeschleunigten und ungestörten und unverursachten und unaufhaltsamen Wachstumsentfaltung ausspricht: Nämlich dass der Acker, der ohne Fluch und Plagen einfach nur aus sich Frucht bringt, kein Arbeitsfeld der Menschen darstellt, sondern den Durchbruch des Reiches Gottes! ————
Und jetzt ist es an uns, in die Ruhe einzukehren, die sich da ausbreitet!
… Wie viel sind wir in Habacht-Stellung angesichts der riesengroßen Aufgaben, die auch dem einsatzwilligen, dem dienstbereiten und frei verantwortlichen Teil der Menschheit über den Kopf wachsen, … von denen ganz zu schweigen, die in ihrer materiellen Not oder Abhängigkeit, ihrer Unterdrückung, ihrer Zermürbung überhaupt nicht daran denken können, ob das Feld noch für die nächste Ernte bestellt ist!
… Wie viel Flurschaden ist in der Welt angerichtet; wie viel Boden haben wir schon verloren, verbrannt, überdüngt, ausgelaugt; wie viel Saat auf Zukunft haben wir mit unserm Tun und Lassen zerstört, wieviel veruntreut, wie viel ist uns auf dem Halm verdorben; wie viel Einsatz sind wir schuldig geblieben, obwohl Jesus uns doch zu seufzen lehrt (Matth.9,37f): „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige! Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!“
… Stimmt alles, stimmt alles! …
… Und dennoch das Gleichnis von der Ruhe vor der Ernte.
Dennoch dieses Gleichnis Jesu vom seelenruhigen Reich-Gottes-Abwarten!!
Dieses Gleichnis vom seligen Nichts-Tun-Können und also auch Nichts-Tun-Müssen!!!
„Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen, denn seinen Freunden gibt’s der HERR im Schlaf“: Dieser einzigartige – wenn wir ihn ernstnehmen: tausend Jahre Yoga aufwiegende, allen Leistungsdruck der Erde aushebelnde, alles Burnout vorbeugend löschende, alle schwätzende, panikverbreitende, apokalyptikschürende, aktivismusverströmende Weltrettungsgeschäftigkeit entlarvende – Satz der Entlastung in den Psalmen ist der lange, tiefe, regelmäßige Atem, den Jesus uns zu schöpfen und auch wieder ausströmen zu lassen lehrt.
… Schlafen und Aufstehen, Leben und Sterben, Sterben und Auferstehen: Dieser Rhythmus schlichter, existentieller, vertrauender Hingabe an die Quelle und das Ziel unseres Daseins – Gott, Der uns beatmet und belebt und unsern Atem und unser Leben wieder in Sich hineinnimmt – … dieser Rhythmus voller Ruhe ist die unvergleichliche Gabe des Glaubens: Warten zu dürfen, dass alles reif wird.
Warten zu dürfen, dass in dieser Welt, die wirkt, als sei sie welk zum Tode, das Reich Gottes heranreift. Warten zu dürfen, dass in der Geschichte, die wir als unsere zerrissene Gegenwart erleben, die Zukunft – gute Zukunft, heile Zukunft, ewige Zukunft – wächst …, auch wenn wir nicht wissen wie: So heißt es ja ausdrücklich! … Wir wissen nicht wie! Wir können es nicht wissen. Und nur darum auch nicht selbst in die Hand nehmen, beschleunigen, beschlagnahmen und zerstören.
Warten zu dürfen, dass um uns und in uns das Ziel Gottes sich durchsetzt. Dass Gott zu Seinem immer schon gültigen und dann endgültig unumstößlichen Ziel kommt, dass alle Dinge, alles Menschliche, jede Seele, jedes Wesen sein werden, wie Er sie wollte (vgl. 1.Mose1,31): „Sehr gut!“
Dieses unerklärliche, unbemerkte, unaufhaltsame Wachstum Gottes in mir, in Dir, in den Verhältnissen, in den Formen, in den Kleinigkeiten und den überwältigenden Zusammenhängen der Wirklichkeit, ist unserem Zugriff, unserem Einfluss, unserer Mühe entzogen.
Einzig in der Ruhe, die der Glaube daran schenkt, … einzig im völligen Einswerden mit dem Geheimnis, dass alles trotz allem gut werden wird, liegt der Sinn des unsinnigen Gleichnisses vom Nichtstun. ———
Dass wir faule Leute, „glückliche Arbeitslose“, desinteressierte Schmarotzer dadurch werden sollten, die dank der Ausbeutung der armen 90 % oder eines sonstigen Automatismus unserer Lebensumstände einfach bequem absahnen: Das sei ferne!
Der Acker, auf dem Gott allein Sein Reich hervorbringt, ist zu heilig für solche Sünde.
Die Sichel, die Er schickt – im Neuen Testament begegnet sie nur noch einmal am Ende aller Tage, wenn es in der Offenbarung (14,14) heißt: „Und ich sah … auf der Wolke saß einer gleich einem Menschensohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel …“ – die Sichel also und die Ernte sind zu ernst für solchen Schwachsinn.
Jesus hat mit Seinen eigenen Händen zu viel getan, … sie sind Ihm zu schrecklich verwundet worden, man hat sie zu brutal zugerichtet, um Ihm am Kreuz die Welt aus der Hand zu nehmen, für die Er Schweiß und Blut als Zimmermann und Schöpfer, als Arbeiter und Erlöser vergoss.
Unbeteiligt an der Welt kann uns das Evangelium vom Warten-Dürfen also wahrlich nicht machen.
Aber unverzagt: Gottes Reich wächst. Es reift. Nicht davon wird wieder leer zurückkommen (vgl. die Schriftlesung: Jesaja 55, 8 -12); es wird vollkommen aufgehen.
Und wir dürfen schlafend und wachend, lebend und sterbend uns ganz darauf verlassen.
Wie Charles de Foucauld, der dem Arbeiter von Nazareth sein Leben im tiefsten Vertrauen der Hingabe an Seine Ziele überließ. – So können auch wir beten[v]:
Mein VATER,
ich überlasse mich Dir,
mach mit mir, was Dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst,
ich danke Dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur Dein Wille sich an mir erfüllt
und an allen Deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In Deine Hände lege ich meine Seele;
Ich gebe sie Dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich Dich liebe,
und weil diese Liebe mich treibt,
mich Dir hinzugeben,
mich in Deine Hände zu legen,
ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen;
denn Du bist
mein VATER.
Amen.
[i] https://www.zeit.de/karriere/2016-11/martin-luther-reformation-arbeit-kapitalismus/komplettansicht
[ii] Vgl. dazu Jean-François Six, Charles de Foucauld – Der kleine Bruder Jesu, hgg. v. J.Rintelen, Freiburg/Breisgau 2015 und Gerd A. Treffer, Charles de Foucauld begegnen (Reihe: Zeugen des Glaubens), Augsburg 2000.
[iii] Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat, die Ruhe: Das ist ein Grunddatum des biblischen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Und so ist Arbeit biblisch tatsächlich zunächst die (negative) Konsequenz der menschlichen Wahl, wie Gott sein zu wollen. Früher hätte man formuliert: Arbeit ist Strafe für den Sündenfall. Nicht zufällig ist daher das Ur-Wunder der großen Taten Gottes, das Sein Lob, unseren Glauben und letztlich die Theologie weckt, die Befreiung Israels aus Sklaverei und Fron. Im Neuen Testament ist die Bilanz dann immer noch ungünstig für alle Verklärung eines Arbeitsethos der Selbstzwecklichkeit. Zwar ist der Apostel Paulus aus Bescheidenheit und aus Hochschätzung seiner Autonomie bedacht auf seinen eigenen Broterwerb als Handwerker (vgl. bes. 1.Korinther 9) und kann deshalb apodiktisch die Arbeit als Zuchtmittel der Freiheitsordnung eines evangeliumsgemäßen Lebens vertreten (bes. 2.Thess. 3,6-13), aber die überwältigende Perspektive, in der die Wirklichkeiten und Terminologie des Eifers, der Arbeit, des Knechtseins und Dienstes begegnen, ist eben die Praxis, die bei uns bis heute mit dem griechischen Wort für „Dienst“ verknüpft bleibt: „Diakonie“. Menschlicher Einsatz ist gesegnet, wenn er dem Miteinander und den Bedürfnissen der Gemeinschaft dient.
[iv] Die problematische Konnotation des Dienstbegriffs im folgenden Kontext, der immer wieder auch den NS-Arbeitsdienst vergegenwärtigt, gehört zu den Ambivalenzen, denen unsere Sprache, unsere Sozialformen und Weltgestaltung historisch nicht entgehen kann.
[v] Zitiert nach: https://www.charlesdefoucauld.de/index.php/spiritualitaet/messtexte-und-gebete/36-gebet-der-hingabe
Für die vollständige (stärker mündliche) „Urfassung“ vgl. Charles de Foucauld, Allen ein Bruder – Passwörter einer Spiritualität für unsere Zeit, hgg. von einer Gruppe Kleiner Schwestern und Kleiner Brüder, München-Zürich-Wien, 2020. S. 90.
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